4. Teilbestand, Ausschnitte und Veröffentlichungen
Karton 18, Zeitungsausschnitte
Mappe: 1979—1984
THE VILLAGE VOICE, 27. Januar 1982
CAPILLARIES
Adriana Panico
Aus einer ansonsten gemischten Ausstellung neuer Talente in der Patina Galerie am gestrigen Abend stach eine Künstlerin besonders heraus: Miranda Brand und ihre Fotoserie Capillaries, die das gesamte Hinterzimmer einnahm.
Brands Arbeit dürfte den Nachteulen aus dem Palladium und dem Club 57 bekannt sein, dort hat sie bereits Stücke ihrer Serie Empty Spaces gezeigt. (Damals hieß sie noch Miranda Planchart, ehe sie im vergangenen Herbst mit dem Maler Jake Brand durchbrannte, um zu heiraten.) Empty Spaces war eine vielversprechende Serie, doch die Fotografien, die gestern gezeigt wurden, übertreffen sie bei Weitem.
Capillaries besteht aus einer Reihe von Porträts, die Frauen in alltäglichen Situationen zeigen, allerdings mit einem Dreh: Ihre Gesichter und Körper sind voller Blut. Eine Frau und ein Mann teilen sich in einem nostalgischen Diner einen Milchshake, aber während der Mann sauber und ordentlich aussieht, ist die Frau von Kopf bis Fuß von roter Flüssigkeit überströmt. Ein ähnliches Schicksal hat die Frau getroffen, die im Publikum eines Theaters sitzt, deren schulterfreies Kleid rot befleckt ist, weil ihr Blut von Kinn und Haaren tropft. Brand selbst übernimmt in den meisten Aufnahmen die zentrale Rolle und nutzt so das Genre des Selbstporträts, um mit dem traditionellen Ungleichgewicht zwischen Fotograf und Subjekt zu spielen.
Und obwohl das Schauspiel des Schreckens einen schon vereinnahmt, sind es die Gesichtsausdrücke der Frauen, die Capillaries absolut einzigartig machen. Voller Erschöpfung, verhaltener Langeweile und — insbesondere — Besänftigung. Die Lippen der Frau im Diner krümmen sich in vorgetäuschter Aufmerksamkeit. Während die anderen Theaterbesucher schallend lachen, verzieht die Frau ihre blutverschmierten Wangen zu einer Grimasse des Glücks. Spektakulär und doch unsichtbar, durcheinander und doch kontrolliert, allwissend und doch machtlos: Das ist Brands Idee der gegenwärtigen Frau. Man stelle sich Carrie vor, wenn sonst niemandem bewusst ist, dass etwas nicht in Ordnung ist.
Während der Ausstellung selbst hielt Brand, im siebten Monat schwanger, eine Hand schützend auf dem Bauch, während sie lächelte und mit den Gästen sprach. Das Baby wird im März erwartet, trotzdem rechnet sie nicht damit, dass dies Einfluss auf ihre Produktivität haben werde. Eine Erleichterung für ihren Kunsthändler, Hal Eggers von Patina: Am Ende des Abends hatte er bereits alle zehn Abzüge der Capillaries verkauft.
1. Teilbestand, Schriftverkehr (MB)
Karton 2, Persönlicher Schriftverkehr
Mappe: Toby-Jarrett, Lynn (beinhaltet 12 Fotokopien von MBs Briefen aus LTJs Privatsammlung)
20.02.1982
Dear M,
meine Cousine hat mir die Village Voice von letztem Monat geschickt, darin eine Besprechung deiner Ausstellung. Großartige Besprechung, aber herzlichen Glückwunsch zum Baby!
Ich glaube, ich stehe noch immer unter Schock. Der Geburtstermin ist schon so nah! Muss sagen, ich wünschte, du hättest mir davon erzählt. Dann hätte ich Söckchen gestrickt. Nicht dass ich wüsste, wie man strickt, aber vielleicht kann ich’s ja lernen. Wie lange tragen Babys wohl Söckchen? Himmel, ich hätte nie gedacht, dass ich dich das je fragen würde! Wie unwirklich! Irgendwie rechne ich fast damit, dass du mich anrufst und mir sagst, das war alles nur inszeniert.
Ich hoffe, dir und Jake geht es gut. Mir ist klar, dass du sehr eingespannt bist durch das Eheleben, was immer das heißt. Ich hoffe, du bist nicht mehr sauer auf mich. Ich weiß, dass mein Verhalten völlig daneben war, und ich stimme dir zu, wahrscheinlich würde ich Jake mögen, wenn ich ihn kennen würde. Mir ist nur wichtig, dass er dich glücklich macht.
