Kate wachte früh auf, direkt aus einem schlechten Traum. Der Himmel vorm Fenster sah aus wie das Innere einer Austernschale: glänzend weiß in der Mitte, rosa an den Rändern. Kurz verwirrte sie die Anwesenheit eines anderen Menschen im Bett. Theo hatte die Laken an sich gerissen und sich darin zu einem Burrito gewickelt, das Gesicht ins Kissen gedrückt. Irgendetwas daran machte Kate verlegen, ganz so, als wäre er derjenige, der sie heimlich beim Schlafen beobachtet hatte. Sie rochen beide nach Sex. Sie musste dringend duschen.
Im Bad sah sie alles, was sie schon vor Wochen aufgesaugt hatte, als sie anfing, im Haus herumzuschnüffeln: das praktische grüne Seifenstück, die sorgfältig verstaute elektrische Zahnbürste, das Medizinschränkchen, in dem sich seine Tabletten verbargen.
Und er lag da draußen und dachte, sie hätte nichts von all dem zuvor gesehen. Dachte, er hätte sie in seine Welt gelassen, dabei kannte sie sich hier schon bestens aus.
Sie schluckte und stellte extra heißes Wasser an.
Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, kam Theo gerade zu sich.
»Psst«, machte sie, als er irgendwas Unverständliches brummte. »Schlaf weiter.«
Er streckte die Arme aus. »Du musst nicht gehen.«
»Doch, muss ich.«
Er legte die Finger um ihr Handgelenk — sie passten perfekt — und zog sie zu sich. Kate ließ sich fallen, stützte sich aber mit der freien Hand auf der Matratze ab. Sie lachte, als er sie auf den Mund, auf den Hals küsste. Im Badezimmerspiegel hatte sie dort einen Knutschfleck entdeckt, die Haut dunkelte noch nach.
»Hör auf.« Sie schlängelte sich weg. »Die Kinder werden sicher gleich wach.«
Theo ließ sich in die Kissen fallen und brummte wieder. »Himmel, die Kinder.«
Draußen empfing der Nebel Kate wie ein alter Freund. Sie wrang ihre Haare über das Verandageländer gelehnt aus und lächelte, weil die Gehwegplatten unter ihr dunkel wurden. Das Wasser brachte die verborgenen Adern des Steins zum Vorschein.
Als Kate das Haus von Louise und Frank betrat, fand sie ihre Tante nervös auf ihrem Daumennagel herumkauend vor. Morgenmantel und Lammfellschuhe. Kaum erblickte sie Kate, sprang sie auf, ihr Gesicht spiegelte pure Erleichterung.
»Gott sei Dank«, sagte sie inbrünstig. Sie ging zum Wohnzimmer und rief in den Flur: »Frank! Kate ist wieder da!«
Frank sauste in die Küche und nahm sie fest in die Arme. »Da bist du. Alles in Ordnung?«
Kate drückte ihn, war aber verwirrt. Müdigkeit überrollte sie.
»Was ist denn los?«, fragte sie. »Ist irgendwas passiert?«
»Du bist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.« Louise rang mit den Händen. Sie war ungeschminkt. Bei ihrem Anblick (die blassen Wimpern; die winzigen Blutgefäße, die sich über ihre Wangen zogen) fühlte Kate sich gleich genauso verletzlich. »Hast du unsere SMS denn nicht gesehen?«
»Mein Akku war leer. Ich dachte nicht, dass …« Sie verstummte.
Es war ihr nicht mal in den Sinn gekommen, Louise und Frank Bescheid zu geben. Aber wann auch? Hätte sie anrufen sollen, während er seinen Kindern eine Gutenachtgeschichte vorlas? Während er sie leckte? Und was hätte sie sagen sollen? Sorry, komme nicht nach Hause — ficke gerade meinen Chef?
Sie war noch so sehr das Leben in New York gewohnt, wo die U-Bahnen am Wochenende voller Menschen mit dicken Augen waren, die die Nacht durchgevögelt hatten. Immer, wenn jemand nach einer Feier oder einem Abendessen ihre Wohnung verließ, sagte sie: »Schick mir ’ne SMS, wenn du zu Hause bist«, aber die Hälfte der Leute vergaß das sofort. Das war wie ein Luftkuss: mehr Show als alles andere.
»Mir war nicht klar, dass ihr euch Sorgen macht«, sagte sie.
