Als einer von Kates vier Mitbewohnern ihr den geprägten Brief in ihr Dachzimmer in Potrero Hill brachte, nahm Kate an, dass es sich um Natashas Hochzeitseinladung handelte, und öffnete den Umschlag, ohne einen Blick auf den Absender zu werfen. Darin befand sich eine schwere, edle Karte:
THE MIRANDA BRAND PAPERS
Eine halböffentliche Auktionsveranstaltung
9. März 2018
Hinter der Karte war eine handschriftliche Notiz von Hal, der um Kates Anruf bat, um über ihre eventuelle Anwesenheit zu sprechen. Sie war wenig begeistert von der Aussicht auf ein Telefonat mit ihm, meldete sich aber trotzdem.
»Ich weiß, dass es ein paar mögliche Käufer gibt, die Sie gern treffen würden«, sagte Hal. »Im Anschluss an die Auktion wird es Cocktails geben, da können Sie über Ihre Erfahrungen mit der Nachlassbewältigung sprechen, über Ihren Eindruck von Miranda. Wir versuchen, das Interesse an Mirandas Dokumenten auch für ihre eigentliche Kunst zu nutzen, die wir zeitgleich anbieten, selbstverständlich in wesentlich kleineren Mengen, wir wollen den Markt ja nicht übersättigen.« In ehrwürdigstem Ton fuhr er fort: »Ich muss schon sagen, für jemanden mit so wenig Erfahrung haben Sie ganz hervorragende Arbeit mit den Fotoabzügen geleistet.«
»Vielen Dank«, sagte Kate und verdrehte die Augen. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es einrichten kann.«
Hal zögerte. »Ich bin nicht der Einzige, der sich Ihre Teilnahme wünscht«, sagte er. »Theo hat Sie auf die Liste gesetzt.«
Wie falsch von ihrem Herzen, nach dieser langen Zeit einmal auszusetzen. Theo und sie hatten seit dem Sommer nicht gesprochen. Ihr letztes Gehalt war ihrem Konto ohne Verzug gutgeschrieben worden. Seit Kurzem trudelten auch die Bonuszahlungen ein, weil Hal angefangen hatte, die Abzüge zu verkaufen. Manchmal erwischte sie sich dabei, ihre Kontoauszüge zu studieren, als handele es sich um geheime Botschaften von Theo, eine Äußerung noch vorhandener Zuneigung für sie, aber dann rief sie sich in Erinnerung, dass die Zahlungen vertraglich vereinbart waren und sicher von einem überarbeiteten Mitarbeiter getätigt wurden. Diese Einladung war der erste echte Hinweis darauf, dass Theo überhaupt noch wusste, wer sie war.
»Ich schaue mal, was sich machen lässt«, sagte Kate.
Ohne die Jahreszeiten als Richtschnur (»aber wir haben Jahreszeiten«, würde Frank protestieren, »sie sind einfach subtiler«) hatte Kate den Herbst und Winter in andere Sinnabschnitte unterteilt. Drei Monate bei Frank und Louise. Viele Stunden, die sie mit der Suche nach einem Psychiater, dem Papierkram für die Krankenkasse verbrachte, die sie mit einem Therapeuten sprach, dann mit einem anderen, dann wieder mit dem ersten, dreimal die Woche, zwei Monate lang, dazu neue Medikamente. Fürchterlich niederschmetternd, aber auch langweilig. Immer dieselbe Fahrt zu immer derselben Praxis, wo sie immer dieselben Fragen beantwortete und in immer dieselbe Taschentuchbox griff, bevor sie ihre Kreditkarte übergab, um ihren Anteil zu zahlen. An manchen Tagen hatte sie, was der Therapeut einen »Durchbruch« nannte, da er ein Verhaltensmuster aus ihr herauskitzelte, das Kate nie zuvor bewusst gewesen war — aber diese Durchbrüche schien sie sofort wieder zu vergessen, bis sie sie Tage später beim Duschen überfielen. Irgendwann kam sie sich lächerlich dabei vor, Ereignisse eines Lebens aufzuwärmen, das sich um die Ereignisse rankte, die sich lohnten, wieder aufgewärmt zu werden, und war erleichtert, als der Therapeut fand, sie könnten die Sitzungen auf einmal pro Woche beschränken, denn das bedeutete, dass Kate nach San Francisco ziehen und sich dort einen Job suchen konnte.
