2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 9, Tagebuch (1982—1993)
4. Mai 1987
Jake kam heute mit einem Pflaster am Finger herunter. Ich fragte, was passiert sei.
Das ist ein Scherz, oder?, fragte er.
Nein, sagte ich. Wieso? Müsste ich das wissen?
Er sagte, ich wäre spät nach Hause gekommen, hätte das Abendessen verpasst, es kam zum Streit, bei dem ich seinen Finger in der Tür eingeklemmt hätte. Deshalb müsse er nun zum Arzt und um eine Schiene bitten.
Ich erinnere mich an nichts davon, was keine große Überraschung ist. In letzter Zeit vergesse ich viel von dem, was ich mache. Wichtiges und Unwichtiges. Jake erzählt mir im Nachhinein, dass ich zwanzig Stunden am Stück in der Dunkelkammer war, dass ich mich lautstark geweigert habe, zum Zelten mitzukommen, dass ich die Süßigkeiten aufgegessen habe. Ich frage nicht länger nach, wenn mir was komisch vorkommt, weil es viel zu demütigend ist, sich nicht zu erinnern.
Aber ich wünschte, ich könnte mich an den Streit erinnern. Wo kann ich gewesen sein, dass ich erst so spät wieder nach Hause kam? Vielleicht bei Kid? Oder am Strand? Vielleicht ist es dunkel geworden, ohne dass ich es gemerkt habe, nicht einmal beim Anpassen der Belichtungszeit, oder später, als ich unter einem rosafarbigen Himmel zurückfuhr.
Es tut mir leid, sagte ich.
Schon okay, sagte Jake. War ein Unfall.
28. Juni 1987
Ich denke häufig an Diane Arbus’ Porträt einer kopflosen Frau, über der ein bedrucktes Seidenlaken ausgebreitet ist. Sie sitzt in einem Lehnstuhl, gar nicht unähnlich Abraham Lincolns Denkmal in Washington. Der Stoff fließt förmlich von ihren Schultern über ihre Arme bis zum Boden — so schafft sie die Illusion der Kopflosigkeit. Alles, was man von ihr sieht, sind die Beine, Fußknöchel und Knie sind zusammengepresst, die Füße stecken in schwarzen Ballerinas. Ihre Arme wirken tot und wachsartig. Sie liegen auf den Lehnen, die Finger hängen hinunter wie elegante Würstchen. Man sieht, dass sie Brüste hat, aber sie sind sehr hoch und irgendwie unwahrscheinlich. Sie befindet sich auf einer Bühne.
Für mich ergibt das durchaus Sinn, die Frau, ein Haufen von Einzelteilen. Allerdings muss darunter wirklich eine Frau stecken. Sie schwitzt sicher unter dem Laken, der Kleidung, den falschen Schultern, die Arme verdreht, damit sie genau richtig sitzt, um den Eindruck eines Menschen zu erwecken. Arbus schreit sie an, dass sie ihre Finger natürlich aussehen lassen soll, aber sie kriegt es nicht hin.
Sie sieht wirklich kopflos aus. Aber die Brüste verraten sie.
14. Juli 1987
Hochs und Tiefs. Rauf und runter. Ich bin ein Boot auf wilder See.
Ich frage mich, ob ich falsch leide.
Ich möchte gern die glamouröse Variante leben.
Ich möchte in Schüben und Kleksen und Geistesblitzen leiden. Irgendwie mehr als nur nachts wach zu liegen und mit den Fingern die Venen entlangzufahren und mich zu fragen, welche die schwächste ist, welche als erste kaputtgehen wird.
19. September 1987
Dr. Grady hat mir neue Medikamente verordnet. Eins der bisherigen wurde zurückgerufen. Als könnte die bloße Nachricht es aus meinem Körper ziehen, könnte die Wochen und Monate und Jahre rückgängig machen, in denen ich es in meinen Blutkreislauf aufgenommen habe, in mein Gehirn. Aber nein. Das Medikament ist jetzt ein Teil von mir. Ich muss mit den Konsequenzen leben.
Das neue Medikament macht mich müde und reglos. Ich sitze stundenlang am Schlafzimmerfenster und betrachte das Meer in der Ferne oder wie die Blätter der Bäume den Himmel streifen. Der Wind wendet sie, als wären es tausend goldene Münzen. Stunden, Tage hier oben. Jake wird wütend. Er hat immer Panik, dass ich nicht genug arbeite. Als würde uns das Geld ausgehen. Dabei ertrinken wir in Geld.
Behindern die Medikamente meine künstlerische Arbeit? Schwer zu sagen. Schauen wir es uns doch mal an:
Gemacht, als ich gut war:
Capillaries
Bottle Girls
Empty Spaces
Rancid
Gemacht, als ich schlecht war:
Tricksters
Zero
Fever Dreams
Vier zu drei. Es gibt noch weitere, aber ich weiß nicht mehr, wozu sie zählen. Aber welche waren besser? Das ist echt schwer zu sagen. Vier sind nicht notwendigerweise besser als drei, wenn zu besagten dreien Fever Dreams gehören, der »derzeitige VERKAUFSSCHLAGER!«.
Hal hat gefragt, ob ich je darüber nachdenke, gar keine Medikamente mehr zu nehmen. Ob ich glaube, dass ich auch ohne sie klarkomme. Genug klarkomme, um zu überleben, schwang da mit, aber gleichzeitig bloß nicht nur noch mittelmäßige Kunst produziere.
Ich würde ihm das nie so sagen, aber ich fürchte, er hat recht. Man hört so viele Geschichten über durchgeknallte Künstler, ihre Depressionen, ihren Alkoholismus, die Frauen, die sie töten. Und die Meisterwerke, die sie in der Zwischenzeit machen. Ihr wisst, wen ich meine.
Aber das sind alles Männer. Männer sind immer besser darin, verrückt zu sein. Besser darin, Vergebung zu finden. Das Blut an ihnen darf echt, muss nicht ausgedacht sein. Sie können ge- und verkauft werden, ohne dass jemand auf den Gedanken käme, sie wären je besessen worden.
Schöpfungskraft ≠ geistige Gesundheit? Wenn die Dosis zu hoch ist, habe ich keine Energie, und meine Arbeit ist schlecht. Wenn ich zu glücklich bin, habe ich keine Perspektive, und meine Arbeit ist schlecht. Wenn ich zu abgedreht bin, kratze ich mir die Arme auf, statt Fotos zu machen, und meine Arbeit ist schlecht. Und dann nennt die Welt mich eine Mörderin, eine schlechte Mutter. Sie betrachten mich wie ein Objekt im Glas. Aber meine Kunst verkauft sich besser. Mein Name etabliert sich.
Ich muss herausfinden, was das genau richtige Maß an Verrücktheit ist.