Das Tagebuch bestimmte schon bald Kates Arbeitstag. Sie nutzte jede mögliche Sekunde ihrer geheimen Sitzungen, rannte in Theos Schlafzimmer, kaum dass er das Haus verlassen hatte, setzte sich auf den Boden, das Notizbuch geöffnet auf den Knien. Trotz der im Buch vorherrschenden Intensität kam sie nur langsam voran. Mirandas Handschrift war noch schlimmer, wenn sie nur für sich selbst schrieb, und so schaffte Kate gerade mal fünf oder sechs Seiten, bevor sie wieder hinunterflitzen musste, wo sie dann unter Hochdruck arbeitete, um die verlorene Zeit aufzuholen. Die extreme Konzentration, die das Entziffern des Tagebuchs und der Dokumente, die sie tatsächlich lesen sollte, forderte, ließ jeden Arbeitstag mit Kopfschmerzen enden. Was sie als gerechte Strafe empfand.
Wenn sie nicht arbeitete, versuchte sie, Kid ausfindig zu machen, den einzigen Menschen, der Miranda als Freundin bezeichnet hatte. Er war nie im Geschäft, aber immerhin traf Kate dort Esme, die Besitzerin. Und Esme war entzückend. Sie war Ende vierzig, klein und rund und hübsch, und sah immer so aus, als hätte sie gerade multiple Orgasmen gehabt und eine Verjüngungskur gemacht. Sie war so gesprächig wie Louise, aber weniger kritisch. Und sie gehörte zur Umarmungsfraktion — sie hatte Kate sofort in die Arme geschlossen, als diese den Laden betrat, und sie überschwänglich begrüßt. Jedes Mal, wenn Kate zurückkehrte, überkam sie ein so warmes Gefühl, dass sie Unmengen ihres gerade verdienten Geldes für unterschiedlichste Mittelchen ausgab, die laut Esme dafür sorgen würden, ihre »kränklich gelbe« Aura in eine souveräne blaue zu verwandeln. Eine Woche später türmte sich ein Haufen Kerzen, Kräuter und Kristalle auf Kates Nachttisch, doch war sie Kid kein Stück näher gekommen.
»Fahr doch zu ihm«, sagte Nikhil Freitagabend.
Kate hing halb auf der Theke. Sie gehörte mittlerweile zu den Stammgästen des Pawpaw’s, hauptsächlich um Franks und Louises aufmerksamem Blick zu entgehen, aber gleichzeitig war Nikhil der einzige Mensch in Callinas, mit dem sie eine normale Unterhaltung führen konnte. Er wohnte mit seiner Freundin und zwei Mitbewohnern in einem Haus jenseits des Hügels, so nannte man hier die bergige Gegend, die die Strandstädte vom Rest Marins trennte. Vermutlich lag es daran, dass er immer in eine Beruhig-dich-mal-Haltung verfiel, wenn es um irgendwas in Callinas ging, insbesondere das Brand-Drama.
»Aber ich weiß nicht, wo er wohnt«, sagte sie. »Esme will es mir nicht verraten. Weil sie seine Privatsphäre wahren will. Aber ich glaube, sie will nur, dass ich wiederkomme. Sie verdient jedes Mal um die fünfzig Dollar an mir.«
»Du kaufst jedes Mal was?«
Kate schaute zu der kleinen Papiertüte, die auf dem Stuhl neben ihr stand. »Es wirkt immer so, als würde ich es brauchen.«
Nikhil prustete. »Wenn Esme es dir nicht erzählen will, frag Louise«, sagte er und schleuderte sich das Geschirrtuch über die Schulter. »Louise weiß alles.«
Kate schüttelte den Kopf. Louise würde nur mitkommen wollen, ein Albtraum. Sie waren morgen mit Chief Velázquez verabredet, und Kate hatte sich schon jetzt mehr Gedanken darüber gemacht, wie sie mit ihrer Tante umging, als darüber, wie sie das Gespräch mit dem pensionierten Polizisten angehen wollte. Sie musste vorsichtig sein, wie sie ihre Fragen stellte, damit sie nicht zu viel über die Brands verriet (das würde Louise definitiv in der Stadt weitertratschen) oder ihre Faszination mit ihnen (das würde Louise definitiv Kates Mutter weitertratschen). Und wenn Louise abschweifte und sich darüber ausließ, dass Kate labil war …
»Nervt es dich manchmal?«, fragte sie Nikhil und drehte ihr Bierglas in den Händen.
