Während der Juli in den August überging, veränderte sich Kates Tagesablauf, ein bisschen wie eine Seifenblase, die in der Luft eine neue Form annahm. Wie automatisch hatte sich eine Art Fahrplan zwischen Theo und ihr herausgebildet. Sie arbeiteten den Vormittag über konzentriert an ihren Projekten und verbrachten die Mittagspause im Bett. Trotz der Regelmäßigkeit fühlte der Sex sich spontan, dringlich und neu an. Danach blieben sie lange liegen und sprachen über alles und jedes, Hauptsache, es hatte nichts mit seinen Eltern zu tun — wie sie in der Highschool gewesen waren, wohin sie schon gereist waren, ob sie an Gott glaubten. Essen wurde zur Nebensächlichkeit: kalte Sandwiches über Tabellen gebeugt, Proteinriegel auf dem Heimweg.
»Ich habe seit drei Tagen weder Obst noch Gemüse gegessen«, sagte sie einmal. »Ich werde der erste Mensch der Welt sein, der von Sex Skorbut bekommt.«
»Faulendes Fleisch«, sagte Theo. »Geil.«
»Das wäre Lepra.«
»Lecker.«
Am nächsten Tag fand sie eine Orange auf dem Esstisch vor. Ein unförmiges Ding mit Dellen wie ein Golfball, das fast glühte. Die erste Spalte war saftig, fast scharf — wie flüssiges Gold.
Es war ihr unheimlich schwergefallen, Theo nicht sofort, als er mit einem Handtuch um die Hüften und nach hinten gekämmten Haaren aus dem Bad kam, zur Rede zu stellen und zu fragen, was er mit dem Tagebuch angestellt hatte. Auf den Schock über das Verschwinden folgte sofort ein Gefühl der Angst — wusste er, dass sie darin gelesen hatte? War es deshalb nicht mehr im Nachttisch? —, was wiederum, im Laufe der nächsten Tage, einer gewissen Entschlossenheit wich. Wenn er davon gewusst hätte, hätte er das sicherlich nicht unkommentiert gelassen. Wahrscheinlich hatte er es aus einem anderen Grund weggelegt, vielleicht um es außerhalb von Oscars und Jemimas Reichweite zu lagern. Ihre Aufgabe blieb davon unberührt: Sie wollte herausfinden, was Miranda zugestoßen war.
Der Verlust des Tagebuchs war nicht das Ende der Welt, das war Kate bewusst. Es gab doch ein ganzes Zimmer voll mit Jakes und Mirandas Unterlagen, vieles davon noch unsortiert. Jeden Tag fand sie neue Fotografien, neue Briefe, neue Dokumente. Für die Archivarin das, was für andere das Herumrollen in Hundertdollarnoten war. Eigentlich kam es dem sogar ziemlich nah, wenn man sich überlegte, was der ganze Kram wert war. Aber es half nichts, sie vermisste das Tagebuch. Es war so ordentlich gewesen, so chronologisch, und sie hatte schon fast alles gelesen, es fehlte nicht mehr viel. Manchmal hatte sie den Eindruck gehabt, je näher sie dem Ende kam, dem verhängnisvollen 16. November 1993, desto mehr Tempo nahmen Mirandas Einträge auf. Als hätten sich Licht- und Schallgeschwindigkeit umgekehrt, und Kate konnte den Schuss schon in der Ferne hören wie ein Donnergrollen und wartete nur auf das Aufblitzen nach dem Abfeuern der Patrone.
Sie fragte sich, ob Miranda diese Tempoverschärfung auch bemerkt hatte. Ob sie gewusst hatte, dass sie auf ihren Tod zusteuerte und wer dafür verantwortlich war.