Weitere Einheiten: Zwei Wochen Wohnungssuche. Schwindende Zahlen auf ihrem Konto, aufgestockt durch den Sommerverdienst, dann wieder dezimiert durch die Kaution für die neue Wohnung. Weitere qualvolle acht Wochen der Jobsuche, die schließlich mit einer Anstellung als Texterin bei einer kleinen Werbefirma ihr Ende nahmen.
Der neue Job gefiel ihr, auch wenn der CEO vier Jahre jünger war als sie und jedes Meeting einen »Gipfel« nannte. Die Arbeit war herausfordernd genug und sogar nett, ihre Kolleginnen fast alle weiblich oder nicht-binär, und Kate freute sich — zu ihrer großen Überraschung — sogar auf die Perspektive einer Beförderung. Nach der Leonardgeschichte hätte sie nicht gedacht, dass sie dazu noch fähig war.
Das neue Zuhause mit den Gebrauchtmöbeln und Ananaspflanzen gefiel ihr auch. Zwei ihrer Mitbewohnerinnen, beide schon viele Jahre in San Francisco, zeigten ihr die Stadt. Bevor ihr neuer Job anfing, fuhr sie mit der Straßenbahn durch Pacific Heights, aß Pupusas im Mission District und wanderte zu den Ruinen der Sutro Baths. Sie erfuhr alles über die Unzuverlässigkeit des öffentlichen Nahverkehrs, entdeckte die besten Cafés mit WLAN-Hotspots und lernte, ihre Joggingrunden so zu planen, dass sie zum Ende hin bergab lief und dabei einen sensationellen Blick aufs Meer hatte. Als sie wieder zu arbeiten anfing, reaktivierte sie ihren Instagram-Account und nutzte die Fahrtzeit, um den Kontakt zu ihren Freunden in New York wieder aufzunehmen. An der Ostküste gab es einen heftigen Schneesturm. Die Regierung war eine Katastrophe. Das Video eines Tigers, der mit einer Maus kuschelte, ging viral. Es gab einen neuen Veruntreuungsskandal bei einer Konkurrenzredaktion, und viele Menschen hatten Leonard Webb vergessen.
Wenn sie manchmal abends nicht einschlafen konnte, wenn das Bett zu gähnen schienen und die Dunkelheit sich kalt und eindimensional anfühlte, hieß das nicht, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Es hieß nicht, dass sie unglücklich war.
Nach ihren sonntäglichen Therapiesitzungen fuhr sie meistens zum Abendessen nach Callinas. Der Ort kam ihr kleiner und harmloser vor, seit sie nicht mehr dort wohnte. Louise lud oft Gäste ein — Roberta und Wendy, Nikhil und Sabrina, Esme —, die Gespräche verliefen meist leicht und für gewöhnlich Miranda-frei. Das Brand-Haus war vor ein paar Monaten für eine absurde Summe verkauft worden, ein Geschäftsführer von YouTube war mit seiner Familie dort eingezogen und hatte vor, das gesamte Gebäude zu entkernen. Er wollte eine weitere Zuleitung einbauen, außerdem eine Bootsrampe am Strand von Wingwater und ein Schild am Eingang zur Lagune, die davon kündete, dass man in Callinas eingetroffen war. Er verursachte eine solche Aufregung bei den Zuständigen, dass die Leute offenbar vergaßen, dass das Haus mal Jake und Miranda gehört hatte. Sie nannten es nicht länger das »Brand-Haus«, sondern nur noch die »Kommandozentrale«, so wie es auf dem prahlerischen Schild stand, das der neue Besitzer am unteren Ende des Grundstücks hatte anbringen lassen.
An diesem Abend waren sie nur zu dritt — Kate, Frank und Louise, die sich mal wieder selbst übertroffen hatte und Paella aus einer Schüssel servierte, die groß war wie ein Couchtisch. Rosa Shrimps und dunkellila Muscheln glänzten im safranfarbenen Reis, dazu großzügig geschnittene Chorizo-Wurst und ein guter Sauvignon Blanc, der nach Zitrone und Butter schmeckte.