»Wir dachten schon, ihr hattet einen Unfall auf dem Rückweg.«
»Nein, nein, wir hatten keinen Unfall.« Kate versuchte, Ruhe zu bewahren. »Es ist einfach spät geworden, deshalb bin ich über Nacht geblieben.«
Sie starrten sie weiter an. Ob sie es wohl ausbuchstabieren musste? Oder sollte sie so tun, als hätte sie im Gästezimmer geschlafen? Das war doch lächerlich. Sie war dreißig Jahre alt. Jetzt anzufangen, über Sex zu lügen, war ein bisschen spät. Aber es zuzugeben, machte es diskussionsfähig, worauf sie absolut keine Lust hatte.
Dann, als Kate gerade kurz davor war, sich eine komplizierte Geschichte auszudenken, verstand Louise es endlich, was ihr die Röte ins Gesicht trieb.
»Okay, gut«, sagte sie schnell. »Wir hätten uns erst gar keine Sorgen machen sollen. Himmel, wir sind schon wie unsere Eltern, Frank! Geh doch mal bitte mit Olive raus. Die pinkelt gleich noch in die Ecke.«
Frank protestierte: »Aber sie war doch schon …«
Louise starrte ihn wortlos an. Frank murmelte leise aah und scheuchte Olive zur Tür hinaus. Kate wollte liebend gern in ihr Zimmer gehen, aber hatte den Eindruck, dass sie noch nicht aus dem Schneider war. Sie fasste ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, während Louise in der Küche rumfuhrwerkte. Sie richtete die Pfefferstreuer aus, steckte einen Löffel in die Schublade.
»Kate …« Dann zupfte sie das Geschirrhandtuch an der Backofentür gerade. »Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«
»Halte ich was für eine gute Idee?«
Louise warf ihr einen gequälten Blick zu. »Theo Brand.«
»Ich dachte, du magst ihn. Du hast gesagt, er war nett bei der Feier am Strand.«
»Stimmt ja auch. Aber er ist dein Chef. Deine Mutter würde …«
Kate presste die flachen Hände gegen die Oberschenkel. »Louise«, sagte sie, »ich kann gar nicht genug betonen, wie dankbar ich dafür bin, dass ich hier wohnen darf. Aber ich bin erwachsen.«
Rosa Punkte stiegen auf Louises Wangen. »Außerdem bist du meine Nichte, und ich soll auf dich aufpassen. Du hast so hart für diesen Job gekämpft. Wie geht es denn weiter, wenn das böse endet? Wenn er dich feuert oder dir kein Arbeitszeugnis schreibt? Was passiert dann?«
Wut kochte in Kate hoch. Das geht dich doch einen Scheiß an, hätte sie am liebsten gesagt. Aber das stimmte nicht ganz, schließlich wohnte sie bei ihr. Was sie an Miete sparte, blieb sie auf andere Weise schuldig.
»Ich finde es schlimm, dass er dich so ausgenutzt hat«, sagte Louise. »Besonders wenn man bedenkt, was in New York passiert ist und …«
»Bitte, Louise, hör auf.«
»Du verstrickst dich zu tief in dieser Familie.«
»Louise, bitte.«
Ihre Tante verstummte. Sie maßen sich mit Blicken. Kate konnte nicht sagen, ob Louise sich tatsächlich Sorgen um sie machte oder nur auf ihrem Recht beharren wollte.
»Ich bin müde«, sagte Kate schließlich. »Können wir da später drüber sprechen?«
Louise warf die Arme in die Luft. »Schön.«
»Gut, danke.« Kate wollte an ihr vorbeigehen, doch Louise hielt sie auf.
»Du hast da …« Sie unterbrach sich selbst, deutete auf Kates Schlüsselbein. Der Knutschfleck. Kate lief rot an, presste sich die Hand gegen den Hals und verschwand aus der Küche.
Kate schlief unruhig und wurde immer wieder wach. Müdigkeit krallte sich an ihre Augen. Die Sonne war weitergewandert, und in ihrem Zimmer war es muffig. In ihrem Traum hatte sich alles gedreht, ein farbenfrohes Karussell, von dem ihr schwindlig und sie ganz atemlos geworden war. Da sie komplett darauf lag, war ihr linker Arm taub. Sie tastete nach ihrem Handy und sah die Uhrzeit. Fast Mittag. Außerdem hatte sie einen Anruf von Natasha verpasst und dreiundzwanzig Nachrichten in einem Gruppenchat, in dem es um ein GIF mit einem niesenden Panda ging. Als sie aufstand, stolperte sie und stieß gegen die Nähmaschine in der Ecke.
Sie musste hier raus.
Louise war glücklicherweise beim Yoga, aber Frank saß im Wohnzimmer und tüftelte an irgendeinem Apparat. Auf die Frage, ob sie sich seinen Wagen borgen könne, zögerte er kurz — Kate nahm an, dass Louise ihm von der Diskussion erzählt hatte —, aber nickte dann.
