Kate schüttelte reflexartig den Kopf. Theo ging zum Waschbecken und stützte sich mit den Händen auf die Ränder, wappnete sich.
»Du willst also wissen, was passiert ist?«, fragte er mit dem Rücken zu ihr. »Ich erzähle es dir. Es war ein Freitag. Ich bin früh aufgewacht, weil ich ein Projekt für die Schule fertig machen musste. Ich habe es ganz allein gemacht. Andere Kinder hatten Hilfe von ihren Eltern, meine hatten zu tun. Sie waren immer zu Hause, aber sie hatten immer zu tun. Ich hab mich angezogen, mir die Zähne geputzt. Dann bin ich in die Küche, um zu frühstücken. Ich hab mir fast immer selbst Frühstück gemacht. Manchmal hatte meine Mutter mir was rausgestellt, manchmal nicht. Ich weiß noch, wie still es in der Küche war. Normalerweise konnte man selbst um die Uhrzeit schon einen von beiden durch die Gegend poltern hören, aber nicht an diesem Tag. Ich hatte noch eine Stunde, um das Projekt vor der Schule fertig zu machen. Ich habe mir Cap’n Crunch in eine Schüssel gekippt. So genau erinnere ich mich an den Tag. Ich weiß sogar noch, was ich gegessen habe. Weil ich bis heute den Geruch davon nicht ertrage, die Konsistenz … Ich schüttete mir gerade etwas nach, als ich … irgendwas spürte. Mir lief was den Rücken runter. Ich schaute zum Gartenfenster raus und sah es. Sie.
Sie stand im Regenmantel meines Vaters am unteren Ende des Gartens, kurz vor dem Wald. Sie starrte die Bäume an. Starrte ins Nichts. Ich wollte die Tür aufmachen und ihr was zurufen, hab es aber nicht getan, weil ich sie nicht stören sollte, wenn sie arbeitete. Und manchmal war es nicht leicht zu erkennen, ob sie arbeitete. Ich beobachtete sie, fragte mich, was sie da machte. Und dann kniete sie sich hin. Als wollte sie beten. Ich habe sie nie beten sehen, aber im Fernsehen wurden manchmal Kirchen gezeigt. Sie zog etwas aus der Manteltasche … Ich dachte, es wäre eine der kleinen Leicas. Keine Ahnung, wann mir bewusst wurde, dass es eine Pistole war.
Ich sah, dass sie sich das Ding an den Kopf hielt, ohne zu verstehen. Und dann verstand ich es doch, so wie man den Blitz sieht, bevor es donnert. Ich wollte zu ihr rennen, aber meine Füße gehorchten nicht. Und dann hielt sie ganz still, ihre Hand bewegte sich, gefolgt von einem lauten Knall. Ich werde immer noch manchmal davon wach, höre den Knall wieder und wieder. Möglich, dass er mal ein paar Wochen und Monate verstummt, aber er kommt immer wieder. Das ist mein Wecker. Der Knall nach dem Schuss. Und dann zuckte ihr Körper, und sie kippte um.
Endlich konnte ich mich bewegen. Ich ließ die Schüssel fallen und rannte hinaus. Das Gras war feucht. Um die Uhrzeit war es immer feucht. Ich hatte keine Jacke an, es war kalt. Ich rannte … Sie … Erst konnte ich ihren Kopf nicht sehen, suchte ihn im Gras, bis mir klar wurde, dass sie keinen Kopf mehr hatte. Die Hälfte war weg. Durch das Loch konnte ich ihr Gehirn sehen. Alles war voller Blut. Schwarz und rot. Ich packte sie. Keine Ahnung, warum. Ich wusste, dass sie tot war. Trotzdem packte ich sie und schüttelte sie. Nichts passierte. Nur mehr Blut, das aus ihrem Hals quoll, aus dem, was von ihrem Kopf übrig war, so viel Blut …
Ich rannte wieder zurück, hoch ins Schlafzimmer meiner Eltern. Hoffte irgendwie, dass sie dort war. Ich wollte, dass sie da war, um mich zu trösten, um mir zu sagen, dass schon alles wieder gut werde. Aber sie war nicht da, nur mein Vater, der erst aufwachte, als ich hereinkam. Ich zeigte zum Fenster, und er schaute hinaus. Als er sich wieder zu mir umdrehte, war er blass. Dann fragte er: ›Was ist da auf deinem Hemd?‹
Ich schaute an mir hinunter. Mein Hemd war in der Mitte braun und rot. Er kam zu mir, ich dachte, er würde mich in den Arm nehmen, aber das tat er nicht. Er starrte erst mein Hemd an, dann mich, und dann sagte er: ›Pass jetzt gut auf, wir machen Folgendes.‹
Ich war total erschüttert. Aber ich machte, was er verlangte. Er verlangte, dass ich wieder zu ihr ging und die Pistole mit meinem Hemd abwischte. Er stand an der Terrassentür … schaute zu … Ich versuchte, sie nicht anzusehen, aber ich konnte es nicht verhindern. Ich hab alles noch mal gesehen. Dann gingen wir ins Bad, und er wusch das Blut von meinem Gesicht, von meinen Händen. Dann wusch er seine Hände. Die Seife roch nach Rosen. Auch davon wird mir heute noch schlecht. Er sagte, ich solle mich ausziehen und meine Sachen in ihre Dunkelkammer bringen und in die Fixierwanne legen, er würde sich später darum kümmern. Dann sollte ich runterkommen, duschen, einen frischen Schlafanzug anziehen, den Notruf wählen und sagen, dass ich meine Mutter tot aufgefunden hätte.