»Was?«
»Das. Hier. Callinas. Es ist so … klein.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich find’s irgendwie niedlich. Hier passen alle aufeinander auf.«
»Wahrscheinlich mag ich einfach nicht, dass auf mich aufgepasst wird.« Sie musste an die letzten Monate in Connecticut denken, an die besorgten Mienen ihrer Eltern.
»Ach, komm.« Nikhil grinste. »Du bist doch erst einen Monat hier, so schlimm kann es noch gar nicht sein.«
Überrascht schaute sie auf. Sie vergaß immer wieder, dass Nikhil nicht wusste, wie sie hier gelandet war. Alles, was sie in New York durchgemacht hatte, war für ihn unsichtbar. Seine Ahnungslosigkeit hätte eine Erleichterung sein sollen; das war ja der Reiz an Kalifornien gewesen. Aber statt erleichtert fühlte sie sich erschöpft, als wäre sie in zwei Teile zerrissen. Einer davon war noch am anderen Ende des Landes, weshalb ihr hier nur die Hälfte ihrer Energie zur Verfügung stand.
Die Tür zur Bar öffnete sich, und zwei Frauen kamen herein. Eine Ende fünfzig, die andere Mitte dreißig. Beide trugen Funktionsklamotten. Als sie an die Theke traten, stellte Nikhil sie Kate als Roberta und Wendy vor.
»Dreimalige Gewinnerinnen des Point-Reyes-Mutter-Tochter-Fünf-Kilometer-Rennens«, fügte er hinzu. »Und zwei meiner besten Kundinnen.«
»Wir kommen jede Woche nach dem Yoga hierher«, sagte Wendy zu Kate. »Um all die harte Arbeit zunichtezumachen.«
Kate kannte Wendy vom Sehen, sie war eine der Muttis, die ausschließlich mit dem Babyjogger in der Nachbarschaft unterwegs waren. Der Typ Frau, der eigentlich besser in einer Weinbar in Sonoma aufgehoben war, statt sich mit dem Hauswein im Pawpaw’s zufriedenzugeben. Deshalb war sie wenig überrascht, als Wendy ein antibakterielles Tuch auspackte und damit erst einmal den Barhocker abwischte.
»Wie gut, dass wir uns endlich kennenlernen«, sagte Roberta zu Kate, während Wendy zwei Wodka-Soda bestellte. »Ich bin mit deiner Tante befreundet. Sie ist so froh, dass du hier bist.«
»Ich bin auch froh«, sagte Kate und fragte sich sofort, ob Louise von den antibakteriellen Wischtüchern wusste. Das würde eine ordentliche Standpauke geben.
»Wir haben eine Menge Fragen zu deiner Arbeit oben im Haus«, sagte Roberta und kämpfte sich auf den Hocker.
»Ach, ja?«
»Ja.« Mehr sagte sie nicht. Sie schaute Kate nur auffordernd an, in Erwartung von mehr Informationen.
»Ich darf leider nicht darüber sprechen«, sagte Kate entschuldigend.
»Wir sind ja keine Fremden«, sagte Roberta, obwohl sie genau das waren: Fremde.
»Ich bin mit Theo zur Schule gegangen.« Wendy lehnte sich vor, um an ihrer Mutter vorbeisprechen zu können. »Wir mussten häufig Partnerarbeiten zusammen machen, weil wir im Alphabet direkt hintereinanderkamen.«
Das erregte Kates Aufmerksamkeit. »Waren Sie befreundet?«
»Nein, er hatte eigentlich keine Freunde. Er war ein ziemlich komisches Kind. Superstill. Und du kannst uns doch auch duzen.«
»Aber wir waren einmal bei ihnen zu Hause«, sagte Roberta. »Theo war oft bei uns gewesen, um mit Wendy an Projekten zu arbeiten, aber in dem Fall sollten sie ein Diorama basteln, und da dachte ich, wer eignet sich besser, ein Kunstprojekt anzuleiten, als zwei Künstler?«
Wendy verdrehte die Augen. »Du wolltest doch nur mal zu denen nach Hause.«
»Okay, ich war neugierig«, sagte Roberta. »Verklag mich doch. Wie dem auch sei, ich hab Wendy hingefahren, aber, mein Gott, was für ein Saustall. Überall stapelweise Papier. Und dann ihre Fotos, richtig ekliges Zeugs, lag da offen rum, Wendy konnte das alles sehen. Ich hatte sofort ein komisches Gefühl.«
Nikhil stützte sich mit den Ellbogen auf die Theke. »Meinst du nicht, das Gefühl kam erst danach?«
»Nein, da war es total unheimlich. Seine Eltern kamen nicht mal zur Tür. Ich hab Theo gefragt, wo sie sind, und er meinte, die arbeiten. Ich konnte mich ja schlecht selbst einladen.«
»Ich würde das machen«, sagte Wendy. »Wenn Texas bei jemand anderem zu Hause wäre.«
Kate warf Nikhil einen fragenden Blick zu, sie hat ihr Kind Texas genannt? Er zuckte nur mit den Schultern.