Als sie mit dem Essen fertig waren, erzählte Kate von der Einladung zur Auktion. Beide rieten ihr sofort, hinzugehen.
»Aber es ist komisch«, sagte Kate. »Ich weiß nicht mal, wie Hal an meine Adresse gekommen ist.«
Louise zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich hat er sie von Theo.«
Sein Name ließ sie immer noch zusammenzucken. »Woher sollte Theo meine Adresse haben?«
»Ich hab sie ihm gegeben, als er darum bat.«
Kate ließ die Gabel fallen. »Wie bitte? Wann hat er denn darum gebeten?«
»Er hat mir vor ein paar Wochen eine Mail geschickt«, sagte Louise. »Olive, runter! Lieber Gott, du ungezogener Hund.«
»Und wieso hast du mir das nicht erzählt?«
»Ich dachte, das hätte ich.«
»Du hast mir erzählt, dass jemand angerufen hat, der mich als Hauptrednerin für eine Veranstaltung in einer Botschaft buchen wollte, wozu ich fünftausend Dollar an eine ausländische Bank überweisen sollte«, sagte Kate. »Meinst du das?«
»Das klang nach einer nützlichen Investition in deine Zukunft«, sagte Louise, »ganz wie diese Auktion. Das ist eine großartige Gelegenheit zum Netzwerken.«
»Erstens hab ich schon einen Job, zweitens hab ich Theo, als ich ihn das letzte Mal sah, vorgeworfen, er habe seine Mutter ermordet.«
»Das hat er sicher nicht zum ersten Mal gehört«, erwiderte Louise gelassen.
Sechs Monate lang hatte sie ihn nicht gesehen. Länger, als sie ihn überhaupt gekannt hatte. Länger, als sie in Callinas gelebt hatte. In der Zwischenzeit hatte sie — erneut — zu funktionieren gelernt, obwohl ein Teil von ihr fehlte. Sich vorangekämpft. Ohne einen Entschluss gelebt. Ihn wiederzusehen, sich wieder zu öffnen, würde all die Arbeit des Herbstes hinfällig machen.
Frank wirkte nachdenklich. »Ich würde kein Geld auf ein Konto überweisen, dessen Besitzer ich nicht kenne.«
»Ach, Frank«, stöhnte Louise. »Hol dir dein iPad.«
Die Auktion fand in einer riesigen Halle mit hohen Decken und versetzbaren Wänden statt, reihenweise Klappstühle waren aufgestellt worden, alle auf das Podium ausgerichtet. Entlang der rechten Wand befanden sich Tische mit Computern und Telefonen, wo Vertreter des Auktionshauses saßen und auf elektronische Angebote warteten. Einladungen und Ausweise waren am Eingang akribisch geprüft worden; potenzielle Käufer mussten zahlungsfähig sein, um überhaupt einen Fuß in die Auktionshalle setzen zu dürfen.
Die Atmosphäre war angespannt, aber sehr geschäftsmäßig. Kate trug ein grünes Cocktailkleid, was sie längst bereute. Alle anderen waren in Anzügen oder Kostümen erschienen — oder in Jeans. Hal, der sie auf seine typische überkandidelte Art begrüßt hatte und dann schnell weitergezogen war, trug einen marineblauen Blazer mit einer grünen Fliege. Ein Tisch mit Hunderten Gläsern voller Möet & Chandon stand bereit, aber niemand trank. Die Bedienung starrte ins Leere und lächelte dabei, offensichtlich darauf hoffend, dass jemand kam und ihn von seinen Qualen erlöste. Aus Mitleid holte Kate sich ein Glas.
Der Auktionator schlug mit dem Hammer auf, um die Besucher zur Ordnung zu rufen — Auktionen schienen eine Ähnlichkeit mit dem Geschworenendienst zu haben —, und sofort nahmen alle Anwesenden Platz. Kate steuerte die vorderen Reihen an, entdeckte aber in letzter Minute Theo, der sich genau dort niederließ, und wählte stattdessen leicht panisch einen Stuhl im mittleren Bereich.
