2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 9, Tagebuch (1982—1993)
25. Juni 1982
Zurück aus Nangussett.
Und was mach ich jetzt?
Ich wusste noch, dass ich an irgendetwas Unglaublichem gearbeitet hatte, als ich ins Krankenhaus ging. Ich konnte mich nicht an die Einzelheiten erinnern, nicht mal daran, was es war, aber ich erinnerte mich an den Stolz, der mich erfüllte.
Während meiner ganzen Zeit an Dem Ort habe ich an dieses Foto gedacht, und wie es wohl wäre, es zum ersten Mal zu sehen. Die Negative auf dem Leuchttisch auszubreiten und die Lupe daraufzulegen. Ich erwartete, dass es mich treffen würde wie ein Hammer. Ich erwartete, darin eine verborgene Wahrheit zu entdecken, die ich vergessen hatte. Den Grund dafür, dass ich das alles durchgemacht habe.
Ich habe so lange danach gesucht. Jeden Film entwickelt.
Alles, was ich fand, waren Aufnahmen des Deckenventilators. Meines Kissens. Meiner Hand. Fotos von Theo, Puttenwangen, ein Baby wie aus der Werbung. Unscharfe Aufnahmen. Leere Filmrollen.
Da war nichts.
Ich kann nichts vorweisen.
26. Juni 1982
Theo ist größer geworden. Alle sagen, sie wachsen so schnell, aber man merkt es erst, wenn man für acht Wochen weggesperrt und dann entlassen wird und der kleine Mensch, den man aus sich rausgepresst hat, plötzlich doppelt so groß ist. Seine Haut ist milchig, nicht mehr rot, und alle Falten haben sich geglättet wie bei einer Rosine, die sich mit Wasser vollgesogen hat. Er lächelt jetzt. Was gibt es denn zu lächeln? Du hast eine Verrückte zur Mutter. Du weißt nicht, was das Leben für dich bereithält.
Ich darf noch nicht wieder stillen, sagen sie. Das war okay, als ich weg war, aber seit Theo wieder bei mir ist, läuft es nur so aus meinen Brüsten. Sie glauben, sie werden gebraucht.
Ich fürchte mich davor, mit ihm allein zu sein. Im Krankenhaus dachte ich (oder hoffte ich), dass ich mir das alles vielleicht nur eingebildet hätte. Dass ich nach Hause käme und alles leicht wäre. Ich dachte sogar, dass ich mir das viele Schreien nur eingebildet hätte. Aber er schreit noch immer. Ich zucke, wenn ich ihn höre. Er weiß, dass etwas nicht stimmt. Er weiß, dass ich hier nicht hingehöre.
2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 8, Krankenakten
Mappe: Rezepte
REZEPT AUSGESTELLT AM 28.06.1982
1800 mg Lithium als 900 mg Dosis 2× täglich.
150 mg Zimelidin, 1 Tablette täglich.
Im Falle von Nebenwirkungen melden Sie sich bei Ihrem Arzt oder wählen Sie den Notruf.
<<Duane Reade! Wir führen alle Marken!>>
2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 9, Tagebuch (1982—1993)
2. Juli 1982
Jake hat bilanziert. Nach Abzug aller Krankenhauskosten bleiben mir noch drei Monate, um etwas zu produzieren. Drei Monate. Ich bin auf Bewährung. Ja, du kriegst dein Leben zurück, wenn du das perfekte Bild kreierst, etwas, das deinen Kunsthändlern und deinem Mann und deinen Käufern beweist, dass du dieselbe bist wie vorher. Wenn du’s vermasselst, schnell zurück in den Knast.
Während meiner Abwesenheit ist meine Mutter in unser zweites Schlafzimmer gezogen, um Jake mit Theo zu helfen. Jetzt bleibt sie, um mich beim »Klarkommen« zu unterstützen.
Noch ein Augenpaar, das mich beobachtet. Nach Zeichen von Schwäche sucht. Darauf wartet, dass ich versage.
