2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 9, Tagebuch (1982—1993)
14. April 1982
Tag siebzehn. Ich habe einen Schiffbruch überlebt. Treibe in der sengenden Hitze. Umgeben von ungenießbarem Meer. Zähle die Tage, seit meine Welt unterging. Zähle die Tage, die ich noch Wasser treten kann. Meine Lippen und Brustwarzen sind wund und blutig. Alles in mir tut weh, alles, als wäre das Baby aus mir herausgekommen und durch Schmerz ersetzt worden. Meine Haut ist verbrannt. Wie lang hält man durch? Wie lang überlebt man?
15. April 1982
Ich lebe in weißen Federn mit Echsenaugen und dunklem Schlamm, der mir die Kehle hochkommt. Wenn ich die Augen schließe, spüre ich das Blut unter meiner Haut pulsieren. Wohin will es? Wenn ich es vergieße, werde ich leichter, schätze ich. So leicht, dass ich fliegen kann.
17. April 1982
03.06 Uhr und alle schlafen. Jede Minute gleitet an mir vorbei, zu glitschig, um sie zu fassen. Schon 03.07 Uhr. Siehst du? Bald weiß ich, wie ich die Zeit ausbremsen kann, und dann breche ich jede Minute auf, knirsch, knirsch. Eine Hummerschere mit frischem rosa Fleisch darin. Das schaffe ich durch Arbeiten. Mehr arbeiten. Schneller arbeiten. Ich habe einen neuen Prozess entwickelt. Ich lege ein Gitter, reihe alle Blätter aneinander, alle nacheinander, sehr präzise, und dann nimmt das Licht von ihnen Besitz, kriecht über die Seite, nistet sich in die Fasern und ist zu Hause. Man muss die Blätter einfach nur sehr genau beobachten. Man muss sie umlegen, wenn sie sagen, dass sie umgelegt werden möchten. Ich werde wach bleiben. Ich kriege das alles hin. Ich habe so viele Ideen.
18. April 1982
Theo ist eine hässliche kleine Bestie. Er sieht fast aus wie ein Tier. Ein eifersüchtiger Hund, eine schrumpelige Menschenhülle.
Jake schnarcht. Das Geräusch schüttelt mich, schleicht sich in meine Träume, mäht sie nieder. Ich werfe mich hin und her, meine Ohren fühlen sich an, als wäre Glas darin. Und dann fängt Theo an zu schreien, und das Glas zerbricht, und mein Kopf schmerzt und schmerzt.
Ich weiß nicht, ob ich je wieder schlafen werde.
18. April 1982
Jede Zelle ist ein blutiges Auge. Es blinzelt und starrt mich an. Die Nacht liegt wie ein dunkler Filter über allem, und der Deckenventilator übertönt das Schreien. Bleibe einfach für immer hier liegen und verrotte zu einem Löwenzahnsamen und muss nie wieder dieses Ding anschauen, muss nie wieder so tun, als würde ich es lieben.
19. April 1982
Es gibt Momente, da erhasche ich einen flüchtigen Blick auf mich selbst, wie Atembläschen auf dem Weg zur Wasseroberfläche, wie Luft, die gerade so außer Reichweite ist, und ich begreife nicht, was aus mir geworden ist. Und dann tauche ich wieder ab, hinab zum Meeresboden, um mich unter die anderen Meerjungfrauen und die Müllberge zu mischen.
Jake will, dass ich mich zusammenreiße, aber da gibt’s nichts zu reißen.
Ich habe mich nicht gelockert.
Ich bin verschwunden.
19. April 1982
Beißender, wütender Mund. Blutige Brüste. Einreißende Nähte.
19. April 1982
Ich hasse alle, jeden Menschen, den ich je getroffen habe. Ich will sie alle an den Schultern packen und sagen: Weißt du eigentlich, was du deiner Mutter angetan hast, als sie dich auf die Welt gebracht hat? Weißt du, dass du sie zerstört hast? Du undankbares Wesen.
Ich habe noch nichts so sehr gehasst. Mein Hass schlingt sich um meinen Bauch, drückt zu, Boa Constrictor, du kriegst keine Milch.
20. April 1982
Ich glaube, ein Teil von ihm steckt da noch in mir. Ein weiterer Arm, ein Stück seiner Zunge. Irgendwas ist nicht rausgekommen und fault da.
21. April 1982
Ich gebe mir Mühe. Ich gebe mir solche Mühe. Sieht das denn niemand? Jake hat alle meine Blätter zu einem großen Haufen zusammengeschoben und die Lichtmuster zerstört, die ich gerade auf dem Boden gestaltet habe. Er sagt, ich sei verrückt. Und nicht auf die gute Art, sagt er. Sondern richtig verrückt. Ob etwas nicht stimmt.
Natürlich stimmt etwas nicht. Wir haben ein Monster gemacht. Er kann es nicht erkennen Nur ich kann das. Das Monster trägt eine niedliche Menschenhaut Es ist sehr gut maskiert
22. April 1982
Gehe ins Krankenhaus, um das Überbleibsel von ihm aus mir holen zu lassen. Sie könnten mich operieren. Sie könnten mich einmal komplett auseinanderreißen und wieder zusammennähen. Dann käme Luft an meine Eingeweide, und ich verstünde wieder, wie man gut ist. Ich könnte eine marmorne Heilige werden. Das wäre ich gern. Ein kalter, harter Körper mit abgenutzten Zehen, an denen die Menschen reiben, damit ich ihnen Glück bringe. Meine Augen hätten keine Pupillen, und die Blindheit würde alles so viel klarer machen. Ich werde mir selbst die Zehen reiben.