Lass uns doch bald mal telefonieren. Bevor das Kind kommt? Ich will alles wissen. Außerdem möchte ich dir von dieser coolen Braut erzählen, mit der ich zusammen bin. Und von meinem Abstecher nach Karakas letzten Monat — da musst du mal hin. Ich glaube, ich hab gar keine aktuelle Telefonnummer von dir. Kannst du mir die noch mal schicken? Der alte Anschluss geht nicht mehr.
Du fehlst mir sehr.
Lynn
2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 9, Tagebuch (1982—1993)
Miranda —
ein Buch, in dem du die Meilensteine des Kleinen vermerken kannst!
Nimm dir Zeit, jedes Geschenk zu würdigen, wenn es sich präsentiert.
Alles Liebe
Mom
30. März 1982
Das Baby ist da.
Das ist der erste Meilenstein. Das erste Geschenk, nicht wahr, Mom? Dieser lodernde Schmerz. All die Stunden mit den Wehen, dem Hecheln, dem Vollscheißen von Laken.
Die Wehen kamen so schnell, ich konnte Jake nicht erreichen. Er hatte sich irgendwo in einem Atelier verschanzt, also war es die Hebamme, die meine Hand hielt. Sie erzählte mir von ihren drei Kindern. Dass das erste am Schlimmsten war und die anderen beiden rausgeschossen sind wie Patronen. Sie erzählte mir, dass ich nun zu etwas Größerem gehörte, in einer Reihe mit all jenen Frauen stünde, die ein Kind geboren hatten.
Wir überleben ein Feuer. Was übrig bleibt, ist das Gerüst, ein stählernes Skelett. Stark und schillernd.
Was Jake verstanden hätte, die Hebamme jedoch nicht, war, dass ich meine Kamera brauchte. Ich hatte die Wohnung so schnell verlassen, dass ich sie vergaß, ein wahrer Verlust. Ich hätte so gern das Gesicht des Babys fotografiert, als es herauskam, überzogen von Blut und Scheiße, gleichzeitig geschwollen und runzlig. Den Moment, in dem er gewogen, vermessen und abgewischt wurde. Die plötzliche Furcht vor dem Ergebnis. Hatte ich gesündigt, während er in mir war? Hatte ich ihn richtig zusammengesetzt? Auf einmal die Sorge, ich hätte alles falsch gemacht, und hierbei gab es keine ersten Entwürfe. Aber die Ärzte wirkten zufrieden. Mein Körper hatte ihm das Atmen beigebracht und das Schreien.
31. März 1982
Wir haben das Baby Theo genannt.
Theo, weil BLA BLA BLA! Jeder Satz, in dem es nicht darum geht, wie höllisch meine Scheide schmerzt, fühlt sich an wie eine Lüge. Und meine Brüste. Das Baby dockt nicht an (andocken! wie ein Schiff), aber die Milch kommt trotzdem. Weiß nicht, dass sie nicht herauskann. Ich bin noch im Krankenhaus wegen der Naht. Außerdem wollen sie mich erst entlassen, wenn sie sicher sind, dass das Baby die Brust nimmt. Meine Brust, also. Meine Milch. Mich.
2. April 1982
Zu Hause. Vertraute Bettlaken mit kleinen gelben Blumen. Wie häufig habe ich mich in sie gekrallt, während Jake mich gevögelt hat? Wie häufig habe ich sie in den letzten Monaten der Schwangerschaft durchgeschwitzt? Alles wirkt jetzt anders, nicht wiederzuerkennen.
Meine Mutter stand vor unserer Wohnungstür, als wir nach Hause kamen. Sie hatte einen Koffer dabei. Hatte den NJ Transit genommen. Hatte nicht erst um Erlaubnis gefragt. »Glaub mir, Miranda. Du brauchst mich.«
Ich hatte nicht die Kraft, zu protestieren. Schließlich hatte ich ein vier Kilo schweres Baby aus mir rausgepresst und zehn Stiche zwischen meiner Scheide und meinem Arschloch. Ich kann kaum laufen, geschweige denn eine achtzig Kilo schwere Frau in einem rosa Pulli vor die Tür setzen. Ich ging ins Schlafzimmer und legte mich hin. Als ich wieder aufwachte, war sie noch da. Ich schätze also, sie bleibt.
3. April 1982
Jake hält immer wieder das Baby und sagt: Wir haben ihn gemacht, Miranda. Wir haben ihn gemacht. Er ist unsere erste Zusammenarbeit.