»Das waren die Neunziger«, sagte Roberta. »Da lief so was noch viel entspannter.«
»Jedenfalls ist Mom gefahren, und Theo hat seine Stifte und Zeichenkarton geholt. Ich stand einfach nur herum, hab auf ihn gewartet. Und eins von den Fotos vom Stapel genommen, das ich superlustig fand, weil eine nackte Frau darauf war. Dann hab ich ein Geräusch auf der Treppe gehört. Das war Miranda. Sie stand da und starrte zu mir runter.« Wendy senkte die Stimme, als würde sie ein Geheimnis erzählen. »Ich dachte, sie wäre wütend wegen dem Foto, deshalb hab ich mich entschuldigt. Aber sie winkte ab, so …« Wendy machte eine verscheuchende Geste. »Und dann fragte sie: ›Was machst du hier?‹ Ich antwortete, dass wir ein Projekt für die Schule machten. Darauf sagte sie, und das ist mein voller Ernst: ›Scheiß auf das Schulprojekt.‹«
»Zu einem Kind«, warf Roberta ein. »Einem Kind!«
»Ich war richtig verwirrt«, sagte Wendy. »Ich war neun, vielleicht zehn. Das Wort hatte ich vorher vielleicht mal in der Schule gehört. Und während ich überlegte, was ich darauf erwidern sollte, hat sie sich einfach auf die Treppe gesetzt und sich eine Zigarette angesteckt. Ich dachte, sie hat vergessen, dass ich da bin, aber dann sprach sie weiter. Sagte irgendwas wie, dass ich nicht machen sollte, was andere von mir verlangen. Dass das eine wichtige Lektion für mich sei, weil ich ein Mädchen wäre, bald eine Frau, und dass es nur schwerer werden würde, Nein zu sagen. Deshalb sollte ich es schon mal üben. Üben, Nein zu sagen.
Und ich erwiderte, weil ich mich für superklug hielt: ›Wenn ich nicht machen soll, was andere von mir verlangen, dann sollte ich nicht machen, was Sie sagen.‹ Da hat sie die Zigarette sinken lassen und mich angelächelt. Es war das sonderbarste, unheimlichste Lächeln. Als würde sie direkt in mein Innerstes schauen. Und dann sagte sie: ›Genau, das solltest du nicht. Ich bin der letzte Mensch, auf den du hören solltest. Hast du es denn nicht gesehen?‹«
Als Wendy nicht weitersprach, fragte Kate: »Was meinte sie denn damit? Ob du was nicht gesehen hast?«
»Ich weiß es nicht. Das hat sie nie gesagt.«
Damit war die Geschichte beendet, denn Wendy setzte demonstrativ das Glas an die Lippen.
Kate griff ebenfalls nach ihrem Glas und versuchte, ihre Frustration zu verbergen. Die Geschichte war plausibel, aber viel zu konkret, um wahr zu sein. Niemand erinnerte sich so detailliert an einen Vorfall aus der Kindheit. Kates Erinnerungen waren wesentlich verschwommener. Pubertät, erster Kuss, erster Schnaps, erstes Absageschreiben, erste Trennung und natürlich die kleinen Momente der Demütigung, die sich wie öffentliches Bloßstellen anfühlten — klar, solche einschneidenden Erlebnisse waren ihr präsent, trotzdem könnte sie daraus keinen zusammenhängenden Bericht machen. Manchmal kam es ihr vor, als wäre ein Feuer in ihrem Erinnerungszentrum ausgebrochen und hätte verkohlte Bruchstücke zurückgelassen, die über die Jahre zu einer glatten, steinernen Masse verschmolzen waren.
Wendy hatte dieses Problem offensichtlich nicht. Vielleicht hatte sie die Geschichte einstudiert. Wachte jeden Morgen auf und sagte mindestens fünf solcher Erlebnisse auf, etwas, das Bewerbungsratgeber rieten, bevor man zu einem Vorstellungsgespräch ging. Vielleicht schlachtete sie die Story aber auch schon seit Jahren aus, weshalb sie sich allmählich zu einer zusammenhängenden Erzählung geformt hatte.