Kate spürte eine ähnliche Zuspitzung. Ihr Arzt hatte endlich das Rezept gefaxt, aber als sie bei der Apotheke gewesen war, um ihre Tabletten abzuholen, erklärte der zuständige Mitarbeiter, dass sie den Freibetrag ihrer Versicherung ausgeschöpft habe und Kontakt zu ihrem Anbieter aufnehmen müsse, damit dieser bei der Versicherung um eine Ausnahme bitten könne. Oder aber sie zahle den Betrag aus eigener Tasche. 1240 Dollar für einen Monat Tabletten. Er nannte die Summe, ohne zu blinzeln, zuckte nicht mal mit der Wimper, als Kate ein kurzes, krächzendes Lachen ausstieß. Also verließ sie die Apotheke mit leeren Händen. Rief bei ihrem Arzt in der Praxis an, hinterließ eine Nachricht. Sicher musste sie sich wieder ein paar Tage gedulden, bis sie eine Rückmeldung bekam. Aber so schlimm würde das schon nicht werden. Sie hatte schließlich den Großteil ihres Lebens keine Medikamente genommen.
Und gerade schien sich ja alles zu ordnen. Kates Körper schien beschleunigt, fast leuchtend, ihre Bewegungen schneller denn je. Auch sie steuerte auf ihre Zukunft zu. Zuversicht in ihr Schicksal erfüllte sie. Zum ersten Mal seit langer Zeit war Kate sich sicher, dass alles gut werden würde.
Die Welt jenseits des Brand-Hauses war nicht ganz so friedlich. Waldbrände wüteten im gesamten Bundesstaat, gewaltig, unkontrollierbar, zerstörerisch. Die Bilder der Brände dominierten die Lokalnachrichten: Hügel, durch die sich orangerote Flammen fraßen und verkohlte Erde hinterließen. Wohnwagen schmolzen zu metallischen Pfützen. Menschen verbrannten bei lebendigem Leibe in ihren Autos. Je nachdem wie der Wind stand, konnte man den Rauch riechen. Es roch anders, als Kate angenommen hätte: nicht wie Lagerfeuer, sondern wütend und beißend, als hätte der Grad der Verwüstung den Geruch beeinflusst. Von hier oben konnte man gut die graue Linie erkennen, die am Horizont hing. Ein unsichtbar lauerndes Monster.
Callinas war nicht bedroht, trotzdem sprachen die Einwohner pausenlos über die Brände. Wie viel Land schon verloren war, welche Rettungsmaßnahmen getroffen wurden, welche Gebiete verschont wurden und welche bereits in Schutt und Asche lagen. Die Fragen nach den Brands ließen nach, der grenzenlose Hunger ihrer Mitmenschen nach Tragödien war durch andere Brände gestillt, Miranda kurzzeitig vergessen.
Obwohl Kate die Nachrichten verfolgte, verwirrte sie das plötzliche Desinteresse an Miranda. Nach ihrer Ankunft war sie nur so gelöchert worden, und jetzt, als sie endlich die vorherrschende Besessenheit mit dieser Künstlerin nachvollziehen konnte und einen lockereren Umgang mit der Verschwiegenheitsklausel in Erwägung zog, wollte plötzlich niemand mehr etwas wissen. Wenn sie im Pawpaw’s saß, legte sie kleine Köder mit Informationen aus, deutete ihre neuesten Funde an, doch Nikhil zuckte nur mit den Schultern und wechselte das Thema.
Selbst Frank und Louise stellten keine Fragen mehr. Louise war noch immer wütend wegen des Streits und warf Kate permanent anklagende Blicke zu, und Frank umschiffte alles, was mit den Brands zu tun haben könnte, wie ein Kapitän, der einem Eisberg auswich.