19. Juli 1982
Ich verliere Zeit. Gestern hab ich auf die Uhr geschaut, und es war zwei Uhr nachmittags. Als ich das nächste Mal geschaut habe, war es neun Uhr abends, und ich hatte nicht mal das Bett verlassen.
Als Jake später zu mir kam, hab ich ihm gesagt, dass ich nicht weiß, ob ich die Frist einhalten kann. Vor ein paar Wochen wirkte es noch wie so viel Zeit, aber ich hatte noch nie so eine Leere in mir. Ich habe keine Ideen.
Wir haben ein bisschen gestritten. Ich sagte, ich kann nicht. Er sagte, ich müsse mich mehr anstrengen.
Schließlich fragte er: Wieso bist du so?
Was ist da drin mit dir passiert?
Wo bist du hin?
Ich weiß keine Antwort.
1. August 1982
Meine Mutter hat Dr. Pottle angerufen. Meinetwegen. Ohne es mit mir abzusprechen, natürlich. Wieso auch? Ich bin ein Kind, das von Erwachsenen hin und her gereicht wird. Ich weiß auch nur, dass sie mit ihm gesprochen hat, weil ich mitbekommen habe, wie sie sich kurz vorm Auflegen bei ihm bedankt hat. Ich stellte sie zur Rede, und sie sagte, sie mache sich Sorgen wegen meiner Trägheit. Ich glaube, Jake hat sie darauf angesetzt. Manchmal sind die so dicke, dass ich es kaum ertragen kann.
Pottle rief später an, um mich zu fragen, wie es mir gehe. Er tat so, als hätte meine Mutter ihm nichts erzählt. Ich sagte, mir gehe es nicht gerade super, worauf er sagte, das wäre jetzt die Umgewöhnungsphase. Falls es mir in sechs Wochen noch so gehe, könnten wir über eine Anpassung der Dosis reden.
Sechs Wochen! Sechs verdammte Wochen!
Ich hab ihm von der Abgabefrist erzählt. Hat er nicht verstanden.
Sie haben großes Talent, hat er gesagt. Ich bin mir sicher, dass Sie rechtzeitig ein Foto machen können.
Ich konnte fast hören, wie er dachte: Sie müssen doch nur auf den Scheißknopf drücken.
Den Rest des Tages hab ich auf dem Sofa verbracht, Theo gehalten und ihm beim Atmen zugehört. Mom blieb bei mir, um mich zu beaufsichtigen, was demütigend war.
2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 8, Krankenakten
Mappe: Rezepte
REZEPT AUSGESTELLT AM 25.09.1982
1200 mg Lithium als 600 mg Dosis 2× täglich. Zum Übergang von der 1800er Dosis: 800 mg 2× täglich über drei Tage, dann 700 mg 2× täglich über drei Tage.
150 mg Zimelidin, 1 Tablette täglich.
Im Falle von Nebenwirkungen melden Sie sich bei Ihrem Arzt oder wählen Sie den Notruf.
<<Duane Reade! Wir führen alle Marken!>>
2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 9, Tagebuch
2. Oktober 1982
Pottle hat endlich die Dosierung angepasst. Er sagt: Kommen Sie in vier bis sechs Wochen wieder, um über die Veränderung zu sprechen. Warum dauert immer alles vier bis sechs Wochen? Braucht der menschliche Körper so lange, um zu regenerieren? Oder ist das einfach der magische Zeitraum, den Ärzte entwickelt haben, um die Menschen zu besänftigen — lange genug, dass man sie nicht nervt, kurz genug, um ihre Zuzahlungen abzugreifen?
Heute ist die Dreimonatsfrist abgelaufen. Ich habe nichts Neues geschaffen. Glücklicherweise hat Jake ein Gemälde verkauft. Tausend Dollar. Eine einmonatige Verlängerung für mich. Wie er herumgockelt. So stolz, als hätte er uns alle gerettet.
Ich verspreche ihm, dass ich mich anstrenge. Und ich strenge mich wirklich an.
8. Oktober 1982
Ich weiß nicht, ob die neue Dosierung hilft.
Ich kann mich nicht konzentrieren, mir fällt rein gar nichts ein.
