2. Teilbestand, Persönliche Dokumente
Karton 9, Tagebuch (1982—1993)
24. Februar 1991
Letztens lief im Fernsehen ein Bericht über misshandelte Frauen.
Bin ein bisschen enttäuscht von mir, dass ich mich kaum an die befragten Frauen erinnere. Mir ist eigentlich nur der Reporter im Gedächtnis geblieben. Er hat ihnen allen mit solcher Geschicklichkeit ihre Geschichten entlockt. Eine Frage, noch eine Frage, noch eine Frage, und dann flutschte die Geschichte fast von selbst heraus wie so ein Blutpfropf nach dem Nasenbluten. Talentierter Mann. Konnte auf Kommando weinen. Als kämen ihm beim Entfernen ihrer Blutpfropfen die Tränen. Ich persönlich wäre nicht überrascht, wenn er nach Hause käme, seinen braunen Ledergürtel abnehmen und damit seine Frau schlagen würde. Ich nehme an, dass in den meisten Ehen geschlagen wird.
Ich habe versucht, Lynn telefonisch zu erreichen. Aber immer geht Candace dran, und immer hat sie eine Ausrede parat. Lynn ist bei der Arbeit, Lynn ist gerade laufen, Lynn ruft zurück.
Candace, ich kenne Lynn länger als du. Ich kenne sie, seit wir jung waren, und besser kann man niemanden kennen, als lange bevor das Leben an dir herumnagt und den noch rauen Umrissen Konturen verleiht. Ich kannte Lynn, als wir noch Lehm waren. Deshalb weiß ich, dass Lynn mich in nächster Zeit nicht zurückrufen wird.
Ja, das, was ich an Thanksgiving zu ihr gesagt habe, war grausam. Das bestreite ich nicht. In Menschen wie mir schwillt die Grausamkeit an wie Gezeiten aus Blut, drückt in unseren Köpfen. Der Druck ließe sich nur ablassen, indem man ein Loch bohrt. Lynn würde das nicht verstehen, aber Jake sicher. Er muss dasselbe fühlen, wenn er mich schlägt. Wie kann ich ihm das vorwerfen, wo ich doch weiß, dass ich genauso bin?
Es gibt keine guten Opfer. Gibt es nicht. Egal in welchen Menschen man auch eintauchte, sich durch alle Schichten ins Innerste zwängte, wenn sie dich rausholten, dich zwischen Daumen und Zeigefinger genau betrachteten, sie würden erkennen, dass du den Schmerz nicht wert bist. Unsere Vergangenheit hat sich wie Granatsplitter in uns gebohrt. Sie zerfetzt uns von innen.
3. Mai 1991
Theos Schule hatte so einen Tag, wo Eltern vorbeikommen und über ihren Job reden. Ich mache bei so was nie mit, aber Theo hat mich darum gebeten. Die Augen groß und fragend, der Blick verriet: Du machst das eh nicht.
Der Gedanke war furchteinflößend. Seine Lehrerin wollte, dass ich mich vor die ganze Klasse kreischender Kinder stelle, von ihren Eltern ganz zu schweigen, um vor ihnen allen zu scheitern, damit sie all ihren Freunden davon erzählen konnten.
Aber ich musste es versuchen. Theo hatte mich darum gebeten.
Ich habe es bis zur Schule geschafft, was eine größere Leistung ist, als diesen Idioten bewusst sein dürfte. Ich zitterte, geriet innerlich aus den Fugen. Ich gab der Lehrerin, verdammte Cassie Davenport, meine Dias, sagte Bitte schön und versuchte, nicht in Schweiß auszubrechen. Sie hielt sie gegen das Licht und betrachtete sie mit verkniffenen Augen. Dann ließ sie den Arm sinken und schaute mich mit zusammengepressten Lippen an.
Miranda, die können Sie den Kindern nicht zeigen.
Gibt es keinen Projektor?
Es gibt einen Projektor. Sie gab mir die Dias zurück. Aber die sind unangemessen.
Das ist Kunst. Kunst sprengt Grenzen.
Sie sind anstößig.
Da ist keine Gewalt zu sehen. Ich habe extra die mit dem Blut aussortiert.
Ja, aber Sie sind nackt. Das geht zu weit.
Ich stand da an der Tafel und spürte, wie wütend ich wurde. Ich wollte sie schütteln. Dieses ganze Gelaber, dass die Leute ausgeglichene Kinder großziehen wollen. Alles muss natürlich sein, keine Chemikalien, keine künstlichen Farbstoffe, immer schön handgewebte Halstücher tragen, von denen jedes zweihundert Dollar kostet. Und die kommen an und sagen, Brüste sind zu viel für ihre Kinder.
Das hat nichts mit Ihnen zu tun, sagte sie. Sie können auch ohne Dias was erzählen.
Ein Mund wie ein Krokodil. Die Kinder kamen nach und nach herein. Theo stand in der Tür. Sein Gesicht so voller Hoffnung.
Nein, sagte ich schließlich. Mein Kopf explodierte in fürchterlichen Schmerzen. Ich schätze, das kann ich nicht.
Ich blieb nicht, um mir anzuhören, was die anderen Eltern zu sagen hatten. Oder um mir Theos Gesicht anzusehen. Ich ging zu Fuß nach Hause. Ich bekam Blasen in meinen Schuhen, ich hatte extra neue Schuhe gekauft für diese Arschlöcher, dabei hat niemand auf meine Füße geachtet.
Als ich Jake davon erzählte, sagte er: Ich weiß nicht mal, warum sie dich überhaupt gefragt haben. Keine deiner letzten Arbeiten taugt was.
4. Mai 1991
New York zu verlassen, habe ich als Möglichkeit zu verschwinden gesehen. Ich dachte, ich könnte die Kunst machen und sie zur Interpretation freigeben. Die Menschen sehen lassen, was immer sie darin sehen wollten — ohne mich als Ablenkung. Ich wollte die Blicke von mir abwenden. Ihre fieberhaften, kratzenden Blicke. Ich dachte, die Fotos würden ihnen standhalten. Sie waren schließlich hinter Glasscheiben. Von Sicherheitspersonal geschützt.
Aber selbst nach all diesen Jahren im Exil ist es egal, wo ich hingehe, wo über eine Ausstellung mit Fotos von mir geschrieben wird, immer steht dort direkt — Miranda Brand, die Einsiedlerin. Miranda Brand, die Verrückte. Mein Plan ist nach hinten losgegangen. Die Fotos können mir nicht entkommen.
Ich mache mir Sorgen darüber, was ich hinterlasse, wenn ich sterbe.