Ich sagte: ›Aber als ich sie gesehen habe, war sie noch gar nicht tot.‹ Er sagte: ›Ich weiß, aber es ist wichtig, dass du so tust. Du musst so tun, Theo.‹ Weil er dachte, ich wäre es gewesen. Er dachte, er hilft mir dabei, es zu vertuschen.«
Da drehte er sich endlich um. Sein Gesicht war feucht. Das rote Licht spiegelte sich in den Tränen, dass es aussah, als würden seine Wangen brennen.
»Sein Verhalten an dem Tag hat mich kaputt gemacht«, sagte er. »Ich durfte nie wieder darüber sprechen. Er selbst hat es nie wieder thematisiert. Mein Leben lang schleppe ich das mit mir herum. Was ich gesehen habe. Was ich getan habe. Ich habe es noch nie jemandem erzählt.«
Kates Verstand kam nicht hinterher, konnte die Informationen nicht verarbeiten, aber all ihre Schlussfolgerungen brachen um sie herum ein.
»Rachel wirst du es doch erzählt haben«, sagte sie, ihre Stimme belegt.
»Nein. Nur dir.«
Sein Blick war finster. Kate presste die Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten. Es hätte ein Geschenk sein sollen, dass er ihr das alles erzählte, und durch ihre Besessenheit hatte sie die Übergabe beschmutzt.
»Vielleicht hätte ich die Polizei rufen sollen«, sagte Theo. »Aber ich wusste nicht, wie. Mein Vater war ein grauenhafter Mensch. Du kannst es dir nicht vorstellen, deshalb habe ich es dir nie erzählt. Er war schrecklich zu mir, er war schrecklich zu meiner Mutter. Er hat sie geschlagen, sie unterdrückt, mich angeschrien. Er hat uns das Gefühl gegeben, verrückt zu sein. Er hat uns zerstört. Das Einzige, was er je aus Liebe zu mir getan hat, war, an dem Tag zu lügen. Ich konnte … Obwohl ich ihn gehasst habe, musste ich das annehmen. Ich konnte ja schlecht das Einzige verweigern, was er je für mich tat.
Und jetzt … wo ich selbst Kinder habe …« Er schüttelte den Kopf. »Ich höre nicht auf zu hoffen, dass die Sache einfach in Vergessenheit gerät. Wenn ich damit an die Öffentlichkeit ginge, würden die Journalisten sich darauf stürzen und alles aufblähen. Ich müsste den Kindern Dinge erklären, für die sie noch viel zu jung sind. Ich möchte sie beschützen. Ich möchte, dass sie alles haben, was ich nie hatte. Die Unschuld. Wieso sollte ich sie dieser Abscheulichkeit aussetzen, wo ich doch nur bestätigen kann, was alle Leute sowieso annehmen? Also habe ich es für mich behalten.«
Kate machte ein leises, unfreiwilliges Geräusch.
