Kate hörte mitten im Satz auf zu sprechen. Sie schielte zu ihrer Tante, die sie mit einem für sie ungewöhnlich ernsten Blick ansah. Ihre Hände waren erstarrt, verharrten mit Messer und Gabel über dem abkühlenden Thunfischauflauf.
»Was ist?«, fragte Kate.
»Nichts.« Louise regte sich noch immer nicht. »Ich kann dir nur nicht folgen.«
Kate wurde ungeduldig. »Was genau ist denn unklar?«
»Na, dieses Tagebuch, von dem du sprichst«, sagte Louise. »Ist das von Miranda? Sie hat das geschrieben? Und du hast es gesehen, aber jetzt ist es weg?«
Eigentlich wollte Kate Frank und Louise nicht erzählen, was sie in Kids Wohnwagen erfahren hatte. Aber kaum hatten sie sich zum Essen hingesetzt, wollte Frank wissen, wo sie mit dem Auto gewesen war, und plötzlich hatte es sich einfach bescheuert angefühlt, die beiden anzulügen. Louise war ihre Tante, was konnte schon passieren, wenn sie es im Ort rumtratschte? Bis Theo die Geschichte aus irgendeiner Richtung zu Ohren kam, hatte Kate sicher herausgefunden, was wirklich mit Miranda passiert war, und ihm selbst alles erzählt. Sie war so dicht dran: Sie hatte die Auflösung praktisch schon auf der Zunge, ein rostiger, schwerer Geschmack wie von altem Blut.
Sie brauchte nur noch wenige weitere Informationen, und wenn die jemand für sie auftreiben konnte, dann Louise.
Also hatte Kate bei den Fotos angefangen, die sie von Kid und Miranda gefunden hatte, dann erzählt, was Kid über Jake und die Polizei berichtet hatte, und dann war sie irgendwie auf das Tagebuch gekommen. Aber als sie sich jetzt mit der verwirrten Miene ihrer Tante konfrontiert sah, bereute sie es, den Mund überhaupt geöffnet zu haben. Die Sache war viel zu kompliziert, um sie an einem Abend zu erklären. Louise kam nicht mit.
»Theo hat das Tagebuch weggetan, bevor ich damit fertig war«, sagte Kate. »Aber ich weiß nicht, ob er wusste, dass ich darin lese. Vielleicht hat er es aus einem anderen Grund weggetan.«
»Aber seid ihr beide nicht, also, irgendwie zusammen?«, fragte Frank.
»Doch. Wie dem auch sei«, Kate wandte sich wieder an Louise, »viel wichtiger ist, was Kid mir heute erzählt hat. Dass Jake Miranda verletzt hat. Hast du davon schon mal was gehört?«
»Nein«, antwortete Louise. »Und von dieser Sache mit der Polizei habe ich bisher auch noch nichts gehört. Allerdings würde ich auch alles, was Kid sagt, mit Vorsicht genießen. Der hat ein ziemliches Aggressionsproblem.«
»Ich hab seine Aussage geprüft«, erwiderte Kate. »Er war bei der Beerdigung seines Vaters, als Miranda starb.«
Mithilfe der Log-in-Daten für NYU Law, die Natasha ihr vor Jahren mal gegeben hatte, hatte sie die Nachrufe der Zeitungen Iowas rund um Mirandas Todesdatum geprüft. Thomas Wormshaw war offenbar in DePront bekannt genug gewesen, um einen recht ausführlichen Bericht in The DePront Daily News zu rechtfertigen, in dem auch die ergreifende Grabrede seines Sohns Erwähnung fand.
»Aber du hast recht«, fuhr Kate fort. »Ich brauche weitere Informationen. Ich würde gern morgen Nachmittag noch mal bei Victor vorbeischauen. Du kannst gern mitkommen«, fügte sie großzügig hinzu.
Louise warf ihrem Mann einen Blick zu, der allerdings mit seinem Handy beschäftigt war und nicht auf ihre Kontaktaufnahme einging. Keine große Überraschung. Kate hatte schnell begriffen, dass Frank gern die Vogel-Strauß-Methode anwandte. Beim kleinsten Anzeichen einer Auseinandersetzung vertiefte er sich in den nächstgelegenen Apparat.
»Nein danke«, sagte Louise zu Kate.
»Ich wollte nicht nur über Kids Vernehmung sprechen«, sagte Kate. »Das interessiert mich auch, aber vielmehr will ich wissen, warum sie nicht gegen Jake ermittelt haben. Letztes Mal hat er erzählt, was für ein toller Typ Jake war, aber gab es da wirklich nicht mehr? Hatten sie irgendwas, das ihn entlastet hat? Was, wenn Miranda …«
»Ich will nichts mehr über Miranda hören, okay?«, sagte Louise laut. »Bitte, lass uns das Thema wechseln.«
Das war wie ein Schlag für Kate. Sie wich zurück und starrte Louise an. Louise hatte den Blick auf den Teller gerichtet. Eine ganze Weile lang war das einzige Geräusch das digitale Klicken von Franks Handy.
