2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 9, Tagebuch (1982—1993)
12. Dezember 1987
In dem Restaurant, wo ich gekellnert habe, hing ein Schild im Pausenraum. LÄCHELN = TRINKGELD. Also hab ich gelächelt, Pflaster auf die Blasen geklebt, fünf Cola Light pro Schicht getrunken, um wach zu bleiben, mein Trinkgeld gezählt und gelächelt, gelächelt, gelächelt.
Heutzutage gibt es keinen Anlass zum Lächeln: Ich brauche kein Trinkgeld mehr, und die Leute erwarten nicht, dass ich glücklich bin. Im Gegenteil, je mehr ich lächle, desto verwirrter sind sie. Ich hab letztens versucht, nett zu einer von Theos Lehrerinnen zu sein, und ich schwöre, die ist fast weggerannt.
Natürlich ist es schön, nicht auf Trinkgeld angewiesen zu sein. Es ist schöner, nicht immer buckeln zu müssen. Aber mir fehlt, dass niemand zurücklächelt. Ich hab immer was von ihrem Glück abbekommen. Wie diese Staffelstäbe, die man bei Wettkämpfen weiterreicht. Manchmal wünsche ich mir einfach, dass jemand, irgendjemand, mir einen Staffelstab reicht.
19. Februar 1988
Jake hat seit Monaten nichts verkauft. Ich muss vermutlich nicht erwähnen, wie wütend er ist. Seit Tagen trampelt er durchs Haus. Wenn sich unsere Wege kreuzen, habe ich das Gefühl, einen wilden Bären aufzuscheuchen. Sofort geht er mit ausgefahrenen Krallen auf mich los.
Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn er so ist. Er hasst es, wenn ich zurückschreie, und er hasst es, wenn ich zu leise bin. Also experimentiere ich mit Abstufungen. Jedes Mal passe ich den Ton ein bisschen an. Wie ein Regler an der Stereoanlage, Stück für Stück.
Irgendwann werde ich genau den richtigen Ton finden und mit einem Strich markieren, damit ich ihn sofort und jederzeit wiederfinde. Dann habe ich die gute Seite meines Mannes zurück, und alles wird leicht.
8. März 1988
Jakes Laune schlimmer denn je. Er war letzte Woche in der Galerie und hat gesehen, dass das Gemälde, das er Hal geschickt hat, nicht mal ausgestellt war. Totale Katastrophe. Wildtiermodus.
Ich verbringe meine Tage in der Dunkelkammer. Arbeite, bis mir die Augen brennen und die Trockenleine voll ist. Wenn Theo nicht in der Schule ist, setzte ich ihn mit Legosteinen unter einen der Tische, wo er im Dunkeln kleine Figuren baut. Als ich Kid davon erzählte, fragte er, ob die Chemikalien nicht schlecht seien für Kinder. Vermutlich sind sie das. Aber ich will nicht, dass Theo Jake in die Quere kommt, wenn er so ist. Heute hab ich ihm sicherheitshalber ein Tuch vors Gesicht gebunden. Hab ihm erzählt, wir spielen Räuber und Gendarm.
14. März 1988
War heut mit Hal essen. In einem Restaurant in der Nähe der Galerie. Weiße Tischdecken, Wein und Wasser in passenden Kristallkelchen. Hals Geschmack ist teuer geworden, seit wir reicher sind. Er hat Tintenfisch bestellt, der in seiner ursprünglichen Form kam. Kopf abgehackt, acht Tentakel über den Teller ausgebreitet, baumelten bis über den Rand. Winzige Saugnäpfe, gerollt und gebräunt.
Ich hatte um das Treffen gebeten. Hatte angerufen und behauptet, über die Ausstellung in Nebraska sprechen zu wollen. Natürlich war das nicht der wahre Grund. Als der Tintenfisch nur noch vier Tentakel hatte, fragte ich Hal, warum er Jakes Bild noch nicht verkauft hatte.
Hal sagte, niemand habe Interesse an dem Bild. So was sei gerade nicht gefragt, außerdem sei es nicht ausreichend ausgearbeitet. Er klang nicht weiter beunruhigt.
Sag ihm, er soll mir was Neues schicken, meinte er.
Was Neues?
Irgendwas, woran er grad arbeitet.
Er arbeitet gerade an nichts.
Das ist sein Problem, sagte Hal. Er muss schneller werden. Du musst ihn bei den Schultern packen und ihn schütteln. Ihm sagen, dass er was auf die Leinwand bringen muss. Irgendwas.
Ich bin doch nicht dafür zuständig, dass Jake arbeitet, sagte ich.
Da hast du recht, sagte er. Bist du nicht. Warum sprechen wir also darüber? Warum sprichst du nicht von DEINER Arbeit?
Unmöglich, das zu beantworten, ohne dass mir das alles um die Ohren fliegt. Fenster zerbersten in Tausende Splitter, wer kann, sucht Schutz, bevor die Bombe hochgeht.
Pass auf, sagte ich zu Hal. Was kannst du für das Ding verlangen? Zehntausend?
Mehr oder weniger.
Okay, dann sagen wir zwölf.
Er zögerte. Was?
Ich kaufe es. Zieh zwölftausend von meinem nächsten Scheck ab, bevor du ihn mir schickst, und gib das Bild einem deiner Praktikanten oder — nein, lass das. Verbrenn es. Zerstör es.
Hal starrte mich einen Moment lang an.
Du kannst doch nicht einfach zwölftausend Dollar aus dem Fenster werfen, sagte er.
Mach ich ja nicht. Ich werfe sechstausend aus dem Fenster. Und dann schickst du Jake seinen Anteil und behauptest, dass es ein Sammler aus der Schweiz oder aus China gekauft hat.
Miranda, wir dokumentieren doch alles, es gibt Regeln …
Das heißt, du kannst das nicht? Muss ich mir einen anderen Kunsthändler suchen?
Er lief rot an. Wir arbeiten von Anfang an zusammen, sagte er. Seit acht Jahren.
Ja, sagte ich. Wenn das zu lang ist, gib mir Bescheid.
»Wir arbeiten von Anfang an zusammen« ist einer von Hals Lieblingssätzen. Vermutlich will er, dass in den Museen sein Name direkt neben meinem steht. Dabei arbeitet niemand von Anfang an mit mir zusammen außer mir selbst.
Ich will dir nur helfen, sagte Hal. Das ist eine schlechte Geschäftsentscheidung.
Ach ja? Ich griff nach meiner Gabel. Dass ich dabei war, das Problem zu lösen, machte mir Appetit. Wenn du nicht damit rechnest, dass du das Bild verkaufst, dann könnte man auch sagen, dass ich dir sechstausend Dollar schenke. Meinem treuen Vertreter. Ich lächelte ihn mit vollem Zahneinsatz an. Sieh es als Weihnachtsprämie.
Es ist März, sagte er.
Gemma Linsdale von Koyo hat mir letzte Woche Blumen geschickt. Sie möchte mich gern abwerben. Vielleicht täte mir ein Perspektivwechsel ganz gut?
Hal schob den Teller weg. Er war so wütend, er aß nicht mal alle Tentakel auf.
Also gut, sagte er. Ich mach das. Aber du musst deine Ehe wieder hinkriegen, Miranda. Sonst wird Jake der Nagel zu deinem Sarg.