Als sie im Wagen saß, versuchte sie, den Knutschfleck zu überschminken. Leider hatte sie in der Folge jedoch nur einen noch größeren, rosa Fleck am Hals, der einem unguten Ausschlag ähnelte.
Obwohl sie eigentlich zum Strand wollte oder in einen der kleinen Orte der Gegend, fand sie sich schon bald in südlicher Richtung auf der Küstenstraße wieder, das Meer hinter sich. Sie fuhr an den Abfahrten nach Muir Woods und Mill Valley vorbei, bis sie sich in den dichter werdenden Verkehr auf der 101 einreihte. Die vielen Autos machten sie wahnsinnig. Sie wollte doch schnell fahren, fliehen.
Bilder der letzten Nacht blitzten immer wieder auf. Theo über ihr. Ihr zitternder Bauch. Der sanfte Kuss, den er auf ihrer Hüfte hinterließ. Der nächste an der Innenseite ihres Oberschenkels.
Die Erinnerung an die Zärtlichkeit tat ihr körperlich weh. Theo hatte ein Stück aus ihr herausgeschnitten, sie enthüllt. Viele Menschen konnten so verletzlich sein, konnten ihr seziertes Selbst betrachten und darüber nachdenken, was sie gerade über sich lernten. Kate gehörte nicht zu ihnen. Sie brauchte noch eine Barriere dazwischen. Sie wünschte längst, sie könnte wieder zudecken, was er aufgedeckt hatte. Als wäre ihre Freude Schorf, der sich irgendwann durch den Schweiß, das Stöhnen, die Reibung gelöst hatte, und darunter war eine Wunde zum Vorschein gekommen, aus der sowohl Zärtlichkeit als auch Angst blutete.
Und Louise gab ihr die Schuld, was vielleicht sogar stimmte. Sie tat so, als könnte Kate sich aus der Sache rausziehen, was vielleicht sogar stimmte. Obwohl es sich nicht so anfühlte. Ein bisschen war es, als wären die Brands ein Planet und sie Weltraummüll, der um sie kreiste. Gebunden durch die Anziehungskraft.
Die Skyline von San Francisco und Oakland war eine Erleichterung. Schmale Hochhäuser, riesige Flachdächer, vereinzelte Neubaugebiete: alles Dinge, die sie gut kannte. Jeder zweite Wagen, der mit ihr über die Mautstraße rollte, beförderte andere Menschen mit anderen Problemen. Erst fünf, sechs Wochen weg aus New York, und schon hatte sie den Zorn der Städte vergessen, die Freude, die Wut und die Traurigkeit, die in der Luft lagen. Eine Million Herzschläge, die von Fassaden zurückgeworfen wurden. Die Wonne, im Echo anderer zu leben.
Kaum hatte sie die Brücke hinter sich gelassen, nahm sie den nächstbesten Parkplatz und holte ihr Handy aus der Tasche. Sie suchte die Tabelle heraus, in der sie Namen, Termine, Adressen und jede noch so kleine Information gesammelt hatte, die sie für das Findbuch brauchte. Sie scrollte durch, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Dann tippte sie die Adresse bei Google Maps ein, ihr Knie schlug zitternd gegen das Lenkrad. Hinter ihr ragte die Golden Gate Bridge wie ein Mund mit grellem Lippenstift in den Himmel. Oder wie eine klaffende Wunde.
Die Eggers Gallery befand sich an einer geschäftigen Straße nahe dem Union Square zwischen Luxusläden und Auslandsvertretungen europäischer Caféketten. Zwei schwarze Säulen rahmten mehrere quadratische Fenster ein. In eine riesige Metalltür waren in Gold die Initialen EG eingelassen. Die Tür sah schwer aus, weshalb Kate mit voller Kraft daran zog. Sie flog ihr entgegen, knallte ihr fast gegen den Kopf.
Eine Angestellte fing sie sofort ab.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und senkte mit verzogenem Gesicht den Blick auf Kates Brust.
Kate schaute selbst an sich hinunter und entdeckte einen Kaffeefleck auf ihrem T-Shirt. Sie konnte nicht erklären, wie er dort hingekommen war.
»Ja.« Sie rubbelte erfolglos an dem Fleck. »Ich suche Hal Eggers.«
»Dies ist seine Galerie.«
»Ich weiß. Ist er da?«
»Haben Sie einen Termin?«
»Nein.« Kate fiel ein, dass Sonntag war. »Aber ich arbeite für Theo Brand.«
Der Gesichtsausdruck der Angestellten änderte sich.