Je länger Kate über Wendys Geschichte nachdachte, desto bedeutungsloser erschien sie ihr. Wie ein gebrochenes Kreidestück, das zerbröselte, sobald man es aufhob. Dass Miranda exzentrisch war, hätte ihr auch der Wikipedia-Eintrag verraten. Trotzdem machte die Geschichte sie hungrig auf mehr. Die Vorstellung von Miranda, die auf der Treppe saß, rauchte und eine Neunjährige belehrte.
Hast du es denn nicht gesehen? Wenn es einfach nur so dahergesagt gewesen wäre, hätte Miranda doch Hast du es denn nicht gehört genutzt? Sie musste also etwas Bestimmtes gemeint haben. Nein, jetzt las Kate zu viel zwischen den Zeilen.
»Willst du noch eins?«, fragte Nikhil und unterbrach ihren Gedankenfluss.
Kate schaute zu ihrem Glas und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass es leer war. Roberta hatte eine SMS bekommen und brauchte Hilfe von Wendy, um sie zu lesen. Kate stimmte Nikhil zu: noch mal das Gleiche, bitte.
Victor Velázquez wohnte nur wenige Häuser von Frank und Louise entfernt. Sein Haus war zweistöckig und im Craftsman-Stil gebaut. Innen war es aufgeräumt und fast ausschließlich in Brauntönen dekoriert. Er selbst war über sechzig, stämmig gebaut und hatte einen riesigen schwarzen Schnurrbart, als wäre er geradewegs Columbo entstiegen. Abgesehen vom Schnurrbart erweckte er nicht den Eindruck, mal Polizist gewesen zu sein. Er wirkte wie die meisten von Franks und Louises Freunden: warmherzig und sorglos. Nachdem er Kate und Louise ins Wohnzimmer gebracht und auf einem hellbraunen Sofa hatte Platz nehmen lassen, stellte er einen Teller mit Plätzchen auf den Couchtisch. Seine Frau versuche, in eine Backshow im Fernsehen zu kommen, erklärte er. Das Auswahlverfahren begänne in wenigen Wochen, sie übe ununterbrochen.
»Der Teig schmeckt ein bisschen fad«, sagte Louise mit einem Bissen Zimtplätzchen im Mund.
»Finde ich auch«, stimmte Velázquez zu. »Leah führt einen Kreuzzug gegen Industriezucker. Sie lässt mich nicht mal mehr Gatorade kaufen. Welchen Grund gibt es denn noch zum Leben — ohne Gatorade?«
Kate aß ihr Plätzchen kommentarlos und betrachtete die Fotowand neben dem Sofa. Wie bei den meisten Wänden dieser Art war der Gedanke dahinter besser als die Umsetzung. Den Mittelpunkt bildete ein gestelltes Porträt, mindestens zwanzig Jahre alt, in dem die Velázquez und ihre beiden Söhne vor einer deprimierend blassen Fotowand posierten.
»Also«, sagte Velázquez und setzte sich ihnen gegenüber in den ledernen Fernsehsessel. »Worum geht es, Louise? Das klang sehr geheimnisvoll am Telefon.«
Louise öffnete den Mund, aber Kate kam ihr zuvor. »Ich habe Louise gebeten, uns einander vorzustellen«, sagte sie. »Vielleicht haben Sie schon gehört, dass ich oben im Brand-Haus arbeite?«
»Ach ja, stimmt. Macht es Spaß?«
Das war das erste Mal, dass es jemand so ausdrückte. »Es ist gute Arbeit«, antwortete sie.
»Sie hat einen Vertrag mit Verschwiegenheitsklausel unterschrieben«, sagte Louise zu Velázquez, als wäre Kate gar nicht da. »Ich weiß also gar nichts darüber, was da oben vor sich geht. Hast du gehört, wie unhöflich Theo Brand am Donnerstag zu Marjorie war?«
Kate, die die Geschichte bereits kannte, hätte liebend gern die Augen verdreht. »Zu Theos Verteidigung« — Wörter, die Kate nie aus ihrem Mund erwartet hätte —, »Marjorie ist fast bei ihm eingebrochen.« Allem Anschein nach hatte die Frau so stark am Tor gezerrt, dass es fast aus den Angeln geflogen war.
