Kate kannte die Hauptstraße von Callinas wie ihre Westentasche. Die niedrigen Dächer der umgebauten Häuser, das Unkraut, das sich durch die Risse im Asphalt schlug, die in Fleecekleidung gewickelten Einwohner, die ihre Schokolabbis an mit Initialen versehenen Leinen ausführten. Sie ging die Straße entlang, sah die Pflanzen und Steine, die auf der Veranda von Esmes Laden auslagen; das brandneue Schild eines Behindertenparkplatzes, das im krassen Gegensatz zur sonstigen, viel gerühmten Vernachlässigung der Stadt stand; die Schindelfassade der Pension mit ihrem überteuerten Restaurant im Erdgeschoss und den überteuerten Minizimmern im Giebel.
All das hatte sie schon hundertmal gesehen, trotzdem barg alles kleine Überraschungen, als sie wie ein Roboter auf dem Weg zu seiner Ladestation den Nachhauseweg vom Tennisplatz einschlug. Sie hatte das Gefühl, ein Schleier hätte über Wochen ihre Sicht eingeschränkt, hätte ihre Umgebung mit eindimensionalen Bildern überdeckt wie bei Hochhäusern, an deren Gerüst sich eine Plane mit dem Aufdruck des darunterliegenden Gebäudes befindet. Jetzt hatte sich der Schleier geteilt, die Plane verschwand, und sie sah die Stadt wie beim allerersten Mal, als sie noch keine Ahnung gehabt hatte, welche Rolle all ihre Teile spielen würden.
Schließlich erreichte sie Wingwater. Sie hätte sich gewünscht, einen leeren Strand vorzufinden, aber es war warm, also waren die Wellen übersät mit Surfern, der Sand bedeckt von Handtüchern, Chipstüten und verstreutem Spielzeug.
Wie lang war es her, dass Theo und sie surfen gewesen waren? Eine Woche? Zwei? Die Zeit ließ sich nicht greifen. Aber sie erinnerte sich an das Kneifen des Neoprenanzugs, die zitternden Bäume und daran, wie sie später auf der Rückbank seines Autos gelegen hatten, ihr Kopf am Türgriff, ihre Finger am Öffner.
Jemand rief ihren Namen, und ihr Kopf flog herum. Aber es war nur eine von Louises Freundinnen. Kate winkte zurück, schirmte mit der anderen Hand die Sonne ab und ging dann in die entgegengesetzte Richtung los, ihr Ziel war der felsige Teil des Strands. Sie kämpfte sich durch den trockenen Sand bis zu einer Felsformation, die auf halber Strecke zwischen der Klippe und der Düne lag. Hier war sie nicht direkt allein, aber weit genug weg, dass sich andere nur beschwerlich über einen breiten Sandstreifen nähern konnten. In einer Brandschutzbroschüre würde ein solcher Bereich Abstandsfläche heißen. Sie wählte einen flachen Fels, auf den sie sich setzte. Ihr Herz schlug gegen ihren Brustkorb wie ein Gefangener, der herauswollte.
Zwei Möwen flogen dicht über ihren Kopf und segelten dann hinaus aufs Meer. Sie wurden so langsam, dass Kate fast damit rechnete, sie würden einfach aus der Luft plumpsen, aber dann stürzte sich eine von ihnen hinunter, fiel aus dem Himmel wie ein Komet und verschwand mit einem Platschen im Wasser. Zehn Sekunden, zwanzig, dann tauchte sie wieder auf, erfolglos, ihr Schnabel zu einem ewigen Schmollen verbogen. Kein Fisch.
Hatte Miranda an ihrem ersten Tag in Callinas dasselbe gesehen? Die silbern schimmernde Wasseroberfläche, der blaue Himmelsbogen, die wundersame Unendlichkeit? Vielleicht war sie aus dem Auto gestolpert und dann barfuß den weißen Abhang hinuntergerannt, über die felsige Flutlinie und die braunen Sandrüschen der sich einbuddelnden Muscheln hinweg. Vielleicht hatte sie sich weiter und weiter vorgewagt, mit den Armen rudernd, weil das Wasser an ihr riss, bis sie zuletzt den Kopf untertauchte, sich im Wasser des Pazifiks taufte. Wiedergeboren wurde. Und dann merkte sie erst zu spät, dass die Strömung sie ergriff und mit sich in die Tiefe riss.