»Oh«, sagte sie plötzlich viel freundlicher. »Und Ihr Name ist?«
»Kate Aitken.«
»Ich bin Samantha. Ich schau sofort, ob er abkömmlich ist.«
Während Samantha über ein Haustelefon, das versteckt in einer Nische hing, zu Hal Kontakt aufnahm, schaute Kate sich in der Galerie um. Im Hauptraum befanden sich auffällige Ölgemälde, darunter das sicher zwei Meter lange Porträt eines Mannes in Gefängniskleidung und ein Raster aus bunten Quadraten, vermutlich ein echter Ellsworth Kelly. In der Ecke hing eine Schlinge, darunter türmte sich kunstvoll zerbrochenes Glas.
»Djiamnolski«, sagte die Angestellte und stellte sich neben Kate. »Tschechischer Künstler, noch ganz neu, aber sehr talentiert. Mr Eggers hat ihn selbst vor ein paar Jahren in Basel entdeckt. Mittlerweile ist er weltweit recht bekannt, aber er bleibt der Galerie treu.«
»Konnten Sie Hal erreichen?«
»Er ist in fünfzehn Minuten hier. Normalerweise trifft er keine Besucher, aber für Theo hat er selbstverständlich immer Zeit. Er hat gesagt, ich soll Sie derweil ein bisschen herumführen. Gibt es die Arbeit eines bestimmten Künstlers, für die Sie sich interessieren?«
»Haben Sie noch Arbeiten aus den 1980ern? Von Kunstschaffenden aus Mirandas Umfeld?«
»Aber natürlich. Hal vertritt sie alle.«
Samantha ging voran durch eine Reihe von Räumen in einen hellen Bereich, der durch ein Oberlicht erleuchtet wurde. In der Ecke stand ein Pärchen mit einem anderen Angestellten. Sie unterhielten sich leise über eine Skulptur von der Größe einer Lego-Figur. Samantha zeigte Kate Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Kindern, die im Harlem der 1980er spielten, psychedelische Fingermalereien, Standfotos einer Frau bei einer Vorführung, in weiße Laken gehüllt. Zum Schluss kamen sie vor einer Aufnahme zu stehen, die Kate kannte: Miranda, die durch einen Türrahmen trat. The Threshold.
Samantha sagte: »Eins meiner Lieblingsstücke.« Was sie bereits über mehrere der Exponate gesagt hatte.
»Verkaufen Sie noch viel von ihr?«, fragte Kate.
»Wir könnten viel mehr verkaufen, wenn noch mehr Abzüge am Markt wären. Viele wurden von Museen angekauft oder ihre Besitzer halten sie als Geldanlage. Ihr Wert steigert sich weiter — was sehr interessant ist, denn andere Kunst der Achtziger kommt heute nicht mehr so gut an.« Samantha fügte hinzu: »Wenn Sie für Theo arbeiten, wissen Sie vermutlich, dass er gerade den Nachlass in Callinas zum Verkauf vorbereitet. Ich schätze, Hal hofft darauf, dass er dort oben noch ein paar Abzüge findet.«
»Drücken wir die Daumen«, sagte Kate. Dann nickte sie zu The Threshold. »Wie viel ist das denn wert?«
»Das Bild? Also, es stammt aus der zweiten Auflage, und es ist leider an einer Ecke beschädigt. Das kann man bloß gerade wegen des Rahmens nicht sehen. Dieses Foto verkauft sich sehr gut. Wir verhängen keine festen Preise für Stücke dieser Art, aber ich schätze, es wird gut und gern vierhunderttausend Dollar einbringen.«
»Du lieber Himmel.«
»Ja, nicht? Jetzt stellen Sie sich mal vor, wie es mir dabei geht. Ich muss schließlich damit arbeiten!«
Kate lächelte ein bisschen unbeholfen und wandte sich dem nächsten Stück zu.
»Das ist von Jake«, sagte Samantha, die ihr folgte. »Fishing.«
Das Gemälde war etwa einen Meter hoch und anderthalb breit, es bestand aus geometrischen Formen in grünlichen Gelbtönen. Die Farbe war eben aufgetragen, sehr genau, man konnte keinen Pinselstrich sehen, jeder war glatt. Darauf war ein Junge zu sehen, der auf mehreren Steinen stand und mit einem Arm einen zappelnden Fisch in die Luft hielt. Die Winkel stimmten alle nicht ganz, weshalb das gesamte Bild einen krummen Eindruck machte. Je länger man es betrachtete, desto grausamer wurde es, desto übler wurde einem. Desto mehr fühlte man sich wie der Fisch, der um Sauerstoff rang.
