Montagmorgen betrat Kate den feuchtkalten Flur der Brands mit einem Kloß im Hals. Während sie ihre Turnschuhe abstreifte, hörte sie Schritte die Treppe herunterpoltern. Theo tauchte am unteren Ende des dunklen Treppenhauses auf, trug wie üblich Jeans und T-Shirt. Kate hatte den ganzen Weg lang über die Situation nachgedacht, sie gedanklich gerechtfertigt, sich mögliche Verläufe dieses Gesprächs vorgestellt. Doch jetzt, als er so vor ihr stand — ein Lächeln umspielte seine Augen, weiche Baumwolle spannte sich über seine breiten Schultern —, stieg ihr Verstand aus. Sie erinnerte sich daran, dass sie Samstagnacht in seinem Bett gelegen hatte, verflüssigt, schweißnass. Trompeten quäkten aus dem Lautsprecher. Ein schmaler Riss an der Decke, der sich wie eine Ader verzweigte. Er hatte mit dem Daumen über ihre nackte Schulter gestreichelt. Einmal, zweimal — ihre erschöpften Nerven zuckten jedes Mal. Jetzt steckten seine Hände in den Hosentaschen, trotzdem brannte jede ihrer Zellen, als hätte sie auf eine heiße Herdplatte gefasst.
»Hallo«, sagte er.
»Hallo«, sagte sie. »Wie geht es dir?«
»Gut. Dir?«
»Gut.«
Verlegen blieben sie eine Weile so stehen. Kate verlagerte ihr Gewicht von rechts nach links, nach rechts. Ihre Tasche schlug dabei jedes Mal gegen ihre Hüfte. (Die blaue Nacht, der Geschmack seines Schweißes.)
Schließlich brach Theo das Schweigen. »Kaffee?«
»Gern«, sagte sie dankbar.
In der Küche setzte sie sich an den Tisch, während er die Kaffeemaschine startete. Ihn beim Kaffeekochen zu beobachten hatte etwas Intimes, denn er schien es nicht wirklich gut zu können. Erst fand er die Filter nicht; dann öffnete er die Kaffeepackung am falschen Ende. Die Küche wirkte altmodischer denn je. Ausnahmsweise herrschte kein Morgennebel, und das ungehindert einfallende Sonnenlicht betonte jeden Riss der Bodenfliesen, jeden Zentimeter dunkel verfärbter Fugenmasse.
»Entschuldige, dass ich mich gestern nicht gemeldet habe«, sagte Theo und schüttete Kaffeepulver in den Filter, ohne es abzumessen. »Ich wollte eigentlich. Aber dann dachte ich — keine Ahnung. Irgendwie erschien es mir besser, wenn wir persönlich sprechen.«
»Finde ich auch«, sagte sie. Das Verfassen heikler Nachrichten am Morgen danach gehörte zu ihrem Leben in New York. Was hätte sie auch schreiben sollen? Trotzdem gefiel ihr nicht, wie deutlich er jedes Wort betonte, als würde er vor dem Spiegel Sprechen üben. Sie hatte das eindeutige Gefühl, dass ihr ein einstudierter Vortrag drohte.
Er startete die Maschine, drehte sich um und stützte sich mit den Händen auf die Arbeitsfläche hinter ihm. Seine Miene war unergründlich.
»Keine Ahnung«, wiederholte er. »Ich war wohl zu feige.«
Kates Kehle wurde eng. Je mehr er sprach, desto schlimmer klang das alles.
»Spuck’s doch einfach aus.« Sie hörte die Härte in ihrer Stimme. »Du willst nicht, dass es noch mal passiert.«
»Nein, Moment.« Sofort wirkte er beunruhigt. »So meinte ich das gar nicht.«
Er ließ von der Arbeitsfläche ab und setzte sich zu ihr an den Tisch.
»Ich bin dein Chef«, sagte er. »Und ich mache mir Sorgen, dass … Na, das ist schon eine moralische Zwickmühle, oder?«
Er wirkte aufrichtig besorgt. Am liebsten hätte Kate gesagt, darüber hättest du vielleicht besser vorher nachgedacht, aber sie wusste ja, dass er das getan hatte. Das hatten sie beide. Aber sich darauf vorzubereiten, die Hürde zu überspringen, ließ die Hürde ja nicht verschwinden.