Der Wind schwoll an. Kate beobachtete die Möwen, wie sie wieder und wieder ins Wasser eintauchten, bis schließlich eine von ihnen einen zappelnden, silbernen Fisch fing, den sie mit sich trug, bevor sie den Kopf in den Nacken schleuderte und den Fisch am Stück schluckte. Allerdings gab es zu diesem Zeitpunkt bereits so viele fehlgeschlagene Versuche, dass dieser eine Erfolg nicht ausreichend war. Die Möwen sammelten ihre Beute wie ein Kind Sternschnuppen, immer wieder in dem Glauben, dass diese nächste mir meinen Wunsch erfüllt. Diese. Diese. Diese.
Als Kate später am selben Tag das Haus der Brands betrat, schlossen sich die Wände um sie. Hölzern wie ein Sarg. Der grobe Webteppich im Flur war mittlerweile noch ausgeblichener als an ihrem ersten Tag. Damals war er ihr nicht aufgefallen, weil sie das Haus durch die Terrassentür betreten hatte. Die Erinnerung jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Dort ist sie gestorben. Er musste es ja wissen, wenn er sie umgebracht hatte.
Theo polterte die Treppe herunter, rutschte fast auf den letzten Stufen aus, Panik im Gesicht.
»Da bist du ja«, sagte er.
»Wieso? Was ist los?«
»Wie, was ist los? Es ist halb zwölf.«
»Ist es?« Sie war vor fast zwei Stunden beim Tennisplatz losgegangen und sich nicht sicher, wo sie in der Zwischenzeit gewesen war. Vielleicht einfach nur spazieren?
Theo schaute sie komisch an. »Ja.«
Kate wandte sich ab und hängte ihre Schultertasche an die Garderobe. Sie war nicht auf den Sturm vorbereitet gewesen, den er in ihr auslöste: seine Größe, das Tattoo, die blassen Augen. Heftig wie teures Kokain, eine Reaktion, die — das wurde ihr in diesem Moment bewusst — nicht gesund sein konnte, nicht empfehlenswert.
»Ich hab dir eine Menge Nachrichten geschrieben«, sagte Theo.
»Sind nicht angekommen.« In Wahrheit hatte sie gar nicht aufs Handy geschaut.
»Wo warst du denn?«
»Hab ausgeschlafen.«
Mehr als Satzfragmente brachte sie nicht zustande. Es war zu schwierig, um den Kloß in ihrem Hals herumzusprechen. Wenn Theo doch nur kurz verschwinden würde, nur eine Minute. Sie brauchte einen Moment allein, um sich zu sammeln. Das konnte sie nicht, wenn er neben ihr stand. Vielleicht war es eine schlechte Idee gewesen, herzukommen — heute würde sie sowieso nichts schaffen —, aber irgendwann hatte sie sich — ja, sie erinnerte sich, sie war ganz sicher herumspaziert — auf dem Weg durch den Wald wiedergefunden. Die Routine hatte sie hergeführt. Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, geh zur Arbeit.
»Ich bin schon vor einer Stunde den Weg abgelaufen«, sagte er. »Ich habe mir Sorgen gemacht, dachte, du bist vielleicht gestürzt, hast dir den Kopf aufgeschlagen.«
»Musst du zu jeder Tages- und Nachtzeit wissen, wo ich bin?«, fauchte Kate.
Theo zuckte zurück, dann glätteten sich seine Gesichtszüge, wie sie es für gewöhnlich taten, wenn er sich nicht anmerken lassen wollte, dass er wütend war.
»Natürlich nicht«, sagte er. »Aber ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
Sein Ton hatte etwas Anklagendes.
Kate kaute auf der Unterlippe. Sie verhielt sich falsch, aber sie wusste nicht, wie sie das ändern oder rückgängig machen sollte. Wie sie ihrem Verstand verbieten konnte, alle möglichen Deutungen für seine Worte zu finden. Dass Sorgen um dich heißen konnte: Angst um dich oder Angst vor dem, was du vielleicht tun könntest. Sorge oder Kontrolle.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin einfach müde.«
Sie trat auf ihn zu, ließ sich von ihm in die Arme schließen, presste ihre Nase gerade lang genug gegen seine Brust, um seinen vertrauten Geruch wahrzunehmen. Sie fragte sich, wie oft sich etwas wiederholen musste, um sich für immer ins Gedächtnis einzuprägen. Sie würde gern vorher aufhören. Damit sie ihn eines Tages vergessen könnte, wenn sie müsste.
