Kapitel 13

RYDER

»Hände hoch«, brülle ich in dem Moment, als ich die schmale Treppe hinabgestiegen bin und die Kabine des Motorboots betrete. »Die verdammten Hände hoch.«

Die Hände des Jungen schießen in die Höhe. Er sitzt hinter einem U-förmigen Metallschreibtisch, der einen Großteil des freien Raums unter Deck einnimmt. »Okay, sie sind oben. Sie sind oben.«

Ich ziele mit der Waffe auf seinen Kopf. »Eine Bewegung, und ich schieße, du kleiner Scheißer.« Natürlich würde ich ihm nichts antun, außer ich muss, auch wenn ein Teil von mir es liebend gerne tun würde. Für Hadley. Um all das zu rächen, was ihr angetan wurde. Sogar nur, um der Welt zu beweisen, dass ich sie jetzt beschütze und niemand es mehr wagt, sie jemals wieder zu bedrohen.

Langsam und vorsichtig komme ich näher, blicke mich rasch in der kleinen Kabine um. Zu meiner Linken quillt die winzige Küchenzeile über vor Chipstüten und Limodosen, und das kleine Bett zu meiner Rechten ist bedeckt von wild verstreuten Kleidungsstücken. Er ist allein hier, so weit bin ich mir schon einmal sicher.

Einen Meter von der Rückseite seines mit schwarzem Mesh bezogenen Bürosessels bleibe ich stehen, Shawna und Lee hinter mir, und meine Pistole zielt noch immer auf seinen Kopf. Um uns ist es still, jetzt, da die Finger des Jungen nicht mehr auf der Tastatur klappern. Der Rest meines Teams wartet draußen und hat ein Auge auf jeden, der den Pier entlang in unsere Richtung kommen könnte.

»Steh auf«, sage ich zu dem Jungen, »und sei bloß nicht so dumm irgendwelche plötzlichen Bewegungen zu machen. Eine Pistole ist auf deinen Kopf gerichtet.«

Er steht auf, die Hände noch immer in der Luft. Und ich wage zu behaupten, dass sie ein wenig zittern.

»Jetzt langsam umdrehen«, befehle ich.

Er dreht sich, wie eine Ballerina in einem Schmuckkästchen, bis er mit dem Gesicht zu mir steht. Das Captain-America-T-Shirt, das er trägt, gefällt mir, aber ihn lässt es wirken, als wäre er neunzehn Jahre alt, was wahrscheinlich auch stimmt. Seine Jeans ist an den Knien zerrissen, und die Tatsache, dass er nur Socken trägt, verrät mir, dass er nicht vorhatte, heute noch irgendwohin zu gehen. »Hast du irgendwelche Waffen?«, frage ich.

»Nein.« Er schüttelt den Kopf, die Augen vor Angst weit aufgerissen. »Nein. Keine.«

»Lee.« Mit einer Kinnbewegung schicke ich ihn vorwärts, und Lee setzt sich in Bewegung und tastet den Jungen rasch ab, dessen ovales Gesicht jede Farbe verloren hat.

»Er ist sauber«, sagt Lee schließlich und fesselt dem Jungen schnell die Hände mit Kunststoffhandschellen auf den Rücken.

Nachdem Lee ihn wieder in den Bürosessel verfrachtet hat, in dem er bis vor Kurzem noch gesessen hatte, stecke ich meine Pistole ins Holster und sage einfach: »Hör zu, Junge, ich habe nicht viel Zeit.« Ich lehne mich mit verschränkten Armen gegen die Wand und funkle ihn so wütend an, wie er es verdient. »Ich werde dir ein paar Fragen stellen. Wenn du sie ehrlich beantwortest, werden wir kein Problem miteinander bekommen. Falls nicht, haben wir ein großes Problem, und die Sache wird nicht gut für dich ausgehen. Verstanden?«

»Okay.« Der Junge nickt heftig, mit zitternder Unterlippe. »Ja, ja. Okay.«

Es ist eine Weile her, seit ich es mit jemandem zu tun hatte, der so jung ist. Die Tatsache, dass er immer noch nicht nach meiner Marke gefragt hat, zeigt, wie unreif er noch ist. Natürlich ist es gerade zu meinem Vorteil, dass er mich für einen Cop hält. »Wie heißt du?«

»Caleb Lupa.«

»Caleb, ich weiß, dass du ein Video besitzt, auf dem Hadley Winters beim Sex mit zwei Männern zu sehen ist. Ich weiß, dass du dich in ihren Computer gehackt hast, und du hast gedroht, das Video zu veröffentlichen, falls sie ihren Vater nicht dazu bringen kann, sich zur Ruhe zu setzen. Ich weiß ebenfalls, dass du wahrscheinlich nicht die Person bist, die hinter dieser Erpressung steckt. Sag mir, wer dich für diesen Job angeheuert hat.«

»Ich weiß es nicht.«

Ich mustere ihn eingehend, suche nach Anzeichen dafür, dass er lügt. Es dauert nicht lange, bis mir klar wird, dass da nichts weiter ist als ein verängstigtes Kind, das nicht versteht, worauf es sich eingelassen hat. »Was meinst du damit, du weißt es nicht?«