Da fiel Kate auf, dass der Junge etwa acht Jahre alt sein musste: so alt wie Theo in der Geschichte war, die er ihr letztens erzählt hatte. Allerdings hatte er in seiner Version den Fisch nicht berührt, und er hatte überlebt.
»Die Perspektive soll so sein«, erklärte Samantha, die ihren Gesichtsausdruck wohl falsch deutete. »Jake hat damit gespielt, den Betrachter gern verwirrt. Ich glaube, dies ist eins seiner erfolgreicheren Werke. Angeblich ist der Junge Theo nachempfunden.«
So viel war an den vergangenen beiden Tagen passiert, dass Kate das Tagebuch fast vergessen hatte, aber jetzt, mit Blick auf das Gemälde, fiel ihr der letzte Eintrag von Miranda wieder ein. Sie hatte mit Jake darüber gestritten, dass er Nangussett gemalt hatte. Kunst soll dir Angst machen.
Sie fragte: »Steigert sich auch Jakes Wert immer noch?«
Samantha schien ihre Worte mit Bedacht zu wählen. »Also, ich schätze, die meisten Kritiker wären sich einig, dass sie von beiden den größeren Einfluss hatte. Wir bei Eggers lieben Jakes Werke aber alle sehr. Wahrscheinlich müssen wir nur abwarten, bis sein Ansatz wieder in Mode kommt.«
Kate wollte gerade eine weitere Frage stellen, als jemand hinter ihr freudig rief: »Kate Aitken!«
Ein eierförmiger Mann mit sehr dünnen Beinen kam auf sie zu, als wäre sie eine alte Freundin. Sein Anzug war aus beigefarbenem Leinen; seine Krawatte und seine Brille waren beide neongelb.
»Hallo, hallo, hallo«, flötete Hal. »Ms Aitken. Wie schön, Sie bei uns zu haben. Wie ich sehe, haben Sie schon eine unserer großartigen Mitarbeiterinnen kennengelernt?« (Offenbar war ihm Samanthas Name entfallen.) »Entzückt, Sie in der Eggers Gallery begrüßen zu dürfen.«
Er sprach schnell, dehnte aber die Vokale. Ein bisschen wie Kennedy auf Speed. Er tupfte sich mit einem Taschentuch, auf das selbstverständlich seine Initialen gestickt waren, den Schweiß von der Stirn, griff dann nach ihren Händen und tänzelte einmal um sie herum. Hinter der jovialen Fassade lauerten bohrende Blicke.
»Nun«, sagte er. »Wie kann ich dieser liebreizenden jungen Dame behilflich sein?«
Kate ging davon aus, dass er sie meinte, verstand allerdings nicht, wieso er sie in der dritten Person ansprach. Behutsam löste sie ihre Hände aus den seinen.
»Ich würde gern ein bisschen mit Ihnen über Mirandas Arbeit sprechen«, sagte sie. »Könnten wir dazu vielleicht in Ihr Büro gehen?«
»Selbstredend, selbstredend. Möchten Sie einen Espresso?«
»Äh, gern.«
»Wunderbar. Schätzchen« — damit meinte er Samantha, an deren Namen er sich offenbar immer noch nicht erinnerte —, »würdest du uns zwei Espresso bringen?«
Sein Büro lag im hinteren Teil der Galerie mit Blick auf einen Garten voller Zitronenbäume. Unbezahlbare Kunst zierte die Wände. Kate entdeckte das unübersehbare Blau von Yves Klein in einer Ecke, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf Hal richtete. Er wies ihr einen niedrigen Ledersessel zu und setzte sich selbst auf den gegenüberliegenden, wo er lässig die Beine überkreuzte.
»Also, Ms Aitken. Sie möchten über Mirandas Arbeit sprechen.«
»Und ihr Leben«, sagte Kate. »Theo hat mich angestellt, um ihm beim Sortieren des Nachlasses in Callinas zu helfen. Ich gehe dort alle Papiere und Dokumente durch. Versuche, Namen zuzuordnen etc.«
»Ja, selbstverständlich. Theo hat erwähnt, dass er sich Hilfe geholt hat. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie mühsam das ist. Miranda hat ja ziemlich gehortet. Und? Was haben Sie bisher gefunden?«
Ein unterschwelliges, habgieriges Funkeln in seinen Augen. Kate öffnete gerade den Mund, wurde aber von einem sanften Klopfen unterbrochen. Samantha huschte mit zwei winzigen Tassen mit Goldblattverzierung inklusive passender Untertassen herein und stellte sie auf den Tisch.