»Sie wollte ihm Plätzchen bringen. Eine nachbarschaftliche Geste.« Louise griff zum Teller auf dem Couchtisch und hielt ein Plätzchen hoch, als wüssten sie nicht, wovon sie sprach. »Marjories sind sehr lecker. Leah sollte sie mal um Rat fragen. Wenn sie es ernst meint mit der Backshow.«
Kate ließ sich nicht beirren. »Wie dem auch sei, Chief Velázquez —«
»Bitte, nennen Sie mich doch Victor.«
»Victor. Louise hat mir erzählt, dass Sie in Miranda Brands Fall ermittelt haben. Und ich wollte gern Ihre Sicht der Dinge hören. Damit ich besser verstehe, was ich da oben finde.«
Er hob die Augenbrauen. »Warum? Was finden Sie denn?«
»Dokumente, Briefe, Fotos. So was.«
»Hm«, machte er. »Also, ich würde Ihnen helfen, aber ich verstehe rein gar nichts von Kunst.«
»Das müssen Sie auch gar nicht. Mich interessiert mehr … Also, jeder hier spricht ja darüber, wie sie gestorben ist, aber ich kenne keine der Fakten. Nur Gerüchte. Und ich wollte Theo nicht danach fragen. Aus naheliegenden Gründen. Aber ich würde gern besser verstehen, wie sie gestorben ist.«
Victor legte die Stirn in Falten. »Hat Frank nicht erwähnt, dass Sie Journalistin sind?«
»War ich mal.« Sie machte sich nicht mal die Mühe, ihn zu korrigieren. »Jetzt nicht mehr. Mir geht es nicht um eine Story.«
»Also sprechen wir vertraulich?«
»Ja, absolut vertraulich.« Das Versprechen war leicht gemacht. Die Zeitung, die gerade einen Artikel von ihr drucken würde, gab es nicht.
Beruhigt lehnte er sich zurück und strich sich über den Schnurrbart.
»Tja, wo soll ich anfangen?«, fragte er.
»Als ihr die Leiche gefunden habt«, sagte Louise.
Er verzog das Gesicht. »Gott, das war schrecklich. Das war erst die zweite Tote, die ich zu Gesicht bekam. Ich war ganz frisch dabei. Vorher hatte ich in Fresno bei der Verkehrspolizei gearbeitet. Da hab ich natürlich ein paar üble Unfälle gesehen, aber das … Nach dem ersten kurzen Blick auf sie musste ich zurücklaufen zum Wagen und mich übergeben. Nicht gerade mein bester Moment. Problem war, dass ich sie vorher kennengelernt hatte. Es ist schwieriger, wenn es jemand ist, den man kannte.«
»Dann haben Sie sie erkannt?«, fragte Kate.
»Mehr oder weniger. Ihr halber Kopf fehlte ja. Aber die Adresse war mir bekannt, und als die Einsatzleitung durchgab, dass das Opfer eine Frau war, wusste ich schon, was uns erwartete.«
»Wer hat Sie verständigt?«
»Theo. Er hat sie gefunden.«
»Dann war sie tot, als sie ankamen?«
Victor sah sie an. »Wie gesagt, ihr halber Kopf fehlte.«
»Oh, Gott.« Louises Augen funkelten vor morbider Neugier.
»Es sah sofort nach Suizid aus«, fuhr Victor fort. »Die Pistole lag neben ihr. Alle wussten, dass sie Schwierigkeiten hatte. Trotzdem hat der Sheriff Barb hingeschickt, das war Routine. Wir sind ein kleines Polizeirevier. Wir sind nicht für Ermittlungen dieser Art gerüstet.«
»Barb?«
»Barbara Lippland. Sie hat die Ermittlungen geleitet.«
»Wo wohnt sie?«
»Sie ist vor zwei Jahren an Eierstockkrebs gestorben. Ziemlich traurig. Obwohl sie in diesem Fall ziemlich anstrengend war. Sie hat ein paar Kollegen hergeholt und uns hier rumgejagt wie Fußvolk. Leute befragen. Mirandas Geisteszustand ausloten. All so was.«
»Dann hat sie nicht geglaubt, dass es Suizid war?«, fragte Kate.
