74.
Seit einer halben Stunde waren sie nun unterwegs. Aaron ließ sich nicht bewegen, Merle zu verraten, wohin die Reise ging.
„Jetzt, wo wir bald am Ziel sind, musst du es schon noch ein wenig aushalten. Sonst ist die ganze Überraschung dahin.“
Sie fuhren über Landstraßen, es war bereits dämmrig und rechts und links erstreckten sich dunkle Kiefernwälder. Merles Orientierungssinn war miserabel, sie hätte nicht sagen können, in welche Richtung sie sich bewegten. Die Ortsschilder, die ab und zu im Scheinwerferlicht am Wegesrand aufleuchteten, sagten ihr nichts. Immerhin hatte Aaron ihr verraten, ihr Ziel wäre nur eine gute Stunde entfernt, das grenzte die Möglichkeiten ein. Merle stellte sich ein verschwiegenes kleines Landhotel mit Wellness-Angeboten vor. Genau das würde ihr jetzt gefallen und ihre überreizten Nerven beruhigen. Es gab eine Menge alter Gutshäuser in Brandenburg, die zu wunderschönen Hotels umgestaltet worden waren. Einmal hatte sie Aaron gegenüber erwähnt, wie gut ihr solche verschwiegenen Orte gefielen. Vermutlich wollte er sie jetzt damit überraschen und gab sich deshalb so geheimnisvoll.
Klopfende Geräusche rissen Merle aus ihren Überlegungen. Der Motor stotterte, der Wagen machte ein paar ruckartige Bewegungen, bei denen sie im Sitz nach vorn geschleudert wurde, und kam dann zum Stehen. Aaron hieb wie wild auf das Lenkrad ein. „Verdammte Scheiße, warum muss das jetzt passieren?“, brüllte er. So wütend hatte Merle ihn noch nie erlebt.
„Was ist denn los?“, fragte sie.
„Keine Ahnung, ich werde nachsehen müssen. Fehlt bloß, dass wir jetzt hier festsitzen.“ Er griff hinüber zum Handschuhfach, wühlte kurz darin herum und zog eine Taschenlampe heraus. Dann stieg er aus, öffnete die Motorhaube und machte sich darunter zu schaffen.
Merle schaute sich um. Es war einsam hier, seit längerer Zeit war ihnen kein einziges Fahrzeug begegnet. Was, wenn sie wirklich festsaßen? Würden sie im Auto bleiben müssen, bis Hilfe kam? Die Vorstellung ließ sie frösteln. Nach einer Weile näherten sich von hinten Scheinwerfer, ein Fahrzeug zog an ihnen vorbei. Merle bemerkte in dem Licht, das für kurze Zeit das Innere des Wagens erhellte, etwas am Boden und bückte sich danach. Es handelte sich um ein Foto, es musste aus dem Handschuhfach gefallen sein, als Aaron die Taschenlampe herausgenommen hatte. Sie hob es auf und schaute es an, konnte aber im Dunkeln zu wenig erkennen. Kurz entschlossen schaltete sie die Innenbeleuchtung ein. Das Foto in ihrer Hand begann auf einmal zu zittern. Sie glaubte sich zu irren, einer Täuschung zu unterliegen, doch es war kein Zweifel möglich. Merle kannte dieses sommersprossige Gesicht mit der breiten Nase und den wachen Augen. Das auf dem Foto war niemand anders als Lucas Schmidt.
„Was ist los, was machst du da?“ Merle hatte nicht einmal bemerkt, wie Aaron die Motorhaube geschlossen hatte. Nun stand er in der offenen Fahrertür und schaute sie fragend an. Schweigend hielt Merle ihm das Foto hin, ihr fehlten die Worte.
„Was ist das? Wo hast du das her?“ Die Schärfe in seiner Stimme ließ sie zusammenzucken.
„Das lag auf dem Boden. Es muss vorhin aus dem Handschuhfach gefallen sein. Woher kennst du diesen Jungen?“
Er nahm ihr das Foto ab und schaute es lange an. Dann sah er sie mit einem Lächeln an und seine Antwort klang leicht amüsiert.
„Ich kenne ihn überhaupt nicht. Wie gesagt, habe ich mir den Wagen von einem Kumpel ausgeliehen. Das Foto gehört ihm, wie alles, was im Handschuhfach liegt. Was hast du denn eben gedacht? Dass ich dir ein Kind verheimliche? Merle, ich schwöre dir, ich bin weder verheiratet noch habe ich uneheliche Kinder oder eine heimliche Geliebte. Wie sich es bei meinem Kumpel damit verhält, weiß ich nicht. Ich will es nicht wissen, weil es mich nichts angeht. Vielleicht ist der Junge ja einfach nur sein Neffe.“
Merle hatte das Gefühl, ihm eine Erklärung schuldig zu sein. „Aaron, ich kenne diesen Jungen. Er war an der Schule, an der ich unterrichte.“ Sie ersparte es sich, die ganze Geschichte zu erzählen.
Aaron wirkte nicht sonderlich überrascht. „An jeder Schule gibt es naturgemäß eine Menge Kinder, da ist es nicht verwunderlich, wenn einem das eine oder andere mal außerhalb über den Weg läuft. Und sei es nur auf einem Foto.“ Er öffnete das Handschuhfach und legte das Foto zurück.
„So, nun drück uns mal die Daumen, dass die Karre wieder läuft. Wie wollen heute schließlich noch ankommen.“ Aaron startete den Motor und tatsächlich sprang der Wagen an. Merle atmete auf, das ungute Gefühl, das sich ihrer für kurze Zeit bemächtigt hatte, verflog. Sie war einfach überreizt, die Auszeit würde ihr guttun.