Der Auktionsleiter, ein dünner, mausgrauer Mann in einem Tweedanzug, hielt eine schöne Rede über Miranda und ließ dann den Katalog verteilen, der sich an Kates Findbuch orientierte. Er erklärte, dass die Fotografien separat durch Hal und eine Kunsthändlerin — eine junge Britin — verkauft würden. Allem Anschein nach hatte diese Frau mal einem Museum einen Haufen Dreck für 250.000 Dollar verkauft. Jetzt befand sich besagter Dreckhaufen in der zentralen Ausstellung des Museums und die Menschen reisten aus dem ganzen Land an, um ihn zu bewundern. Das Publikum applaudierte, als ihr Name genannt wurde.
»Bevor wir anfangen«, sagte der Leiter, »möchte Mirandas Sohn Theo ein paar Worte an Sie wenden.«
Theo stand auf und ging zum Podium. Kate wurde plötzlich bewusst, dass sie sich komplett auf Hals Aussage verlassen hatte, dass Theo sie eingeladen hatte. Vielleicht erlaubte Hal sich einen Scherz, eine kleine Rache für ihren unangekündigten Besuch in seiner Galerie. Entsetzt ließ sie sich ganz tief in den Stuhl sinken.
Theo trug ein Jackett, dazu allerdings die typische dunkle Jeans, deren Vertrautheit Kate wie eine Beleidigung vorkam. Nachdem er dem Auktionsleiter die Hand geschüttelt hatte, faltete er ein Blatt auf und legte es aufs Rednerpult. Er trat vom einen aufs andere Bein und räusperte sich.
»Heute werden hier die Dokumente meiner Eltern versteigert«, sagte er. »Hauptsächlich die meiner Mutter, wie sie alles gesammelt hat. Mein Vater war etwas organisierter.«
Im Publikum wurde vereinzelt gelacht, als wäre das ein Witz gewesen. Theo schien sich nicht wohlzufühlen. Kate hatte vergessen, wie sehr er öffentliche Auftritte hasste. Sein Blick wanderte durch die Reihen, senkte sich dann wieder auf das Blatt.
»Mein Vater war etwas organisierter«, wiederholte er. »Außerdem war er gewalttätig, grausam und körperlich übergriffig. Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass er meine Mutter in den Suizid getrieben hat.«
Das Lachen endete abrupt. Diesmal schaute Theo nicht von seinem Blatt auf. Sein Gesicht lief dunkelrot an, und Kate wurde schlecht.
»Es gibt eine Menge von Gründen dafür, dass ich darüber bisher nicht gesprochen habe«, sagte er. »Ich habe mir selbst eingeredet, es aus Sorge um meine Kinder nicht zu tun. Dabei ist der tatsächliche Grund, so glaube ich zumindest, dass ich es aus Sorge um meine Mutter nicht getan habe. Aus Sorge um das, was diese Informationen mit ihrem Vermächtnis machen würden. Soweit ich das einschätzen kann, wollte meine Mutter nur auf der Basis ihrer Kunst beurteilt werden, und ich gehe davon aus, dass Sie meiner Meinung sind, wenn ich sage: Ihre Kunst spricht für sich. Im letzten Jahr wurde mir bewusst, je mehr ich versuche, die Wahrheit zu verstecken — und damit meine ich die Wahrheit über ihre Zeit in der psychiatrischen Abteilung von Nangussett und in unserem Haus in Callinas —, desto mehr trage ich selbst zu einem Bild meiner Mutter bei, das so gar nicht existierte.
Und auch wenn ich anfangs vorhatte, nur einen zensierten Teil ihrer Dokumente versteigern zu lassen, habe ich mich nun entschieden, alles, was sie je angefertigt hat, in die Auktion zu geben. Das Einzige, was ich dieser Sammlung vorenthalte, ist ihr Tagebuch, das sie vom Tag meiner Geburt bis zu ihrem Tod geführt hat. Der Grund für diese Ausnahme ist, dass ich im kommenden Jahr eine Abschrift des Tagebuchs in Buchform veröffentliche, dessen Einnahmen ich an verschiedene Organisationen für Opfer häuslicher Gewalt und für die Suizidprävention spende.«
Kate keuchte, als hätte ihr jemand in den Bauch geboxt.