»Sie war einfach nur sehr gründlich. Der Fall war schließlich von großem öffentlichen Interesse, das hat eine Menge Druck erzeugt. Und sie war schon immer eine, die sich streng an die Vorschriften hielt. Sie war davon überzeugt, dass es, um es mal juristisch zu sagen, für einen Suizid auch Beweise einer Absicht zur Selbstverletzung geben musste. Sie wollte wissen, warum die Waffe sauber war, ob Miranda einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte.«
»Und? Hatte sie?«
»Nein, aber das tun die wenigsten.«
»Und was genau meinen Sie mit ›saubere Waffe‹?«
»Auf der Pistole waren keine Fingerabdrücke. Nicht mal Mirandas.«
»Wie bitte?«
»Ich glaube, so einen Fall gab es mal bei CSI«, sagte Louise mit gedämpfter Stimme. »Da hat sich dann herausgestellt, dass der Mörder sich die Fingerkuppen verbrannt hat, damit er keine Abdrücke hinterließ. Habt ihr die Finger aller Verdächtigen überprüft? Um zu schauen, ob jemand die Kuppen verbrannt hat?«
Kate und Victor starrten Louise an. Manchmal fragte Kate sich, ob ihre Tante sie insgeheim verarschen wollte.
»Alle, mit denen wir gesprochen haben, hatten Fingerabdrücke«, sagte Victor schließlich.
Kate wandte sich demonstrativ wieder ihm zu. »Woher kam die Pistole eigentlich?«
»Die hatte Jake gekauft. Er hat ausgesagt, dass er sie in einem Gemälde verarbeiten wollte. Selbstverständlich fragte Barb, wieso er dazu nicht einfach eine aus Plastik nehmen konnte, was ihn richtig erschüttert hat.« Victor lachte. »Er meinte, er würde sie anders malen, wenn er wüsste, sie wäre aus Plastik. Von ihr ginge nicht dieselbe … welches Wort hatte er benutzt? ›Bedrohung‹. Von ihr ginge nicht dieselbe Bedrohung aus. Barb gefiel diese Erklärung nicht. Deshalb ließ sie uns rumtelefonieren, um Jakes Schöpfungsprozess zu überprüfen. Letzten Endes ist das wohl alles aufgegangen. Er hatte die Waffe jedenfalls nicht irgendwo sicher weggeschlossen, sondern hatte sie offen im Atelier liegen lassen, das er und Miranda teilten. So kam sie daran.«
Kate gefiel die Erklärung genauso wenig wie Barb. »Aber Sie haben ihn doch sicher vernommen, oder? Hatte er ein Alibi?«
Irgendetwas an Victors Haltung änderte sich. Kate konnte nicht genau sagen, was, doch plötzlich wirkte es, als säße er auf einem harten Stuhl, nicht mehr in einem bequemen Fernsehsessel. Und dann dachte sie: Ach, stimmt, er ist Polizist.
»Selbstverständlich haben wir ihn vernommen. Nein, er hatte kein Alibi. Damit hatte auch niemand gerechnet, sie ist schließlich frühmorgens gestorben, er hat geschlafen. Aber Sie müssen wissen, Jake war ein guter Mann. Ich kannte ihn, lange vor Mirandas Tod, und ich habe mitbekommen, wie es ihm danach ging. Er war nicht mehr derselbe. Sie war sein Ein und Alles. Und er hatte einiges durchgemacht, sich um sie gekümmert, für sie gesorgt.«
»Er klingt wie ein netter Mensch.« Kate gab ihrer Stimme einen leicht skeptischen Klang.
»War er.«
Er blieb dabei, also musste Kate die Taktik ändern. »Was ist mit Kid Wormshaw?«, fragte sie. »Louise hat erzählt, sie waren befreundet. Haben Sie auch mit ihm gesprochen?«
Jetzt wirkte Victor richtig verärgert. »Ja, wir haben mit Kid gesprochen. Wir haben mit allen gesprochen. Wir haben unseren Job gemacht, okay?«
»Ja, natürlich. Tut mir leid, das wollte ich nicht infrage stellen. Mir interessiert bloß, was Kid … was die anderen über Miranda gesagt haben.«
»Dasselbe«, sagte er. Liebend gern hätte sie gefragt: Und das war? Aber sie hielt sich zurück.
Stattdessen sagte sie vorsichtig: »Ich habe gehört, dass manche glauben, Theo sei irgendwie beteiligt gewesen. Dass das Ganze vielleicht ein Unfall war.«
Da Louise bisher fast kein Wort von sich gegeben hatte — eine angenehme Abwechslung —, hatte Kate sie nicht direkt erwähnt. Aber Victor schnaubte nur und wandte sich an Louise.