2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 8, Krankenakten
Mappe: Nangussett Krankenhaus, Psychiatrische Abteilung (Aufenthalt vom 22.04.1982 bis 23.06.1982)
PSYCHIATRISCHE ABTEILUNG
NANGUSSETT KRANKENHAUS
Aufnahmebericht
22.04.1982
GEGENWÄRTIGES KRANKHEITSBILD
Patientin erschien barfuß in der Notaufnahme und sagte, sie sei gekommen, damit ihr ein Arm entfernt werde. Auf die Frage, welcher Arm, sagte sie, es könne auch ein Fuß sein. Sie sagte, er befände sich in ihr. Beim Aufnahmegespräch fielen tiefe Kratzer an den Armen auf, augenscheinlich mit den Fingernägeln selbst zugefügt. Auf Nachfrage antwortete die Patientin, sie habe dadurch die Operation erleichtern wollen. Schwester versuchte, der Patientin Hausschuhe anzuziehen, Patientin reagierte verstört.
Vaginale Untersuchung deutete auf kürzliche Entbindung hin. Auf Nachfrage, wo das Kind sich befände, antwortete die Patientin, es wäre zu Hause bei ihrem Mann. Jugendamt wurde zur Prüfung in Kenntnis gesetzt.
Psychologische Beurteilung beantragt. Psychologische Beurteilung zeigte fehlendes Kurzzeitgedächtnis, Halluzinationen, extreme Schmerzempfindlichkeit, Atemnot und Größenwahn. Stationär aufgenommen in die Psychiatrie auf unbestimmt.
VITALWERTE
GRÖSSE: 162 cm. GEWICHT: 52 kg. TEMPERATUR: 36,6° oral. PULS: 78. RHYTHMUS: regelmäßig. ATEMFREQUENZ: 18. BLUTDRUCK: 110 / 70
GENERALUNTERSUCHUNG
ALLGEMEINZUSTAND: erschöpft
AUGEN: normal
HNO: leicht verschnupft
KARDIOVASKULÄR: Brustschmerzen, Herzrasen
ATEMWEGE: Kurzatmigkeit
GASTROINTESTINAL: unklar
UROGENITAL: normal mit Trauma durch kürzliche Entbindung (28.03.1982)
BEWEGUNGSAPPARAT: Gelenkschmerzen, Steifigkeit
HAUT: Juckreiz (laut Eigenauskunft)
NEUROLOGISCH: normal
PSYCHIATRISCH: abnormal, Vorgeschichte unbekannt, genauere Bewertung steht aus
ENDOKRIN: Gewichtsverlust, starke Kälteempfindlichkeit
HÄM / LYMPHATISCH: Blutarmut (abgeklungen)
ALLERGIEN / IMMUNOLOGISCH: Heuschnupfen
BERICHT DES JUGENDAMTS
Patientin stellte sich postpartum vor. Laut Krankenakte Entbindung am 28.03.1982. Angestellte des Jugendamts bestätigte telefonisch mit dem Ehemann die Unversehrtheit des Kindes, der in Unkenntnis über Abwesenheit seiner Frau war. Antrag an Polizei zur nicht dringenden Überprüfung der Fürsorgepflicht.
PSYCHOLOGISCHES AUFNAHMEGESPRÄCH
Durchgeführt von Warren Sands, praktischer Arzt, psychiatrischer Assistenzarzt im zweiten Jahr, betreut von Raymond Zielinski, praktischer Arzt, Oberarzt.
Aufnahmegespräch begann mit Fragen zu den Umständen, die zu ihrem Erscheinen in der Notaufnahme geführt haben. Patientin verlor häufig den Faden, deutete aber an, dass sie sich die Kratzer selbst zugefügt hatte und dass sie glaubte, ein Teil ihres Kindes befände sich noch in ihr. Patientin bat darum, in eine »Heilige«, »Statue« oder »ein Knistern« verwandelt zu werden. Bat darum, dass der Gesprächsleiter ihre Füße berührte. Auf Ausschlagen der Bitte reagierte Patientin aufgebracht und halluzinierte einen »Ball aus Licht« in der Zimmerecke. Hysterisches Weinen. Patientin musste ruhig- und das Gespräch eingestellt werden. Vergrößerte Pupillen und Atemnot deuten auf Einnahme eines Aufputschmittels hin, erfordert weitere Beobachtung, um festzustellen, ob die Paranoia psychisch oder drogeninduziert ist.
Ehemann kontaktiert und gebeten, morgen zu den normalen Besuchszeiten in die Klinik zu kommen, ohne Kind.
Patientin ist eine Gefahr für sich selbst und andere. Stationäre Aufnahme für mindestens 96 Stunden und weitere psychiatrische Beurteilung empfohlen. Verlängerung nach Neubewertung.