»Ich war gestern bei Hal«, sagte sie.
Theo wirkte verwirrt. »Bei wem?«
»Hal Eggers. Dem Kunsthändler deiner Eltern.«
»Oh.« Stirnrunzeln. »Warum?«
»Ich hab Samantha kennengelernt.«
»Hm?«
»Hal hat gesagt, du warst mit ihr zusammen.«
Nun war es Theo, der unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte. »Ja, kurz.«
»Und da gab es keine moralische Zwickmühle?«
»Nun, sie war keine meiner Angestellten.«
»Und die Kuratorinnen des SF MOMA? War das moralisch vertretbar?«
Jetzt wirkte Theo verärgert. »Hat Hal dir eine Liste mit den Namen aller Personen gegeben, mit denen ich in den letzten zwei Jahren geschlafen habe?«
»Klang so, als wäre das eine sehr lange Liste.«
Theo schwieg einen Moment lang. »Ich weiß nicht, was du jetzt hören willst«, sagte er schließlich. »Nach der Scheidung hab ich mich ein bisschen ausgetobt. Hast du Angst, dass ich das jetzt gerade auch mit dir mache?«
»Ich möchte eigentlich nur darauf hinweisen, dass da ein Muster zu sein scheint. Du schläfst mit Frauen in Positionen unter dir.«
»Nein.« Theo klang verärgert. »Mit keiner dieser Frauen habe ich zusammengearbeitet. Okay, kennengelernt habe ich sie quasi durch meine Eltern. Ich muss gerade eine Menge regeln durch den Nachlass, im Moment komme ich fast ausschließlich darüber mit anderen Menschen in Kontakt. Sonst halt nur auf der Arbeit oder durch Jemima und Oscar. Aber ich habe noch nie mit einer Angestellten geschlafen. Bis jetzt.«
»Ich soll mich also für was Besonderes halten?«
»Ja.« Farbe trat auf seine Wangen. »Du bist was Besonderes. Ich dachte, das hier wäre einvernehmlich.«
Im Hintergrund gurgelte die Kaffeemaschine, und langsam füllte die Küche sich mit dem gewohnten Geruch. Kate betrachtete seine Hände, die auf dem Tisch lagen — stark, gebräunt, eckig geschnittene Nägel —, und dann ihre eigenen, blasser, kleiner, ein blauer Tintenfleck auf einem der Knöchel von einem kaputten Stift in einer von Mirandas Kisten.
Dann stöhnte sie und verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Tut mir leid«, sagte sie durch die Finger. »Es ist einvernehmlich. Ich habe keine Ahnung, warum ich dir hier die Hölle heiß mache. Ich glaube, ich bin einfach nur nervös.«
»Wegen dem, was in der Redaktion passiert ist?«
»Vielleicht. Nein, glaube ich nicht.« Sie holte Luft und hob den Kopf. »Vielleicht habe ich einfach nur Angst. Hast du keine Angst?«
»Doch, natürlich.« Er zögerte. »Ich will nicht, dass du irgendwas tust, das du nicht hundertprozentig willst. Davor hab ich eigentlich die meiste Angst. Wenn du so tun willst, als wäre das am Samstag nicht passiert — dann machen wir das. Jederzeit. Sieh es als stehendes Angebot. Wir machen, was immer du willst.«
Was immer du willst. Gab es überhaupt etwas, das sie nicht wollte? Sie wollte alles.
Sie wollte mit ihm vögeln und trotzdem bezahlt werden, aber eben nicht fürs Vögeln. Sie wollte, dass jemand kam und ihr ganzes Leben einfach wieder geradebog, außerdem wollte sie auf eigenen Füßen stehen und so selbstbewusst auftreten, dass alle anderen die Blicke abwandten. Sie wollte all seine Geheimnisse wissen und keins ihrer eigenen preisgeben.
Sie wollte, dass die ganze Welt sich ihr öffnete, mit all ihren Versprechen und Wesen, wimmelnd von jedem noch so kleinen Verlangen, das sie seit dem Moment verfolgte, als sie zum allerersten Mal die Augen öffnete und verschwommene Farben zu Formen wurden.
Sie wollte alles.