Als Friedensangebot half Kate ihrer Tante bei der Organisation einer Sammelaktion für die Feuerwehr. Die halbe Stadt beteiligte sich, und schon bald war das Wohnzimmer prall gefüllt mit Sonnencreme, Tüchern, Gatorade. Eines Morgens scrollte Kate mit Franks iPad durch die Lokalnachrichten und las vor: »Die Feuerwehr bittet darum, von weiteren Spenden abzusehen.«
Louise schaute von einem Haufen Verbandsmaterial auf. »Wie bitte?«
»Es heißt hier, sie sind vollkommen überfordert und schaffen nichts mehr. Statt zwischen den Schichten zu schlafen, sind sie damit beschäftigt, die Spenden umzulagern.«
»Wir haben so viel hingeschickt, dass wir sie lahmgelegt haben«, sagte Louise stolz. Dann schaute sie sich im Wohnzimmer um, und ihr Lächeln erstarb. »Und was machen wir jetzt damit?«
Tüten voller noch nicht durchgesehener Sachspenden standen überall. Auf einem Stuhl türmten sich die Vaselinedosen. Es erinnerte ein bisschen an das Esszimmer der Brands, aber auch nur, weil besagtes Esszimmer mittlerweile präsentierbarer aussah, dank Kates neuer Energie.
»Keine Ahnung«, sagte Kate. Sie steckte die Hände in die Taschen und holte tief Luft. »Louise? Was ich schon länger fragen wollte … Hast du meiner Mutter davon erzählt?«
»Wovon?« Louise war noch immer von der Unordnung abgelenkt.
»Von mir und Theo.«
Louise schaute kurz zu ihr. »Nein.«
»Ich bekomme ganz sonderbare Nachrichten von ihr. Sehr viele Nachrichten.«
Kate hatte nach dem Aufwachen gleich drei SMS von ihrer Mutter vorgefunden:
Hallo, wie geht es dir heute?
Hast du endlich die Tabletten bekommen, du hattest doch Probleme mit dem Rezept??
Wahrst du PROFESSIONELLEN ABSTAND von der Arbeit??
»Nein, das hat nichts mit mir zu tun«, sagte Louise. »Vielleicht gibt es einen anderen Grund für ihre Sorge. Wahrscheinlich ist sie nur aufmerksam, achtet auf Warnzeichen.«
»Was denn für Warnzeichen?«
»Du weißt schon.«
»Wieso?« Kates Stimme war anklagend. »Siehst du etwa irgendwelche Warnzeichen?«
Louise hob die Hände. »Keine Ahnung, Kate. Dafür kennen wir uns nicht gut genug.«
Der Kommentar saß. Dass Kate die Kluft zwischen ihr und ihrer Tante bewusst war und außerdem, wie wenig Zeit sie vor diesem Sommer miteinander verbracht hatten, war das eine, aber dass Louise das jetzt laut aussprach, war etwas anderes. Kate fühlte sich gleichzeitig schuldig, aber auch verletzt. Als wären all ihre bisherigen Bemühungen — all die gemeinsamen Erledigungen, die vielen Episoden von Madam Secretary, all die Male, die sie Frank dabei geholfen hatte, seine bescheuerten Kabel zu entwirren, oder Louises rücksichtslose Kommentare ignoriert hatte — nicht gesehen worden. Überschattet von ihren kleinen Fehltritten: die Male, als sie später nach Hause kam, weil sie noch im Pawpaw’s eingekehrt war, oder als sie Louise gesagt hatte, sie solle Theo in Ruhe lassen, oder als sie sich nicht telefonisch abgemeldet hatte. Kate fragte sich, welche Formel man anlegen musste, wie man Aufopferung und Egoismus gegenrechnete. Gäbe es doch nur eine Tabelle, der sie entnehmen könnte, wer hier recht oder unrecht hatte.
»Wenn ich wieder da bin, helfe ich dir, eine Lösung für den ganzen Kram zu finden«, sagte sie.
»Schön.« Ihre Tante wedelte sie zur Tür hinaus. »Viel Spaß bei der Arbeit.« Das letzte Wort trug eine Spur Bitterkeit, als hätte Louise nach der Hälfte des Satzes gemerkt, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen war.