Sie landeten im Bett. Aber irgendetwas stimmte nicht, sie waren sich nicht so einig wie sonst. Im entscheidenden Moment schaute sie Theo in die Augen, die ihr so vertrauten Augen, und hatte das Gefühl, zu verrutschen, rückwärts in einen anderen Körper zu fallen, einen anderen Mann anzusehen, und das machte sie stürmischer und irgendwie wütend. Sie fuhr ihm mit beiden Händen in die Haare, griff fest zu und presste sie zusammen, als wollte sie seinen Schädel zerquetschen, zwang ihn so, sie anzusehen, bis seine grünen Augen verschwammen, Algen unter der Wasseroberfläche waren, Licht im Dschungel, und erst da schloss sie die Augen, und ihr Verstand endete hinter dem Rot ihrer Lider, ihre Lust ein geblähtes Segel an einem windigen Tag. Ihre Kehle wurde trocken; die Sonne verbrannte ihre Haut.
Während Theo sich wieder seiner Arbeit widmete, durchwühlte Kate die Mappe mit Mirandas Krankenakten, suchte nach Hinweisen auf die Schwangerschaft, aber da war nichts. Keine Blutergebnisse, keine Untersuchungen beim Gynäkologen, nichts.
Kate steckte die Mappe zurück und fuhr mit dem Finger über die frisch beschrifteten Kartons, bis sie bei 4. Teilbestand, Haushaltsdokumente, Karton 21, Quittungen anlangte. Der Karton war fast voll und überwiegend ungeordnet. Sie hatte sich nicht damit aufgehalten, jede Quittung zu lesen; sie hatte nicht damit gerechnet, dass es nötig wäre. Nach fünfundvierzig Minuten wurde sie fündig: eine Quittung von derselben Apotheke in Mill Valley, zu der Kate gefahren war, weil sie nicht wollte, dass jemand in Callinas etwas von ihren Medikamenten erfuhr. Die Quittung war vom 28. Oktober 1993, und sie bewies den Kauf von zwei Schwangerschaftstests, für die in bar gezahlt worden war.
»Ich hol die Kinder ab«, rief Theo aus dem Flur.
Kate schaute auf. »Okay, bis gleich!«
Die Haustür schloss sich hinter ihm, und Kate war wieder allein im Haus.
Seit Theo die Zeichnungen auf der Treppe übermalt hatte, fürchtete Kate, dass sie die Tür zur Dunkelkammer öffnen würde, nur um festzustellen, dass sie komplett ausgeräumt war, sämtliche Geräte gespendet, die letzten Fotografien für immer verloren. Jedes Mal, wenn sie die Kammer vorfand, wie sie sie zurückgelassen hatte, war sie erleichtert. Heute war da keine Ausnahme. Als sie auf den Schalter drückte und das rote Licht von den Geräten zurückgeworfen wurde, wich die Anspannung aus ihr. Alles war noch da.
Sie machte das Licht wieder aus. Dank des geschlossenen Samtvorhangs umfing sie vollkommene Dunkelheit. Sie folgte aus dem Gedächtnis dem Weg um den Tisch in der Mitte, bewegte sich langsam, tastete sich vorwärts, ließ die Fingerspitzen über die Kanten gleiten, über die ihr mittlerweile so bekannten Konturen der Krüge und Flaschen. Die straff gespannte Trockenleine, die rauen Kanten der Holzklammern, die die Fotos von Theo und Miranda an Ort und Stelle hielten.
Nachdem sie die Runde abgeschlossen hatte, setzte sie sich neben den Spülbecken auf den Boden. Als das Sitzen zu anstrengend wurde, legte sie sich auf den Boden und starrte hinauf an die nicht sichtbare Decke.