Aber sie wusste, dass sie nicht alles haben konnte. Nicht alles und nicht für immer. Und doch, in diesem Moment, verharrend auf der Schwelle, ja oder nein, wurde eine Stimme in ihr laut: Wieso sollte sie es nicht versuchen? Andere machten das doch auch.
Natürlich war er zu gut für sie. Doch wenn man einen Diamanten auf der Straße entdeckte, warf man ihn dann in den Rinnstein, damit jemand anders ihn fand? Nein. Man nahm ihn fester in die Hand. Und hielt ihn so lange, wie man konnte.
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, stand sie auf und ging zu ihm. Während er sie noch überrascht ansah, schwang sie ein Bein über ihn und setzte sich rittlings auf ihn. Oberkörper an Oberkörper, Stirn an Stirn. Sie war zu nah, um zu sehen, dass Verständnis seine Gesichtszüge klarte, aber sie spürte es, weil seine Muskeln und Schultern sich entspannten und seine Hände, diese Hände, sich auf ihre Taille legten.
Sie musste an ihre erste Begegnung im Garten denken. Dieses Gefühl. Damals dachte sie, es war Angst. Aber vielleicht war es ein viel tiefer gehender Schreck.
»Hi«, sagte er, doch sie presste ihren Mund auf seinen, bevor er überhaupt zu Ende sprechen konnte.
Schweiß, Körperwärme. Der späte Morgen vor den Fenstern warf ein Sonnenquadrat auf das Bett, wo sie lagen und wieder zu Atem kamen. Theo hatte seit Samstag keine frischen Laken aufgezogen, was Kate — normalerweise Waschfanatikerin — merkwürdig beruhigend fand. Sie mochte es, besser zu sein als er, selbst wenn es nur um so was Banales wie Wäsche waschen ging.
»Ich hoffe, dir ist klar, dass ich das nicht zu meinen Arbeitsstunden zähle«, sagte sie und legte ihr Kinn auf seinen Unterarm. »Grundregeln.«
Theo zögerte kurz, nickte dann. »Grundregeln«, sagte er. »Und wenn Jemima und Oscar da sind, bleiben wir …«
»Diskret.«
»Erst mal.«
Erst mal ließ Kate an die Zukunft denken, was sie gar nicht wollte.
Theo musste ihr Unbehagen gespürt haben, denn er wechselte sofort das Thema. »Du hast gestern also Hal kennengelernt.«
»Ja.«
»Und? Was hältst du von ihm?«
Kate dachte kurz nach. »Klug«, sagte sie dann. »Und aalglatt. Er ist total aufgesetzt und zieht eine Masche ab, aber die Masche wirkt eher wie ein Witz.«
Theo nickte. »Ich glaube, der will gern als künstlich wahrgenommen werden. Irgendwie finde ich das sogar ganz gut. Man weiß, woran man ist. Er benutzt dich, aber macht kein Geheimnis daraus.«
Kate fand nicht, dass Hal so offen war, wie Theo ihn darstellte. Aber sie wollte nicht das Gegenteil behaupten.
»Warum warst du überhaupt bei ihm?«, fragte Theo.
Sie drehte den Kopf, um ihn anzusehen. Sein Gesichtsausdruck war aus diesem Winkel schwer zu deuten, aber seine Frage schien beiläufig. Er selbst schaute an die Decke und streichelte dabei über ihren Arm. Weil sie nicht sofort antwortete, senkte er den Blick zu ihr, plötzlich konzentrierter.
»Kate?«
Es wäre ein Leichtes gewesen, zu lügen. Sie hatte ihn schon so häufig angelogen. Aber sie war noch immer ganz aufgewühlt vom Sex, wie ausgewrungen. Sie schob sich hoch und lehnte sich gegen das Kopfende.
»Theo«, sagte sie, »hast du je darüber nachgedacht, ob deine Mutter vielleicht ermordet worden sein könnte?«
Die Wörter klangen so sonderbar, so weit weg, als sie aus ihrem Mund kamen. Theo blinzelte einmal, zweimal, dann wurde er sehr ernst.