»Frank«, sagte Louise gepresst. »Ich dachte, wir waren uns einig: Kein Sudoku am Esstisch.«
»Ich mache kein Sudoku.« Frank schaute sie verletzt an. »Ich habe nur nachgesehen, ob schon der Gewinner der Kajakverlosung bekannt gegeben wurde.«
»Und?«
»Ich war’s nicht.« Frank schaltete das Handy aus und steckte es in die Tasche. »Aber solche Aktionen sind sowieso manipuliert.«
Kate marschierte die Straße auf und ab, wenige Häuser von Frank und Louise entfernt. Die Hitzewelle hatte vor ein paar Tagen endlich nachgelassen, jetzt war die Luft kalt und durch die hohe Feuchtigkeit dicht wie eine Mauer. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würde ihr jemand eisige Finger in die Nasenlöcher schieben. Obwohl es fast dunkel war, hatte sie sich weit genug entfernt, damit ihre Tante sie nicht durchs Fenster beobachten konnte, weil ein Rankgitter mit Clematis ihr den Blick verstellte. Sie brauchte einfach einen Moment für sich, mehr nicht. Louise und Frank hatten bis zum Ende des Essens nur noch über diese bescheuerte Verlosung gesprochen. Kate hätte am liebsten geschrien: Du hast nicht gewonnen, vergiss es doch. Aber sie hatte all ihre Kraft zusammengenommen, sich beherrscht und ihnen für gefühlte Stunden gelauscht, obwohl sie eigentlich nur Ruhe zum Nachdenken wollte.
Jetzt war sie hier draußen, kaute auf ihrem Fingernagel und lief auf dem holprigen Weg hinter dem Rankgitter auf und ab. Victor war bei ihrem ersten Besuch freundlich gewesen, und sie glaubte, er würde ihr mehr über die Ermittlungen, vielleicht sogar die Vernehmung erzählen, wenn sie nur die richtigen Fragen stellte. Wer sagte schon, dass sie damals nur die Körperverletzung vertuscht hatten? Vielleicht war das nur ein Teil der Geschichte. Vielleicht wusste die Polizei, wer Miranda ermordet hatte, und Kid war von Anfang an nur ein Bauernopfer gewesen. Das Ganze konnte natürlich auch eine Masche gewesen sein, um Jake zu decken — Jake, naheliegender Täter und trotzdem irgendwie unantastbar, wie eine automatische Schiebetür, die sich sofort zur Seite bewegte, wenn man sich ihr näherte.
»Scheiße«, sagte sie laut, presste sich die Hände gegen die Schläfen und beugte sich vornüber. Alles drehte sich, ihr war richtig schwindelig. Die vielen Möglichkeiten und Theorien drehten sich so schnell, dass ihr davon schlecht wurde. Als würde ihr Körper all das Wissen abstoßen, oder vielmehr all das Nichtwissen.
»Kate, alles in Ordnung?«
Kate stemmte sich mit den Händen gegen die Oberschenkel wie eine vom Sprint erschöpfte Athletin. Vor ihr stand Frank, die Fleecejacke bis oben geschlossen gegen die Kälte.
Sie richtete sich ganz auf. »Oh, hi. Ja.« Sie gab sich Mühe, normal zu klingen. »Was gibt’s?«
»Ich wollte nur mal nach dir sehen.«
»Oh«, sagte sie noch einmal vor Überraschung. »Mir geht’s gut, danke. Ich … muss nur nachdenken.«
Sie deutete die leere Straße entlang. Frank schaute sich besonnen um, als könnten die schattigen Gärten und brüchigen Bordsteinkanten wirklich erklären, was in ihrem Kopf vorging.
Er hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie ihr Vater, wenn er ein ernstes Gespräch führen wollte. Aber die Vorstellung, dass Frank zu einem solchen Gespräch ansetzte, war so sonderbar wie ein Katzenjunges auf dem Weg zur Abiturprüfung. In den letzten Wochen hatten sie und Frank eine Liste zulässiger Gesprächsthemen gefunden. Gezeitentafeln. Öffnungszeiten des Baumarkts. Louises Topflappensammlung. Verkehr auf der 101. Die Jugend von heute. Das eine Mal, als er Cher begegnet war. All diese Zeit unter einem Dach, und er wollte nichts Tiefgreifenderes von ihr wissen als Kreuzworträtseltipps. Wenn Louise je ihm gegenüber über Kate klagte — und Kate war sich sicher, dass sie das tat, schließlich klagte sie Kate gegenüber oft genug über Kate —, dann konnte sie sich nur eine Reaktion von Frank vorstellen: Ein Schulterzucken und den Satz Sie ist deine Nichte. Mach, was du für richtig hältst.
