2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 9, Tagebuch (1982—1993)
9. Oktober 1983
Ich arbeite, arbeite, arbeite, pausenlos. Die Nachfrage ist groß, und Hal sagt, ich muss sie bedienen. Er sagt, man weiß nicht, wie lange man angesagt bleibt. Man soll leben, als könne man jederzeit abstürzen.
Deshalb mache ich Abzüge von früheren Arbeiten und buche Models für eine neue Serie. Ich hab eine ganze Reihe Bücher über Altägypten gelesen. Ich mag, dass die Figuren immer im Profil sind, immer vorwärts, zum nächsten Teil des Wandgemäldes ausgerichtet sind. Die Trägerin des Auge des Gottes Re ist eine Frau, die ihm entkommen und selbst Göttin werden kann. Das Auge des Re. Aber er wird wütend und verfolgt sie, bringt sie zurück, und kaum ist sie wieder sein und kontrolliert, ist die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt.
Keine Ahnung, ob die Recherche überhaupt Früchte tragen wird. Das ist eine neue Angst. Ich war mal gut darin, forsch voranzuschreiten, mich auf den Prozess zu konzentrieren, zu schaffen, zu erschaffen. Jetzt lähmt mich manchmal die Angst, alles verwerfen zu müssen. Ich fürchte mich davor, dass ganze Monate meines Lebens wieder verschwinden, ebenfalls im Nebel versinken werden.
Keine Ahnung, ob das an den Elektroschocks oder den Tabletten liegt, aber viele Tage fühlen sich leer an. Sie sind vorbei, bevor ich sie überhaupt bewusst wahrgenommen habe. Und am nächsten Tag kann ich mich kein bisschen an sie erinnern. Das gesamte letzte Jahr existiert für mich nur in Blitzen, ein Nachtclub mit schlechter Beleuchtung. Erinnerungen werden wahllos von einer Discokugel zurückgeworfen.
Ich bin nicht länger der Mensch, der ich war, aber ich bin auch nicht der Mensch, der ich gern sein wollte. Hätte man mich vor drei Jahren gefragt, wo ich mich jetzt sehe, ich hätte gesagt, ich wäre wieder dünn, hätte ein Kleinkind auf der Hüfte und würde von Ausstellung zu Ausstellung schwirren, die Augen mit Kajal geschwärzt, sarkastische Kommentare um mich werfend, und würde den Menschen beibringen, meine Kunst zu lieben.
Tja — das hat nicht geklappt.
Aber auch wenn ich nicht da bin, wo ich mich vor drei Jahren gern gesehen hätte, bin ich glücklicherweise auch nicht, wo ich vor zwei Jahren war. Und das ist eine Erleichterung.
12. November 1983
Wie spricht man danach mit anderen Menschen? Nachdem einem das Schlimmste passiert ist. Nachdem das eigene Hirn aufgedunsen ist und einen ausgerotzt hat, nichts als ein menschlicher Speichelklops. Wie spricht man mit Menschen, die immer Herrin über ihren eigenen Verstand waren?
So was haben sie uns in Nangussett nicht beigebracht.
Sie haben angenommen, wir wären pünktlich zur Entlassung wiederhergestellt.
Auf Werkseinstellung zurückgesetzt.
Und dass wir keinerlei Erinnerungen an die Zwischenzeit behielten. Keine Erinnerungen daran, dass irgendwelche unserer Teile den Dienst versagten. Keine Erinnerungen an die Schreie, die Nachtkontrollen, die Langeweile, die Einsamkeit, keine Erinnerungen daran, wie wir mit der Angst umgegangen sind, dass wir vielleicht nie wieder rauskommen würden.
17. November 1983
Jake war fleißig. Ihm wurde die Leitung eines Seminars übers Wintersemester angeboten. Eine schöne Aufgabe, aber zwischen den Sitzungen, der langen Anfahrt und der Tatsache, dass er sein Atelier dorthin verlegt hat, ist er lange fort. Abends geht er aus, geht zu Vernissagen oder Partys, trinkt, was man halt in unserer Branche so machen muss.
An den Wochenenden gehen wir zusammen auf Beerdigungen. Fünf unserer Freunde sind dieses Jahr schon gestorben. Ich trage immer dasselbe Kleid. Ziehe es an, ziehe es aus, werf es in den Korb, wasche es, häng es auf, von vorn.
Wenn Jake unterrichtet, bin ich mit Theo allein. Mir war nicht klar, wie sehr ich vorher vermieden habe, mit ihm allein zu sein. Ich trau mir einfach nicht. Jetzt sind da also diese vielen Stunden, die ich allein mit ihm bin. Unter uns wohnt ein nettes Mädchen, das auf ihn aufpasst, wenn ich in die Dunkelkammer muss. Ansonsten verbringe ich die Tage damit, ihn mit dem Kinderwagen durch die Straßen zu schieben, als würde mich das zurechnungsfähiger machen. Die Gebäude thronen um uns wie dunkle Flecken, wie Gefängnisstäbe.
Alles ist gefährlicher, jetzt wo er läuft. Ungeschickte Schritte. Vor und zurück schlingert wie ein betrunkener Matrose. Er hat Angst vor Gras — davon gibt es hier ja glücklicherweise nicht viel. Alles in der Wohnung birgt jetzt ein Risiko. Meine Mutter war zu Besuch und hat alle Tischkanten gepolstert, alle Schranktüren gesichert, sogar alle Klodeckel. Da wäre ich nicht mal im Traum draufgekommen.
Nachts schaue ich ihm beim Schlafen zu. Beobachte seinen Brustkorb, wie er sich hebt und senkt, prüfe immer wieder, dass er noch lebt. Dass ich ihn nicht getötet habe.
Ich halte eine tickende Zeitbombe, und meine Hände zittern.
Jake müsste nicht so viel unterwegs sein. Er meidet mich. Ich kann es ihm nicht verübeln. Ich habe mich verändert. Er hat sich an eine andere Miranda gebunden, die quasi nur der Lockvogel war. Jetzt hat er eine schlechtere Version. Labil. Unsicher. Mit schlabbrigem, streifigem Bauch.
Also lasse ich ihn herumstromern. Ich weiß nicht, was wir ohne ihn machen würden. Dann lieber dem Hund eine längere Leine geben als das Risiko eingehen, dass er sich ganz losreißt.
Bald ist es so weit. Wir sprechen darüber, New York hinter uns zu lassen. Im Frühling umzuziehen, ein Haus mit dem Geld von der Verleumdungsklage anzuzahlen. Jake wollte immer in den Westen, und mir gefällt die Vorstellung, am Meer zu leben. An einem Ort mit neuer Aussicht und Inspiration. Irgendwo, wo es ruhig ist, wo es mir besser gehen wird. Vielleicht kann Jake sich dann entspannen und ich wieder die Frau werden, die er geheiratet hat.