Etwas würde sich ihr offenbaren. Miranda würde sich ihr offenbaren. Hoffte sie. Die mutige, grausame, brillante Miranda, die Miranda, die geliebt und gehasst hatte. Die Miranda, die Kate liebte und hasste. Ja, sie hatten sich nie kennengelernt, trotzdem hatte Kate das Gefühl — dort auf dem kalten, staubigen Boden —, dass sie Miranda besser kannte als alle Menschen vor ihr, weil sie sich Miranda hatte vorstellen, alle Lücken selbst hatte füllen müssen. Das hatte eine unbändige Nähe zwischen ihnen geschaffen, eine gemeinsame Identität.
Die Dunkelkammer konnte ihr Äußeres zerstören. Das Innere beleuchten und ihre Haut auflösen. Dafür sorgen, dass ihre kaputten Teile wieder gut aussahen. Sie könnte sie reinwaschen, zu einem synkopischen Schatten. Einem Negativ. Das Schlechte würde zum Guten würde zum Schlechten.
Dann stell es dir vor, Kate, forderte sie sich selbst auf. Stell es dir vor, hier, im Kern von allem.
Wage es, diesen Gedanken zu denken.
Theo hat Miranda getötet.
Das änderte nichts an dem, was zwischen ihnen passiert war. An seiner Liebenswürdigkeit. Oder an dem, was er durchgemacht oder wie hart er daran gearbeitet hatte, sein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Das alles könnte sein Leben sogar geformt haben, ihn geformt haben. Wer diese dunkelste Seite von sich entdeckte, würde doch den Rest seines Lebens Buße tun, gut sein in der Hoffnung, diesen einen, ursprünglichen Fehler wieder gutzumachen.
Elf Jahre alt, eine Pistole in der Hand, ein zitternder Finger am Abzug, vernachlässigt, verzweifelt nach einer Veränderung suchend, Videospiele gewöhnt …
Vielleicht stand am Anfang einer jeden Geschichte ein Akt der Gewalt. Irgendwann wurde Blut vergossen, ob man sich nun daran erinnerte oder nicht.
Ich hätte jemanden verletzen können, hatte Frank gesagt. Kinder in dem Alter waren so unverantwortlich. Sie konnten so viele Fehler machen.
Aber wie wahrscheinlich war es, dass es sich um einen Unfall handelte, wenn man seine kniende Mutter aus nächster Nähe erschoss?
Erst einmal musste man sie dazu bringen, sich hinzuknien.
Dann den Pistolenlauf an ihren Kopf halten.
Ihn in ihre dunklen Haare drücken, ein Stück von ihrem Mittelscheitel entfernt, wo die Haut durchschimmerte.
Und abdrücken.
»Kate?«
Kate fuhr hoch und schlug mit dem Kopf gegen die Tischkante. Der Schmerz schillerte wie ein sich drehendes Kaleidoskop, und sie unterdrückte ein Stöhnen. Schnell angelte sie ihr Handy aus der Tasche und schaute auf die Zeit — 16.21. Fuck. Wie konnte das sein? Sie hätte schwören können, nicht länger als fünf Minuten hier zu liegen.
»Hallo?«, rief Theo. Er war im Atelier. Sie konnte nicht sicher sagen, wo; durch den schweren Samtvorhang war alles gedämpft.
Noch mal: »Hallo?«
Näher diesmal. Fuck.
Sie bewegte sich nicht. Atmete nicht mal.
Die Tür ging auf, der Vorhang wurde durch den Druck hinausgesaugt. Theo kam herein und drückte auf den Schalter. Den Bruchteil einer Sekunde lang war die Kammer in rotes Licht getaucht, in dem Kate Theo sah, er sie aber nicht. Ein letzter Moment, in dem er es noch nicht wusste. Dann entdeckte er sie am Boden.
Sie hatte sich so häufig vorgestellt, dass er sie ertappte, weshalb sie den Eindruck bekam, sie hätte das bereits erlebt. Ihre Träume waren geprägt gewesen von diesem Augenblick, obwohl ihr das jetzt erst bewusst wurde. In ihrem Traum war das Zimmer grau, und sie hielt ein nicht erkennbares, aber dennoch wichtiges Objekt in der Hand. Theo kam herein und sagte: Was machst du hier? Und die Wörter explodierten, bildeten eine Wolke aus Lilien und Papierfetzen, die wie Konfetti um sie flogen. Sie versuchte, aufzustehen, um alles sauber zu machen, aber sie war an den Boden gekettet. Jemand beobachtete sie aus der Ecke, wich aber immer aus, wenn Kate hinschaute, sodass sie nie mehr als schwarzen Stoff sah.