Jetzt sagte er, als hätte er sich die Wörter seit dem Essen zurechtgelegt: »Louise hat dich lieb.«
»Ich weiß«, murmelte Kate. Etwas verzögert fügte sie hinzu: »Ich sie auch.«
»Dann solltest du ihr das mal sagen. Das würde sie gern hören.«
Kate fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Okay«, sagte sie. »Mach ich.«
»Es ist nicht leicht für uns Onkel und Tanten, weißt du? Wir sehen euch regelmäßig, wenn ihr so klein seid.« Frank schob die Hände nah zusammen, um die Größe eines Babys anzudeuten. »Und dann werdet ihr erwachsen und erinnert euch nicht an uns.«
Verstimmt kniff Kate die Lippen zusammen. Sie und Frank waren nicht wirklich verwandt. Er hatte Geschwister, die Kinder hatten, in ihrem Fall jedoch war er eher ins Onkeldasein gestolpert. Kate war ihm bei seiner und Louises Hochzeit vor sechzehn Jahren zum ersten Mal begegnet, und wenn sie ehrlich war, erinnerte sie sich eigentlich nur daran, dass sie gestohlenen Sekt in ein Dixieklo gekotzt hatte. In ihrer Familiengeschichte war er eine Nebenfigur, eine Randbemerkung. Und jetzt wollte er ihr erklären, wie sie Louise zu behandeln hatte?
Das ist meine Familie, dachte sie. Wir handhaben das, wie wir wollen.
»Kinder verändern sich so schnell«, fuhr er fort. »Das war bei den Kindern meines Bruders genauso. Irgendwie ist es lustig. Zu sehen, wie Persönlichkeiten plötzlich aus dem Nichts reifen. Gefühle, Ansichten, Meinungen.«
»Das glaube ich.«
»Du hast die Kinder von Theo Brand ziemlich gut kennengelernt, oder?«
»Ja.« Kate spürte ein Stechen beim Gedanken an Oscar und Jemima. »Das ist ziemlich schön. Ich hatte vorher nie mit Kindern zu tun. Sie wissen irgendwie viel mehr als ich in dem Alter. Letztens hab ich Jemima gefragt, ob sie ein Glas O-Saft möchte, worauf sie sagte: ›Das will ich kurz analysieren.‹ Wer kennt denn mit sieben das Wort analysieren?«
Frank grinste. »Ich habe als Kind allen möglichen Quatsch gemacht. Aber das war damals viel leichter. Die Eltern waren nicht so übervorsichtig.«
Dieser Kommentar klang beruhigend nach Die Jugend von heute, einem bewährten Thema ihrer Liste. Kate war erleichtert. Jetzt musste sie nur noch ein paarmal lachen, egal was für eine Geschichte Frank auch erzählte, und dann würde er ins Haus zurückkehren.
»Zum Beispiel war ich zehn, als ich das erste Mal geschossen habe.«
Kates Kopf flog zu ihm herum.
»Nur ein Luftgewehr«, fügte er schnell hinzu. »Mein Vater hat es mir gegeben, damit ich auf die Eichhörnchen im Hinterhof schießen konnte. Ich hielt mich für so reif, so erwachsen. Jetzt denke ich zurück und frage mich ganz ernsthaft, was zur Hölle habe ich in dem Alter mit einer Waffe gemacht? Ich hätte jemanden verletzen können.«
Kate starrte ihn an. Sie hatte angefangen zu lächeln, weil sie mit einem witzigen Spruch rechnete, jetzt war ihr Gesicht wie eingefroren, die Mundwinkel hochgezogen.
Theo war elf gewesen. Alt genug, um eine Waffe in der Hand zu halten.
Jung genug, danebenzuschießen.
Nein, Kate, mach dich nicht lächerlich, mahnte sie sich. Erinnere dich an die Aussage der Gerichtsmedizin. Das war kein Unfall. Denk an was anderes. Irgendwas. Lausche in die Stille. Das Klacken von Krallen auf dem Boden, weil jemand mit einem Hund vorbeiging. Das beständige Rauschen des Windes. Das Zirpen der Grillen in der Luft.
»Gut, dass du es nicht getan hast«, sagte sie und schluckte. »Jemanden verletzt, meine ich.«
Frank schlug die Hände zusammen, als hätte er eine wichtige Aufgabe erledigt. »Gut, ich geh ins Bett. Ich bin morgen früh mit Victor zum Tennis verabredet.«
Das brachte wieder Leben in sie. »Victor Velázquez?«
»Wir sind beide nicht sehr gut«, sagte er mit einem konspirativen Zwinkern, »aber wir sind Kämpfer. Ich muss auf jeden Fall ausgeruht sein. Mich mental vorbereiten.«
Ihr Herz machte einen Hüpfer. Aha. Frank war also gar nicht herausgekommen, um zwischen ihr und Louise zu vermitteln. Er hatte ihrer Unterhaltung gelauscht und wusste jetzt, dass Kate mehr Informationen wollte. Also hatte er die Chance genutzt und ihr einen wichtigen Hinweis gegeben. Hier, auf der dunklen Straße, damit Louise ihn nicht dafür kritisieren konnte.
»Klingt gut«, sagte Kate beiläufig. »Wann seid ihr denn verabredet?«