»Ihrer ist mit Zucker«, sagte sie zu Hal. An Kate gerichtet: »Möchten Sie auch Zucker? Oder etwas Milch?«
»Nein danke.«
»Ja, danke. Du bist ein Goldschatz«, stimmte Hal zu. Viel zu überschwänglich. Das hatte langsam was von Machtspielchen. Ob mit ihr oder Samantha, konnte sie nicht sagen.
Als die Tür sich wieder hinter Samantha schloss, sagte Kate: »Ich sollte eins klarstellen, ich bin nicht hier, um über bestimmte Fotos zu sprechen, das obliegt allein Theo. Ich habe nur ein paar Fragen zu Miranda und ihrem Leben. Damit ich besser einordnen kann, was ich finde.«
»Selbstverständlich.« Hal griff mit einem höflichen Lächeln nach der Tasse. »Ich helfe gern. Deshalb wollte ich ja wissen, was sie bisher entdeckt haben.«
»Nun, ich weiß, dass Sie lange mit ihr zusammengearbeitet haben. Sie haben sich viele Briefe geschrieben. Ich glaube, von Ihnen habe ich bisher die meisten Briefe in der Hand gehabt.«
Hal nickte. »Miranda hat das Telefonieren gehasst. Außerdem war sie ein bisschen vergesslich, besonders nach Nangussett. Da waren Briefe das bessere Medium, damit sie sich an alle Absprachen erinnern konnte.« Er lachte. »Der Briefträger war sicher ihr häufigster Besuch. Oder wie sagt man heute? Postangestellter? Mein Alter schimmert durch.«
»Ich habe ein paar Briefe gefunden, in denen Sie sie ermuntern wollten, über ihr Leben zu schreiben. Eine Art Memoir. Hat sie das umgesetzt?«
Hal schenkte ihr ein geduldiges Lächeln. »Ach, Schätzchen, wenn Miranda je so etwas wie Memoiren geschrieben hätte, meinen Sie nicht, dass Sie davon wüssten? Wir hätten sicher eine Million Exemplare verkauft. Die wenigsten wissen das, aber Miranda konnte schreiben.«
»Hat sie denn je darüber nachgedacht, etwas zu schreiben?«
»Ich hebe alle Briefe auf. Ihre müssten auch noch irgendwo sein. Wenn Sie möchten, kann ich Fotokopien für Sie anfertigen lassen. Dann können Sie selbst lesen, was sie auf die Frage geantwortet hat. Was sich aber recht gut mit wenigen Worten zusammenfassen ließe: Fick dich.«
»Danke, das würde mich sehr interessieren.«
»Dann gebe ich das an einen meiner Mitarbeiter. Was möchten Sie sonst noch wissen?«
So viel. Die Neugier überwältigte Kate, drängte tief aus ihrem Innern herauf, drängte ihre Verwirrung über das, was vergangene Nacht mit Theo passiert war, beiseite … drängte alles beiseite. Das Zittern war zurück, das Zittern, das ihre Knochen zu Blättern im Wind machte. Aber sie musste vorsichtig sein. Hal spielte gern mit anderen. Und er mochte das Gefühl, die Oberhand zu haben.
»Hören Sie zu«, sagte Kate im gleichen bedachten Ton, den er genutzt hatte. »Ich will ehrlich sein. Theo hat mich bei vielen der Dokumente um eine Einschätzung gebeten. Ob er sie verkaufen oder einfach spenden soll. Was mit den Fotos passieren soll, die wir gefunden haben …«
Hal setzte sich auf. »Die kann er unmöglich einfach spenden. Was ist mit Mirandas Testament?«
Kate zuckte mit den Schultern. »Das kenne ich nicht. Ich weiß nur, was Theo mit mir bespricht. In meinen Augen ist das eher eine moralische Frage. Was soll ich ihm raten, wenn ich nicht weiß, was Miranda gewollt hätte? Ich weiß ja nicht mal, wie sie gestorben ist.«
»Was meinen Sie? Sie hat sich erschossen. So ist sie gestorben. Das können Sie ganz leicht googeln.«
»Hat Sie das überrascht? Haben Sie das kommen sehen?«
Hal seufzte und stellte die Espressotasse ab. Sie klapperte auf dem Glastisch. »Ms Aitken.«
»Nennen Sie mich gern Kate«, sagte sie, lächelnd.