»Meint sie damit das, was ich beim Bingo zu Frank gesagt habe?«, wollte er wissen.
»Was?« Louise riss die Hand zur Brust. »Nein! Nein, absolut nicht. Ich weiß nicht, wovon Kate spricht.«
»So was macht mich echt wütend.« Victor wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Dass die Gerüchte immer so ausarten müssen. Frank hat mir erzählt, dass Theo herkommt, und ich hab etwas gesagt, was ich besser für mich behalten hätte. Du weißt ja, wie stark die Margaritas von Chuck sind. Aber ich hab nie behauptet, dass Theo das gewesen ist. Er war doch noch ein Kind.«
»Unfälle passieren eben«, sagte Kate.
»Dieser Schuss war kein Unfall, das können Sie mir glauben.« Er formte die Hand zu einer Pistole und hielt sich den Zeigefinger einen Zentimeter oberhalb des Ohrs gegen den Kopf, diagonal nach unten gerichtet. »Die Kugel ist hier eingetreten und kam am Kinn wieder heraus. Der Pathologe hat bestätigt, dass aus einer Entfernung von wenigen Zentimetern geschossen wurde. Deshalb war ihr Gehirn ja auch überall.«
»Victor, ich bitte dich.« Kate konnte nicht einschätzen, ob ihre Tante damit ausdrücken wollte: »Hör auf«, oder: »Erzähl uns noch mehr blutige Details.«
»Ich weiß, was über Theo geredet wird«, sagte Victor. »Er war … anders, schon bevor das alles passiert ist. Aber ich weiß auch, wie Jungs in dem Alter sind. Ich habe selbst zwei Söhne.« Er deutete zu den Familienfotos, die Kate vorhin schon betrachtet hatte. »Und wenn du glaubst, ein Elfjähriger könnte seine Mutter aus so geringer Entfernung erschießen, sehen, was das mit ihrem Körper macht, dann die Polizei rufen und solche Tränen vortäuschen — all das, ohne eine Spur von Blut abzubekommen … Nein, niemals.«
Das hatte Kate ja auch gedacht, als sie die Fotos von Theo in Mirandas Dunkelkammer gesehen hatte. Wie jung er gewesen war, wie unschuldig. Aber ihr Verstand blieb an etwas anderem hängen, das Victor gesagt hatte. Ich weiß, was über Theo geredet wird. Wie oft war das über Kate gesagt worden? Wie oft war sie in ein Zimmer gekommen und hatte bemerkt, dass die Gespräche für einen Moment aussetzten, als führen sie über eine Bodenwelle? Sie hatte so schnell über Theo geurteilt. In Wahrheit war sie erleichtert gewesen, mal nicht selbst im Mittelpunkt der Spekulationen zu stehen.
»Und hätte es jemand anderes gewesen sein können?«, fragte Kate und schob ihr Unbehagen beiseite. »Vielleicht wollte sie an jenem Morgen im Garten jemanden treffen. Sie standen zusammen, unterhielten sich, die Situation artete aus, sie wandte sich ab und wurde erschossen. Wer immer es war, wischte die Waffe ab und verschwand durchs Eingangstor. Das wäre doch möglich, oder?«
Victor rieb sich die Augen. »Das Tor gab es damals noch nicht. Jake hat es einbauen lassen, als sie die Stadt verließen.«
»Dann hätte also jeder Zugang gehabt? Ich weiß, dass viele Menschen sie nicht mochten. Hatten Sie wirklich nie andere Verdächtige?«
Für einen Moment schien Victors Gesicht zu beben, als hätte jemand seinen Kopf zur Seite gerissen. Ein Licht glomm kurz in seinen Augen auf und erlosch dann wieder.
»Nein«, sagte er. »Niemand Wichtiges.«
»Jemand aus ihrer Kindheit? Aus dem künstlerischen Umfeld?«
»Ich werde keine Namen nennen«, sagte er mit seinem Polizeiton.
Bevor sie ihn weiter drängen konnte, warf er einen Blick auf die Uhr und sagte: »Gut, dann kehre ich wohl mal wieder zu meinem Alltag zurück.« Er griff nach dem Teller, dessen Plätzchenbestand Louise auffällig dezimiert hatte, und streckte ihn ihnen entgegen. »Noch einen für unterwegs?«
Nach der Verabschiedung schlenderte Louise hinaus, um Leahs neuen Mulch zu bewundern. Victor tätschelte Kate unbeholfen die Schulter.