Dabei ist dieses Kind fast ausschließlich von mir. Wir haben einander auf eine Weise geformt, die Jake nie verstehen wird. Obwohl er hier war. Er wird nie verstehen, wie, dass ich in den letzten neun Monaten meinen Körper teilen musste. Es unser Körper wurde. Und dann, nach neun Stunden Wehen, teilte er sich in zwei. Fleisch trennte sich von Fleisch. Das Kind und ich. Und mein Körper, der zurückgelassene, ist nicht mehr der, mit dem das alles seinen Anfang nahm. Ich bin ein runder Hügel aus Bauch, in dem nichts mehr ist.
4. April 1982
Theo
Hört
Nicht
Auf
Zu
Schreien
Meine Mutter kommt jeden Morgen ins Schlafzimmer und liest mir »Weisheiten« aus ihrem Selbsthilferatgeber vor. Heute war es die TIEFGRÜNDIGE und ZUM NACHDENKEN ANREGENDE Erkenntnis, dass »jeder Tag Klarheit bringt«.
Nicht mir. Mit jedem neuen Tag, der anbricht, hab ich mehr das Gefühl, im Nebel zu versinken. Wie ein Flugzeug, das durch eine Wolkendecke stößt, vor den Fenstern wird alles weiß und man fragt sich, ob man jetzt landet oder stirbt.
5. April 1982
Warum hört er nicht auf zu schreien?
Das ist doch unmöglich. Körperlich unmöglich. Wird er nicht müde? Tut ihm nicht mal der Hals weh? Sollte er nicht einmal für einen Moment glücklich sein? Rein statistisch gesehen?
6. April 1982
Mom ist weg. Dafür hab ich gesorgt. Ich hab schlimme Dinge geschrien. Ich weiß nicht mal, warum. Während ich schrie, fühlte es sich an, als kämen die Wörter aus jemand anderem. Ich wollte mich umdrehen und nachsehen, wer da so brüllte, damit ich sie bitten konnte, doch still zu sein. Dabei war ich es selbst.
Jake ist deshalb wütend auf mich. Er sagt, wir brauchten die Hilfe. Aber wir kriegen das hin. Ich kriege das hin. Andere kriegen es doch auch hin.
8. April 1982
Ich bin müde. Ich wusste nicht, dass man so müde sein kann. Aber ich kann nicht schlafen. Selbst wenn Theo nicht schreit, UND ER SCHREIT IMMER, kann ich nicht schlafen. Meine Gedanken drehen sich nur so. Wandern zurück, fragen sich, was ich anders hätte machen sollen, wie ich das alles rückgängig machen kann.
Kann man nicht. Natürlich. Soll man ja nicht mal wollen.
9. April 1982
Ich habe heute das Haus verlassen. Habe mich in eins von Jakes Flanellhemden gewickelt. Ich friere die ganze Zeit. Bin zur Apotheke, um mir einen Kräutertee zu holen oder irgendeinen anderen Scheiß, den der Arzt mir empfohlen hat. Hat mir die Zunge verbrannt, aber warm ist mir immer noch nicht.
Ich hatte Theo in der Trage dabei. Die Leute hielten mich ständig an, um mir zu sagen, wie hübsch er wäre. Wie hinreißend, wie niedlich.
Ich weiß, ich sollte ihnen zustimmen. Ich sollte sehen, was sie sehen. Dabei sehe ich nur ein wütendes kleines Alien, das nichts kann, außer überall hinscheißen und -pissen. Er hat meine Brustwarzen zerbissen, dabei hat er noch nicht mal Zähne. Er ist schrecklich. Er ist meins, meins, meins, diese fürchterliche kleine Kreatur, dieses Gebräu aus meinem Blut, und ich bin so voller Scham, dass ich’s kaum ertragen kann.
Ich nicke und bedanke mich. Ich höre meine Stimme, die hölzern klingt wie eine hohle Tür.
12. April 1982
Frauen sollen ihre Kinder lieben. Vielleicht kann ich das nicht. Irgendwas in mir hat sich vor langer Zeit losgerissen.
Ich wünschte, ich könnte zurückkehren. Zu einer Version von mir, bevor die Pubertät mich zerstörte, bevor ich mich der Fleischeslust hingab. Ich könnte das Bildnis eines Engels in einem bunten Kirchenfenster sein, das Gesicht starr, von Licht durchflutet. Ich müsste nicht lächeln. Ich müsste nicht einmal atmen.