Er winkte ab. »Kate. Eins müssen Sie verstehen. Miranda hatte schon immer … Schwierigkeiten. Nach Nangussett wurde es schlimmer. Schon damals, als ich sie für uns gewann, sie arbeitete gerade an den Capillaries, war sie anstrengend. Komplett auf ihre Arbeit konzentriert. Nichts anderes zählte. Viele Kunstschaffende sind so. Aber glauben Sie, sie arbeiten allein? Tun sie nicht. Dafür gibt es mich. Ich bin Therapeut. Boxsack. Nach ihrer Entlassung aus Nangussett haben sich ein paar von Mirandas Neigungen verschlimmert. Sie hat mich im Dunkeln gelassen. Manchmal hab ich monatelang nichts von ihr gehört, hab ihr Schecks geschickt, ohne einen Piep zu hören. Und dann, voilà, lagen plötzlich zwanzig neue Abzüge vor der Tür. Manchmal stimmte sie einer Vorlesung zu und sagte dann in letzter Minute ab. Also, ja, ihr Tod hat mich überrascht. Alles, was sie tat, hat mich überrascht. Was es wenig überraschend machte.«
Kate wurde unsicher. Sie wünschte, sie hätte ein Notizbuch mitgebracht, damit ihre Hände etwas zu tun hatten.
»Ich habe eins von Jakes Bildern da draußen gesehen«, sagte sie und deutete in Richtung Galerie. »Ihn haben Sie auch vertreten, oder?«
»Ja.«
»Wie war er so?«
Wieder seufzte Hal. Kate hatte den Eindruck, dass sie ihn allmählich langweilte. »Enthusiastisch. Lebendig, charmant. Wirklichkeitsfremd. Er hat den Kunstmarkt nicht so verstanden wie Miranda. Dabei war Miranda nicht mal am Kunstmarkt interessiert«, erklärte er, »aber sie hat ihn verstanden. Jake war ein bisschen größenwahnsinnig. Er wollte mich permanent dazu bringen, die Preise für seine Gemälde anzuheben. Ich glaube, er hatte einen Komplex, weil Miranda so viel erfolgreicher war, und er dachte, wenn ich die Preise anhebe, könnte er sich einen Namen machen.« Hal grinste schief. »Dabei hatte Miranda seinen Namen schon gemacht. Ehrlich gesagt glaube ich, manchmal hat er es bereut, dass sie seinen Namen angenommen hat. Es war nämlich ein sehr guter Name, sehr gut zu vermarkten. Aber als er erst einmal mit Miranda verbunden war, ließ er sich nie wieder von ihr entkoppeln. Wie dem auch sei, ich konnte jedenfalls die Preise für seine Kunst nicht willkürlich anheben. Ich habe ja auch einen Ruf zu verlieren. Man muss auf Nachfrage reagieren, und seine Kunst war nicht wirklich gefragt. Erst als er anfing, Nangussett zu malen.«
Kate spitzte die Ohren. Der letzte Tagebucheintrag. Eigentlich hatte sie vor ihrem Ausflug recherchieren wollen, ob das Gemälde, über das Jake und Miranda gestritten hatten, je fertiggestellt oder verkauft worden war. Aber dann kam gestern und ihr war alles entfallen.
»Haben Sie die gesehen? Nein?« Hal stand auf und trat an eins der Regale. Dann zog er einen schmalen Band heraus. »Dies ist die einzige Arbeit, die je über Jakes Werk veröffentlicht wurde. Keine große Auflage. Und der Großteil seiner Nangussett-Bilder stehen in einem Tresor in der Schweiz — ein chinesischer Sammler hat sie vor etwa zehn Jahren gekauft, hielt sie für eine gute Investition. Kluger Schachzug. Das sind vermutlich Jakes wertvollste Arbeiten. Ah, hier.«
Er hatte die Seite gefunden, die er gesucht hatte, und legte das Buch aufgeschlagen vor Kate auf den Tisch. Ihr Kopf summte, überreizt von Koffein und dem grellen Licht, das aus dem Garten hereinfiel, deshalb dauerte es einen Moment, bis sie begriff, was sie da sah. Ganz wie bei dem Bild in der Galerie war auch hier die Perspektive irgendwie ganz krumm, der Boden verschob sich seitlich. Es fühlte sich an wie seekrank werden, aber sie konnte den Blick nicht abwenden.
»Haben die Zimmer wirklich so ausgesehen?«, fragte sie.
»Ich gehe davon aus. Ich weiß, dass er Miranda besucht hat.«
»Das ist …« Sie suchte nach dem richtigen Wort. Gut war zu fröhlich. Düster war zu simpel. Übelkeitserregend klang wie Kritik. Interessant bedeutete nichts.