Die Wirklichkeit fühlte sich an wie eine Aufführung dieses Traums, in dem alle ihre Einsätze verpassten. Außerdem fehlte was. Da war niemand in der Ecke. Kein Konfetti. Kate war nicht an den Boden gekettet. Theoretisch konnte sie sich also bewegen. Aber ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Galle stieg ihr sauer in den Mund.
»Kate«, sagte Theo. »Was machst du hier?«
»Hallo, hallo.« Sie versuchte aufzustehen, stützte sich dazu gegen das Tischbein und sagte — mit der Lässigkeit einer Jugendlichen, die von ihren Eltern an der Hausbar erwischt wird —, »ich schau mich nur um.«
Kurzes Schweigen.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Ich habe keine Chemikalien getrunken.«
Der Witz kam nicht an. Zumindest glaubte sie das. Schwer zu sagen. Das rötliche Schummerlicht verzerrte seine Gesichtszüge wie Vaseline auf der Kameralinse. Wenige Stunden zuvor hatte sie jede seiner Poren erkennen können, so nah war sie ihm gewesen. Sie schob sich auf die Füße und versuchte, die sich immer schneller in ihrem Brustkorb ausdehnende Traurigkeit zu ignorieren, viel wirklicher als jede Empfindung in ihren Träumen.
»Ich hatte dich gebeten, nicht hierherzukommen«, sagte er. »Hast du das vergessen?«
Der leicht herablassende Ton gefiel ihr nicht. Sofort musste sie an den Satz vom Vormittag denken: Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.
»Ich wollte mich nur mal umsehen«, sagte sie.
»Kate.« Er schloss die Augen, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Hör bitte auf, mich anzulügen.«
Etwas an seiner Reaktion stimmte nicht. Es dauerte einen Moment, bis sie es verstand.
»Du bist nicht überrascht«, sagte sie langsam.
Er ließ die Hände sinken. Schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Ich weiß schon seit ein paar Wochen, dass du hierherkommst. Dass du im ganzen Haus unterwegs bist.«
Jetzt erkannte sie seinen Gesichtsausdruck, er wirkte resigniert. Und wütend. Nicht die Wut, mit der sie gerechnet hatte, sondern eine dunklere, langsamere. Kohle in einem vernachlässigten Kamin.
Ihre Gedanken rasten, versuchten, Halt zu finden.
»W-woher?«, fragte sie.
Der Blick, mit dem er sie bedachte, sagte: Was glaubst du denn?
»Ich habe blonde Haare in meinem Schlafzimmer gefunden. Bevor du überhaupt mit mir dort gewesen bist«, fügte er hinzu. »Also hab ich eine Kamera installiert, habe gesehen, wie du reinkamst und das Tagebuch gelesen hast.«
Kate öffnete den Mund. Schloss ihn. Öffnete ihn wieder. »Eine Kamera?«
»Eine Freundin von mir macht kleine Kameras für Babyfone.« Theo hielt Daumen und Zeigefinger zusammen, bis sich ein erbsengroßer Spalt bildete. »Sie hat mir einen Prototyp geschickt, als Oscar gerade frisch auf der Welt war, und ich hab ihn mitgebracht, für den Fall, dass …« Er vollendete den Satz nicht.
Für den Fall, dass er ihr nachspionieren musste.
Der saure Geschmack verstärkte sich. Sie stellte sich vor, wie sie beim Sex gefilmt wurde, ein kleines, rotes Licht, das blinkte, während sie stöhnte und sich wand. Ein unscharfes Bild von ihr, wie sie sich von Theo rollte. Fast wie Mirandas Fotos von Kid.
»Und die hat die ganze Zeit aufgezeichnet?«, fragte sie.