»Nein«, sagte er ausdruckslos. »Nie.«
Sie wusste schon, dass sie einen Fehler gemacht hatte, trotzdem hakte sie nach. »Ehrlich nicht? Du hast doch sicher auch mitbekommen, dass es ein paar Ungereimtheiten gab, oder?«
»Hast du gerade die Doku geguckt, oder was?«
»Nein. Also, doch, hab ich. Aber das ist nicht der Grund für meine Frage.«
Er schwang die Beine über die Bettkante. Kate fuhr fort: »Das, was ich in ihrem Nachlass finde … Sie macht einfach nicht den Eindruck, als würde sie sterben wollen.«
»Nicht? Du weißt schon, dass sie zwei Monate in der Psychiatrie war, weil sie mich erwürgen wollte, oder?«
»Ja, weiß ich. Ich finde nur … Würdest du mich ansehen?«
Er drehte sich zu ihr. Seine Rückenmuskulatur bewegte sich. Aber er drehte sich nicht ganz zu ihr, sie konnte ihn nur im Profil sehen, noch dazu saß er durch das Fenster im Gegenlicht.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte damit kein schwieriges Thema ansprechen. Ich wollte dir nur erklären, was der Grund für meinen Besuch bei Hal war. Ich wollte ihn kennenlernen. Wollte wissen, ob er …«
»Und? Meinst du, er war’s?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie wahrheitsgemäß.
Theo seufzte. Er blieb einen Moment lang so sitzen, als würde er über das nachdenken, was sie gesagt hatte. Oder sich fragen, was er erwidern sollte. Dann fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und stand auf.
»Meine Mutter wurde nicht ermordet«, sagte er. »Und ich möchte darüber nicht mehr sprechen. Ich gehe duschen.«
Mit diesen Worten verschwand er ins Bad und ließ Kate allein im Bett zurück. Sie verschränkte die Beine und lehnte sich mit ausgestreckten Armen vor, dehnte den Rücken. Ihr BH hing am unteren Ende des Bettes, sie angelte nach dem Träger und zog ihn an. Sie kam sich sonderbar nackt vor, fast als wäre sie noch nie hier gewesen, obwohl sie ja seit Wochen die Nachmittage direkt neben diesem Bett verbrachte. Neben diesem Nachttisch. Sie fuhr mit dem Finger über die Maserung der Schublade. Sie konnte Mirandas Tagebuch fast spüren.
Nein, sie riss die Hand zurück. Wenn das mit Theo weitergehen sollte, dann musste sie aufhören, hinter seinem Rücken rumzuschnüffeln. Himmel, vor gerade mal fünfzehn Minuten hatten sie noch miteinander geschlafen; jetzt duschte er nebenan.
Aber.
Ihre Fragen zu seiner Mutter hatten ihn aufgewühlt. Doch sie hatte völlig falsch angesetzt. Ohne jeden Beweis. Er wusste nicht, dass sie das Tagebuch las. Dass sie Informationen von Victor hatte, dass sie das starke Gefühl hatte, dass Miranda etwas zugestoßen war. Nur eindeutige Beweise hatte sie nicht. Sie hatte nicht mal einen konkreten Verdacht. Der letzte Tagebucheintrag hatte ihr nicht gefallen, der Streit zwischen Jake und Miranda darüber, dass er Nangussett malte. Aber ein Streit sechs Jahre vor Mirandas Tod war alles andere als ein eindeutiger Beweis. Wenn sie wollte, dass Theo ihr glaubte, musste sie ihren Verdacht untermauern und ihn zu einem besseren Zeitpunkt vorbringen, nicht unmittelbar nach dem Sex, sondern wenn sie einander besser kannten. Und sie musste alles wissen, was er wusste — was bedeutete, dass sie erst einmal das Tagebuch zu Ende lesen sollte.
Die Toilettenspülung rauschte, dann wurde das Wasser in der Dusche aufgedreht. Kate hielt einen Augenblick lang den Atem an, dann schnaubte sie ungeduldig und lehnte sich vor, um die Schublade zu öffnen. Vielleicht reichte es, das Tagebuch nur zu sehen. Sich daran zu erinnern, dass es da war.
Sie hatte die Schublade so oft aufgezogen, kannte den Inhalt so gut, dass es einen Moment dauerte, bis sie begriff, dass etwas anders war. In der einen Ecke lag immer noch das zusammengerollte Gummiband, dieselbe verbogene Haarklammer, dreckig an den Enden … und sonst nichts.
Das Tagebuch war fort.