»Ich verstehe also, warum ich das bisher niemandem erzählt habe«, fuhr er fort. »Was ich nicht verstehe, ist, warum ich getan habe, was er wollte. Warum habe ich nicht gleich die Polizei gerufen?«
Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass die Frage nicht rhetorisch gemeint war. Er hatte sie sich sein Leben lang gestellt und nie eine zufriedenstellende Antwort gefunden. Und sie konnte in dem verlorenen Ausdruck auf seinem Gesicht sehen, dass Miranda an jenem Novembermorgen einen Teil von ihm mitgenommen hatte, auf die andere Seite.
»Du hattest einen Schock«, sagte sie. »Außerdem warst du erst elf und daran gewöhnt, zu tun, was dein Vater von dir wollte.«
Theo zuckte mit den Schultern. Offenbar erschöpft von den Enthüllungen ging er zur Trockenleine, an der Fotos von ihm als Kind hingen. Er betrachtete sie, seine Miene fast friedlich, dann ging er zum Trockengestell und fischte die Aufnahme von ihm und Miranda heraus, auf der sie zusammen lachten.
Ohne aufzuschauen, sagte er: »Was meintest du vorhin? Irgendwas mit einem Baby?«
Kate war verwirrt. »Das hast du nicht gewusst?«
»Was?«
Sie zögerte.
»Sie war schwanger, als sie starb.«
Vor Überraschung zuckte er zusammen, aber nur schwach, als wäre sein Körper zu erschöpft, um stärker zu reagieren. Stille stemmte sich gegen die Wände, veränderte den Luftdruck, sodass Kate das Gefühl bekam, ihre Ohren müssten platzen.
»Die Polizei hat gesagt, sie war erst im dritten Monat«, sagte sie, um die Leere zu füllen. Dann, als müsste sie beweisen, dass all ihre Arbeit nicht umsonst gewesen war, fügte sie hinzu: »Ich habe eine Quittung über zwei Schwangerschaftstests gefunden.«
Er nickte kaum merkbar, schaute nicht von dem Foto auf. Er betrachtete es, als wäre es ein Film, der sich vor seinen Augen abspielte.
»Das hätte ich wissen müssen«, murmelte er.
»Man konnte sicher noch nichts sehen.«
»Nein, ich meine … wenn ich das Tagebuch gelesen hätte. Direkt als es ankam. Sie wird darüber geschrieben haben. Dann hätte ich es gewusst.« Er schob das Foto wieder in die Schublade. Als wäre es wichtig, dass er es wieder genau dorthin legte, wo es gewesen war.
Kate schüttelte den Kopf, damit er sich vielleicht klarte. »Was meinst du mit ›als es ankam‹? Ich dachte, du hast es hier im Haus gefunden.«
»Lynn, eine Freundin meiner Mutter, hat es mir zum Schulabschluss gegeben. Es war noch verpackt. Meine Mutter hatte es ihr geschickt, Lynn sollte es mir geben … Abgestempelt am Tag ihres Todes. Ich schätze, sie wollte verhindern, dass mein Vater es findet.« Einer seiner Mundwinkel krümmte sich süffisant. »Ihr letzter Wunsch war, dass ich es bekomme, aber gelesen habe ich es immer noch nicht. Ich habe es versucht. Ein paar Mal. Und ich dachte, hier oben würde es mir vielleicht … leichter fallen. Aber ich habe es nicht über die ersten paar Seiten hinausgeschafft.«
Ihre ersten Einträge, vor ihrer Zeit in Nangussett, waren schon für Kate schwer zu lesen gewesen. Für ihren Sohn, den seine Schuldgefühle plagten, musste das unmöglich gewesen sein. Trotzdem war sie überrascht, dass er das Tagebuch weggelegt hatte, nicht nur, weil es sie so gefesselt hatte, sondern weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass Theo an irgendetwas scheiterte. Sie musste sich richtig bemühen, sich das vorzustellen.
»So oder so ist es egal«, sagte er bissig.
Sein plötzlicher Stimmungswandel beunruhigte Kate. »Du kannst es doch noch lesen. Dazu ist es nicht zu spät.«
»Wenn du es mir zurückgibst«, sagte er. »Ich hätte damit gerechnet, dass du es längst verkauft hast.«
»Wovon redest du?«
»Kate, ich bitte dich.«
»Ich mein es ernst. Ich habe keine Ahnung, was du meinst. Du hast das Tagebuch doch versteckt.«
Sie starrten einander einen Moment lang an.
Dann dämmerte es Kate langsam.
»Jemima«, sagte sie.