»Nein. Ich habe sie weggepackt, als wir … als sich alles verändert hat.«
»Aber erwähnt hast du das mit keinem Wort.«
Er hob die Augenbrauen. »Ich glaube nicht, dass du hier gerade die moralisch Überlegene bist. Es ist mein Haus.«
Sein Ton — kühl und herablassend, ganz wie am allerersten Tag — machte sie wütend.
»Wenn du Kameras anbringen willst, bring Kameras an«, zischte sie. »Du hast dir so große Sorgen über das Machtgefälle gemacht, als wir mit dem Vögeln angefangen haben. Aber auf die Idee, dass es vielleicht wichtig wäre, mir zu sagen, wenn du mich filmst, bist du nicht gekommen?«
»Ich habe dich nicht gefilmt«, erwiderte Theo. »Nicht so, wie du das jetzt gerade hier darstellst. Ich wollte wissen, was du in meinem Haus machst, wenn ich nicht da bin. Mehr nicht.«
»Das heißt, du hast alles gelöscht? Du hast kein einziges dieser Videos mehr auf irgendeiner Festplatte?«
Theo schwieg einen Moment lang.
»Du lenkst vom Thema ab«, sagte er. »Du bist durch das ganze Haus geschlichen, hast meine privaten Sachen gelesen. Du bist hier hochgekommen, obwohl ich dich — als dein Chef — gebeten habe, es nicht zu tun.«
»Ich dachte, du siehst mich nicht als Angestellte.«
»Du hast mich angelogen.«
»Du hast zugelassen, dass ich dich anlüge.«
In keiner Version, die sie von dieser Situation durchgespielt hatte, war sie diejenige, die sich hintergangen fühlte. Aber das tat sie. Wie viel Energie es sie gekostet hatte, dieses Geheimnis vor ihm zu wahren, dabei hatte er es die ganze Zeit gewusst. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob er irgendwann angedeutet hatte, dass er es wusste. Vielleicht hatte er es genossen, sie zu manipulieren.
»Ich möchte nur wissen, warum du das gemacht hast. Wonach suchst du?«
»Das hab ich dir schon gesagt. Ich möchte wissen, was deiner Mutter zugestoßen ist.«
»Warum ist dir das so wichtig?«
»Warum ist es dir nicht wichtig? Sie war deine Mutter, und du interessierst dich einen Scheiß dafür, wie sie gestorben ist!«
»Natürlich interessiere ich mich dafür!«
»Weißt du, was die Leute sagen? Dass du es warst!«
»Natürlich weiß ich das«, fauchte Theo. »Wenn du es gehört hast, kannst du davon ausgehen, dass es mir direkt ins Gesicht gesagt wurde, vor meinen Kindern.«
»Und?«
»Und was?«
»Warst du’s?«
Er wirkte fassungslos. »Das fragst du mich nicht wirklich!«
Er machte einen Schritt auf sie zu, und Kate faltete die Hände. Sie hatte damit gerechnet, dass sie schweißnass waren, aber im Gegenteil. Sie waren trocken, kalt, todesängstlich.
»Ich … Theo, ich weiß nicht mal, ob es mir was ausmachen würde. Du warst so jung. So vieles kann passieren. Ich weiß, dass deine Kindheit nicht gerade glücklich war. Und ich weiß von dem Baby.«
»Welchem Baby?«
Kate starrte ihn an. »Dem Baby deiner Eltern.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagte Theo. »Aber wenn du wirklich, wirklich eine Antwort hören musst, wenn du mir wirklich diese Frage stellst, dann: Nein, Kate. Ich habe meine Mutter nicht erschossen, als ich elf Jahre alt war.«
Kate straffte die Schultern. »Aber irgendjemand hat es getan. Es gibt so viele Ungereimtheiten, weil vieles einfach nicht aufgeht. Die Polizei hat die Ermittlungen eingestellt, weil sie einen Skandal vertuschen wollte, und ich fürchte, deine Mutter wird ignoriert, Theo. Ich muss einfach die Wahrheit wissen, ich kann das nicht erklären, ich muss einfach …«
»Die Wahrheit ist«, unterbrach Theo sie, »dass sie sich erschossen hat.«
»Das kannst du doch gar nicht wissen.«
»Doch, kann ich.«
»Wie denn?«
Er schaute ihr direkt in die Augen. »Weil ich es gesehen habe.«