»Ich kann nicht beurteilen, ob diese neuen Einsichten die Neugier anheizen oder ersticken werden«, fuhr Theo fort. »Vielleicht werden Sie beim Lesen denken, dass ich die falsche Entscheidung getroffen habe, dass ich das alles lieber vertraulich hätte behandeln sollen. Aber mittlerweile haben so viele Menschen über meine Mutter geschrieben. So viele Menschen haben Hypothesen aufgestellt, haben Vermutungen geäußert, haben ihr Verhalten interpretiert. Ich fand es einfach nur fair, sie selbst zu Wort kommen zu lassen, um ihre Geschichte zu erzählen. Und ganz in diesem Sinne werde ich keine weiteren Interviews oder Kommentare zu diesem Thema geben, deshalb möchte ich Sie auch ganz ausdrücklich bitten, von weiteren Fragen dieser Art an meine Familie abzusehen.« Er atmete auf und löste den Blick von dem Blatt, das er sogleich zusammenfaltete. »Zu guter Letzt möchte ich der Archivarin danken, die den gesamten Nachlass aufbereitet hat: Kate Aitken. Ohne sie wäre die Sammlung nicht so vollständig, wie sie es heute ist.«
Ihre Blicke trafen sich über die vielen Reihen hinweg. Mit einem Schock wurde ihr bewusst, dass er die ganze Zeit gewusst hatte, wo sie war.
Er verließ das Podium und setzte sich wieder. Die Auktion begann. Zwanzig Minuten später war die gesamte Sammlung an die Columbia University verkauft, für 3,8 Millionen Dollar.
Danach wurden die Vorspeisen aufgetragen. Kleine Lachsblinis und frittierte Samosas. Die Bedienung machte allmählich einen weniger gestressten Eindruck. Kate hielt sich am Rand der Halle, direkt neben einem hohen, wackligen Tisch, und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihre hochhackigen Schuhe ihr unendliche Schmerzen verursachten. Abgesehen von Hal und Theo kannte sie niemanden, aber sie hielt sich bereit, für den Fall, dass sie jemand erkannte und ihr Fragen stellen wollte. Wie sah wohl eine Expertin aus?, überlegte sie und setzte eine leicht gelangweilte Miene auf.
»Champagner?«
Es war Theo. Sie war so überrascht, dass sie ihm fast den Ellbogen in den Bauch rammte.
»Hallo«, sagte sie. Ihre Stimme klang dumpf, als hätte sie eine allergische Reaktion gehabt und nun eine unnatürlich dicke Zunge.
»Hallo«, sagte er.
Er sah gut aus. Seine Haare waren etwas kürzer. Er trug eine Tasche über der Schulter. Er hob erneut das Glas, also nahm sie es ihm ab und stürzte es hinunter, ohne den Champagner zu schmecken.
»Glückwunsch«, sagte sie.
»Danke«, sagte er.
»Danke für die Einladung.«
»Danke fürs Kommen.«
Kate stupste den kleinen Plastikteller mit den ungegessenen Blinis an. »Wie geht es den Kindern?«
»Gut. Sehr gut.«
»Schön.«
Und dann standen sie sich einfach gegenüber, unglücklich. Kate fing an, den Tellerrand mit den Fingern zu bearbeiten. Es war zu viel. Die Monate ohne ihn brachen um sie zusammen. Plötzlich war da alles gleichzeitig, komprimiert in seinem Körper, diesem so geliebten Körper, dessen Brust sie geküsst und gekratzt und auf dem sie geschlafen hatte. In diesen langen Beinen, dem Adamsapfel. Der Rauch nach dem Feuerwerk. Seine tiefe Stimme in der Nacht. Die Wellen, die über sie hinwegrollten, ihr Herz, das ihr bis zum Hals schlug, der Geschmack von Salz — von ihm und vom Meer. Die jetzige Unbeholfenheit, Unsicherheit. Sie klangen wie zwei Roboter, die ein Programm abspulten.