Hal schien trotzdem zu verstehen, was sie meinte. »Es ist nicht nur der Voyeurismus, der diese Gemälde so begehrt macht«, sagte er. »Es ist tatsächlich seine beste Arbeit.« Er klappte das Buch wieder zu, ging zu seinem Tisch und legte es darauf. »Aber die meisten Menschen sind da wie Sie. Sie interessieren sich wegen Miranda für ihn. So war das schon immer, seit die Capillaries so erfolgreich wurden. Das war hart für ihn. Und für sie.«
»Wieso war das hart für Miranda?«
»Ich glaube, sie hat sich für seine Unzufriedenheit verantwortlich gefühlt. Sie wollte, dass er Erfolg hat.«
»Hat sie Ihnen Druck gemacht, seine Arbeit zu verkaufen?«
Hal lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme, wodurch sein teurer Anzug sich bauschte.
»Wieso all die Fragen?«
»Nun ja, die sind Teil meines Jobs.«
»Sind sie das? Sie sind keine Journalistin mehr.«
»Nein, aber …« Kate verstummte. Sie hatte nicht erwähnt, dass sie mal Journalistin war.
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Hal. »Als Theo erzählt hat, dass er jemanden angestellt hat, hab ich ein bisschen recherchiert. Schließlich würden Sie es mit vielen Fotografien zu tun haben. Ich habe Theo sogar gebeten, einen Mitarbeiter meiner Galerie zu nehmen, jemanden, der sich mit Konservierung auskennt, aber er wollte nicht.« Spitz fügte er hinzu: »Wer weiß, in welcher trostlosen Verfassung die Fotos hier eintreffen werden.«
Kate wurde wütend. »Ich war sehr vorsichtig«, sagte sie. »Ich habe mal in einem Museum gearbeitet und …«
»Ich weiß, dass Sie Ihre letzte Anstellung verloren haben, weil Sie gefeuert wurden«, sagte Hal.
Ein kalter Schauer überlief sie. Vor dem Fenster zwitscherte es. Ihr Blick zuckte kurz dorthin, dann wieder zu Hal. Vögel im Garten. Ihre wurde vage bewusst, dass ihr Mund offen stand. Irgendwie schaffte sie es, ihn zu schließen.
»Okay«, sagte sie.
»Haben Sie Theo davon erzählt?«
»Ja.«
»Alles?«
»Ja.«
Er wusste, dass sie log.
»Vielleicht sollten Sie das«, sagte er. »Denn, Sie hier zu sehen … Ich kenne Leute wie Sie. Klarer Blick, hoch konzentriert, besessen. Ist Ihnen klar, dass Ihr Bein wippt, seit wir uns unterhalten?«
Kate schaute hinunter und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass er recht hatte. Sie legte eine Hand auf ihr Bein, damit es zur Ruhe kam.
»Das hat nichts mit Ihnen zu tun«, sagte sie.
»Und doch sitzen Sie in meinem Büro«, erwiderte er langsam, als würde er mit einem Kleinkind sprechen. »Fragen nach einer meiner besten Klientinnen. Wollen mehr über ihre Ehe erfahren, ihre Geheimnisse. Selbstverständlich hat das mit mir zu tun.«
Seine herablassende Art machte sie noch wütender. Sie wollte ihm sagen, dass sie genauso wusste, wer er war. War doch egal, ob er mit ihren alten Kollegen oder sogar Leonard gesprochen hatte. Sie hatte seine Briefe an Miranda gelesen. Dreißig, vierzig, fünfzig Offenbarungen von ihm. Alles seine eigenen Worte. Sie hatte was in der Hand.
All das hätte sie ihm entgegenschleudern können, aber das Gespräch mit Louise hatte sie erschöpft, und jetzt war sie abgelenkt, weil sie damit beschäftigt war, ihr Bein vom Zittern abzuhalten und langsam zu sprechen. Er hatte ihre Vergangenheit nur zur Sprache gebracht, um ihr zu zeigen, wer die Kontrolle hatte. Wenn sie zum Gegenschlag ausholte, würde er sich an Theo wenden und ihm erzählen, was sonst noch in der Redaktion gelaufen war. Nur eben in der Version, die er kannte. Und auch wenn er die richtigen Einzelheiten kannte, war das eine Geschichte, die Kate selbst erzählen wollte.
»Es tut mir leid«, sagte sie also und versuchte, untergeben zu klingen. »Sie haben recht. Sie tun mir einen großen Gefallen, indem Sie überhaupt mit mir sprechen.«
Hal legte den Kopf schief. »Wieso sagen Sie mir dann nicht einfach, wieso Sie wirklich hier sind und an einem so schönen Sonntag über so deprimierende Sachen reden wollen?«
Die Vögel schrien wieder vor dem Fenster. Ihr Espresso hatte zu dampfen aufgehört. Kate biss sich auf die Lippe, lehnte sich vor.
»Ich bin hier«, sagte sie, »weil ich glaube, dass Miranda ermordet wurde.«