»Sie stellen gute Fragen«, murmelte er. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht sagen konnte, was sie hören wollten.«
Obwohl er das sicher nett meinte, gefiel Kate seine Formulierung nicht. Als wäre sie ein Kind, dem eine weitere Kugel Eis verwehrt worden wäre. Sie wandte sich ihm noch einmal zu. »Was ich noch fragen wollte. Vorhin sagten Sie, dass Sie den Tod nur als Suizid einstufen konnten, wenn Sie Belege für Mirandas Geisteszustand fanden. Wie hat sich das aufgelöst? Haben Sie solche Belege gefunden?«
»Ach, das hat sich als unnötig herausgestellt.« Er winkte ab. »Wir hatten ja all ihre Fotografien. Selbstverletzung. Überall Blut. Dann ihre Einweisung in die Psychiatrie, eine lange Übersicht über verschreibungspflichtige Medikamente. Mehr Beweise brauchten wir nicht. Schlussendlich waren die Ermittlungen reine Formsache.«
Während Kate und Louise durch die rosa blühenden Büsche im Vorgarten der Velázquez gingen, sagte Louise: »Hast du seinen Gesichtsausdruck gesehen, als du nach anderen Verdächtigen gefragt hast?«
»Ja«, sagte Kate und staunte, dass ihre Tante das auch bemerkt hatte. »Weißt du, wen er meinen könnte?«
Louise schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie betrübt. »Mir ist nichts zu Ohren gekommen.«
»Wenigstens wissen wir jetzt mit Sicherheit, dass Theo sie nicht erschossen hat«, sagte Kate, hauptsächlich zu sich selbst.
Louise nickte. Dann fügte sie hinzu, als könne sie nicht anders: »Zumindest nicht versehentlich.«
»Tante Louise!« Kate blieb so abrupt stehen, dass ihre Tante in sie hineinlief. »Hast du nicht gesehen, wie Victor die Hand hielt, als er die Pistole imitierte? Ich habe Fotos von Theo in dem Alter gesehen, der war viel zu klein, er hätte die Waffe nie so hoch oben ansetzen können.«
»Ja, aber …«
»Und mal ganz davon abgesehen, gebe ich Victor recht«, fuhr Kate etwas lauter fort. »Könnte ein Elfjähriger wirklich einfach seine Mutter erschießen und dann so lügen?«
»Nein, du hast ja recht«, sagte Louise. Sie atmete auf und klatschte in die Hände. »Na, wenn das keine Erleichterung ist. So viel Aufregung um nichts.«
Kate zupfte am Ende ihres Pferdeschwanzes. »Mag sein. Und jetzt komme ich mir schäbig vor.«
Louise runzelte die Stirn. »Warum?«
»Weil ich gedacht habe, er könnte es gewesen sein.« Kate warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Kommst du dir etwa nicht schäbig vor?«
»Warum?«
»Du hast das Gerücht doch in die Welt gesetzt.«
»Ich habe kein Gerücht in die Welt gesetzt.«
»Tante Louise.«
Louise schnaubte und setzte sich wieder in Bewegung, Kate folgte ihr. So liefen sie eine ganze Weile. Louise strammen Schritts voran, die Ahornsamen knirschten unter ihren Schuhen, Kate ein Stück dahinter. Die Luft war klar und sauber, und Taglilien reckten ihre Köpfe durch die Gartenzäune. Trotzdem konnte Kate nur an den nebligen Novembermorgen vor vielen Jahren denken — Mirandas blutverklebtes Haar, die blauen und roten Lichter der Polizeistreife, die den Nebel durchbrachen.
»Die Feier zum Vierten Juli«, sagte Louise plötzlich. »Kommt Theo?«
»Keine Ahnung. Aber es ist eine Feier … wahrscheinlich also eher nicht.«
»Sorg dafür, dass er kommt. Wir sorgen dafür, dass er sich amüsiert.«
»Theo ist nicht gerade der Typ, der sich amüsiert«, sagte Kate.
»Meintest du nicht gerade, dass du dich schäbig fühlst? Ich biete dir eine Möglichkeit, das wiedergutzumachen.«
Louises Profil erinnerte Kate daran, wie ähnlich sie sich sahen. Wie sonderbar es war, seine eigenen Gesichtszüge bei jemand anderem zu sehen. Als wäre man in einem Spiegelkabinett. Eine einzige, genetische Mise en abyme. Man selbst konnte in all den Spiegelungen verloren gehen.
»Also gut«, sagte Kate. »Ich schau mal, was sich machen lässt.«