»Theo …«, sagte sie und meinte damit: Ich kann das nicht.
Die Wand hinter ihnen explodierte in verschiedenen Farben: eine Diashow mit Mirandas Fotos.
Das kannst du besser, mahnte Kate sich, schaute Theo in die Augen und öffnete den Mund.
»Ich schulde dir eine Entschuldigung«, kam er ihr zuvor. »Für mein Verhalten im Sommer. Du hattest recht, ich habe dich manipuliert. So hab ich das damals gar nicht gesehen, aber du hattest recht.«
»Oh«, sagte sie, weil er sie aus dem Konzept gebracht hatte. »Ich wollte mich bei dir entschuldigen.«
»Danke, Entschuldigung angenommen.«
Sie starrte ihn kurz an und stampfte dann frustriert mit dem Fuß auf. »So geht das nicht. Du musst erst mal drüber nachdenken.«
»Das hab ich schon. Aber wenn du willst, kann ich noch ein bisschen länger darüber nachdenken. Während ich das mache, möchte ich dir aber was geben.«
Er holte einen gepolsterten Umschlag aus der Tasche und gab ihn Kate. Sie war so benommen, dass sie ihn ganz automatisch annahm und hineinschaute.
Ein schmales, blaues Buch.
Sie blickte zu ihm auf, blinzelte. »Ist das …«
»Das ist eine Kopie. Eine bildbasierte Version von dem, was nächstes Jahr erscheinen wird. Das Original behalte ich für Oscar und Jem. Aber ich wollte dir die Möglichkeit geben, es vor allen anderen zu lesen. Ich weiß, was es dir bedeutet hat.«
Ihre Augen fingen an zu brennen. Auf der Leinwand erschien eine der Capillaries-Aufnahmen, der Mann und die Frau im Restaurant.
»Theo …« Diesmal bedeutete es etwas anders. In etwa: Tut mir leid, dass ich dich verletzt habe. Tut mir leid, dass ich so kaputt bin. Ich hab versucht, mich wieder zu reparieren. Keine Ahnung, ob es geklappt hat. Vielleicht liebe ich dich noch, wenn ich dich denn kenne. Wenn wir einander überhaupt kennen.
»Ich bin nicht wegen des Tagebuchs hier«, sagte sie, »sondern deinetwegen.«
Kleine Fältchen bildeten sich um seine Augen. Sie vergaß, wie sehr ihre Füße schmerzten.
»Können wir uns irgendwo unterhalten, wo wir ungestört sind?«, fragte er.
»Wo denn?«
Er deutete zu einem Spalt in der mobilen Trennwand, durch den Kate eine Art Abstellkammer mit einem Mischmasch aus griechischen Skulpturen und Mobiliar aus dem achtzehnten Jahrhundert erahnen konnte. Schnell schaute sie sich in der Halle um, ob sie beobachtet wurden.
»So weit sollten wir vielleicht nicht gehen«, sagte sie.
Er hob die Augenbrauen, ein wortloses Ach was!. Als ihr die Zweideutigkeit ihrer Aussage bewusst wurde, musste sie selbst grinsen.
Am Rand der Klippe. Ein Fragment der Erde über der dunklen See. Das Wasser zieht sich zurück, fängt die Fische in Tümpeln, verschmutzt den Sand. Überall auf der Welt sprangen die Leute, strampelten mit den Beinen in der Luft, bis sie nur noch weit entfernte kleine Punkte waren, klein wie Milchzähne auf der Handfläche, ein Blendenfleck auf dem Foto. Es war dumm, zu springen. Wäre klüger, hier oben zu bleiben, in Sicherheit, zu wissen, was als Nächstes kam, die Kontrolle zu behalten. Aber ihre Beine wollten das Wasser spüren. Ihr Herz vermisste das Flattern, die Freude.
The Threshold erschien auf der Leinwand. Die Unentschlossenheit. Das Übertreten.
Das Meer war weit genug, sie aufzufangen.
»Okay«, sagte Kate, und zusammen schlüpften sie durch den Spalt.