Ich schwitze permanent. Wechsle dreimal am Tag das Oberteil.
Mir ist so schwindelig, ich kann kaum stehen.
Ich kriege nur Toast runter.
Am Telefon sagt Pottle: »Aber ist doch besser als im Krankenhaus, oder?«
Ja, aber da liegt die Messlatte echt niedrig.
1. Teilbestand, Schriftverkehr
Karton 1, Persönlicher Schriftverkehr
Mappe: Eggers, Hal (beinhaltet 39 Fotokopien von MBs Briefen aus HEs Privatsammlung)
12. Oktober 1982
Lieber Hal,
danke für deinen Brief. Mir geht es besser. Nein, ich habe noch immer keine neue Idee. Die Medikamente verlangsamen alles. Aber keine Sorge, ich werde mich bald daran gewöhnen, und dann bin ich nicht aufzuhalten.
In der Zwischenzeit könnte ich aber neue Abzüge von Capillaries machen. Meinst du, die kriegst du verkauft? J & ich könnten das Geld brauchen. Windeln sind scheißteuer. Abzüge schaff ich, es ist eher Neues, das mir Probleme bereitet.
Und könntest du bald meinen Anteil an den Sommerverkäufen schicken?
Bis bald
M
19.10.
Liebe Miranda,
armes Ding. Schön, dass du auf dem Weg der Besserung bist. Hab den Assistenten gebeten, dir die Verkaufsstatistik und den Scheck zu schicken, danke für die Erinnerung.
Und was neue Arbeiten angeht, vergiss nicht: DU BIST EIN SUPERSTAR! Hol mal tief Luft. Das ist wie mit den Gezeiten, ein und aus, ein und aus.
Weitere Abzüge der Capillaries wären toll. Besonders #2, die ging weg wie warme Semmeln. Mach aber nicht zu viele, sonst fällt ihr Wert und frühere Käufer fangen an, sich zu beklagen.
Hal
21. Oktober 1982
Hal,
danke für den Hinweis mit dem Atmen. Darauf wäre ich von selbst nie gekommen. Jetzt, wo ich ein- und ausgeatmet habe, kann ich mich dem Tag stellen! Hab dir ein neues Foto beigefügt.
M
28.10.
Miranda,
neues Foto bedarf noch weiterer Bearbeitung. Der Mittelfinger sollte mittig ausgestreckt sein, damit die Komposition symmetrisch ist.
Die Atemübung wurde mir von einem berühmten sibirischen Schamanen empfohlen, der ein guter Freund geworden ist. Mach das also nicht schlecht!! Ich will nur, DASS DU AUF DICH AUFPASST. Entspann dich, dann kommen die Ideen von selbst.
Hal
2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 9, Tagebuch (1982—1993)
2. Oktober 1982
Hal glaubt, er weiß alles über den Schöpfungsprozess. Und er glaubt, er könne den Prozess effizienter machen. Schneller. Profitabler. Er begreift nicht, dass wir keine Maschinen sind. Soll er doch eine Maschine anheuern, die Kunst macht, wenn er will. Das wäre aber eine andere Art von Kunst.
Vor Theo, vor Nangussett habe ich Kreativität richtiggehend gespürt. Als hätte mich etwas körperlich ergriffen. Ich erinnere mich an das Gefühl. Als hätten meine Adern sich geweitet, um Raum für ein weiteres Wesen zu schaffen, ein kraftvolles Wesen. Manchmal fühlte es sich an, als würde ich direkt mit dem Universum kommunizieren.
Aber die Medikamente machen mich fertig. Ich bin betäubt. Meine Adern sind eingefroren, können sich nicht dehnen. Ich habe das Krankenhaus vor über vier Monaten verlassen, seit vier Wochen schlucke ich die neue Dosis, und trotzdem habe ich nicht eine einzige Filmrolle entwickelt. Ich weiß nicht, wohin die Tage verschwinden. Die Stunden.
Ich habe nur zwei Wahlmöglichkeiten.
Kreativ sein oder Pillen schlucken.
Der scharfe Schmerz.
Oder seine dumpfe Abwesenheit.