»Ich wurde auf digitalem Weg kontaktiert«, erwidert er und rutscht auf seinem Sessel herum; offensichtlich versucht er eine bequemere Position in den Handschellen zu finden. »Es wurden nie Namen ausgetauscht.«

Eine enttäuschende Antwort, aber ich bin noch nicht bereit, aufzugeben. Ich will das sauber und ordentlich zum Abschluss bringen, für Hadley. Sie ist das Einzige, woran ich gerade denken kann. »Aber du wurdest per E-Mail kontaktiert?«

Caleb nickt. »Ja.«

Ich schiele aus den Augenwinkeln zu Lee, der hinter mir steht. »Hol Jeff.« Er nimmt den Befehl auf, verlässt sofort die Kabine, und ich wende mich wieder Caleb zu. »Und du warst nicht neugierig genug, um selbst nachzuforschen, wer dir diesen Auftrag geschickt hat?«

Er zuckt mit den Achseln. »Sie haben mich bezahlt. Sehr viel Geld. Und pünktlich. Es war mir egal.«

Noch ein Zeichen seiner Unerfahrenheit. Nicht zu wissen, für wen du arbeitest, ist mehr als nur dämlich.

Auf dem Deck des Bootes sind Schritte zu hören, und dann erfüllt Jeffs fröhliche Stimme die Kabine: »Was brauchst du, Chef?«

Jeff ist ein schmaler, schlaksiger harter Arbeiter mit einem Babyface, und er ist auch der Hacker, der immer mit dabei ist, wenn wir direkt vor Ort tätig werden. Alex ist in den meisten Fällen mein Sidekick, aber sie ist auch klug genug, vor der Gefahr in Deckung zu gehen und sich nicht mitten reinzustürzen. »Check Calebs E-Mails, und schau, ob du herausfinden kannst, wer ihn angeheuert hat.«

»Schon dabei«, sagt Jeff.

Aber bevor er sich auf Calebs Kommandozentrale zubewegen kann, die aus sechs Monitoren besteht, die in drei Reihen auf dem Schreibtisch stehen und alle an seinen Laptop angeschlossen sind, fährt Caleb dazwischen. »Ich bezweifle, dass Sie etwas finden werden.«

Jeff grinst ihn an, schenkt Caleb die Art von Lächeln, bei dem man alle Zähne sieht. »Sorry, Junge, aber ich bin nicht du. Ich kann jeden finden.«

Er hat recht – normalerweise kann er das, aber selbst ich bin skeptisch. So wie ich es bisher erlebt habe, haben wir es mit einem Profi zu tun. Ich bezweifle, dass derjenige sich jetzt bei einem Fehler ertappen lässt.

Diesen Gedanken behalte ich aber für mich, während Jeff Caleb packt, ihn aus dem Sessel holt und sich an seine Stelle setzt. Als seine Finger beginnen, über die Tastatur zu fliegen, wende ich mich wieder Caleb zu, dessen Augen auf die Bildschirme gerichtet sind. »Wo ist das Video?«

»Eine Kopie liegt auf meiner Festplatte«, sagt Caleb und sieht endlich zu mir. »Aber sie ist verschlüsselt, und ich bezweifle …«

»Schon gelöscht«, geht Jeff dazwischen, dessen Finger rasend schnell tippen. »Ich kann sonst nirgendwo eine Spur des Videos finden.«

Caleb wagt es, beleidigt auszusehen. »Wie zur Hölle haben Sie –«

Ich unterbreche ihn, bevor er sich in noch größere Schwierigkeiten bringt als die, in denen er sich bereits befindet. »Hast du sonst noch eine Kopie?«

Sein wütender Blick wandert zu mir. »Dort in der Schublade, aber sie ist verschlossen –«

Ich gehe zu dem Aktenschrank, der neben dem Schreibtisch steht. »Diese Schublade?«, frage ich und deute auf die mittlere.

»Ja. Ich kann Ihnen den Schlüssel –«

Mit aller Kraft trete ich zweimal gegen die Schublade, bis sie sich öffnet. In der ansonsten leeren grauen Metallschublade liegt eine einzelne CD. »Lee, könntest du mir eine Asservatentüte besorgen?« Dann blicke ich zu Caleb, und sein wütender Blick ist jetzt ein ausgewachsenes hasserfülltes Funkeln. »Ist das die einzige andere Version, die du besitzt?«

»Ja«, faucht er.

Jeff kichert. »Lass es, Junge. Glaube mir, wenn du an deinem hübschen Gesicht hängst, willst du diesem Typen wirklich nicht ans Bein pinkeln.«

Caleb starrt mich einen Moment lang an, dann folgt er offensichtlich Jeffs Vorschlag, atmet langsam aus und lässt den Kopf hängen.

Spöttisch blicke ich zu Jeff, der mir eines seiner typischen breiten Grinsen schenkt, bevor er sich wieder der aktuellen Aufgabe zuwendet. »Kannst uns sagen, wann du das Video das erste Mal gesehen hast, falls es sich dabei um das Original handelt?«, frage ich Caleb.

Caleb hebt den Kopf und zuckt mit den Achseln. »Ich bezweifle, dass irgendjemand so dumm wäre, mir das einzige Original des Videos zu geben.«

Zumindest in einer Sache hat der Junge recht. »Alles klar …« Ich gehe die Hunderte von Fragen durch, die ich ihm stellen will, bleibe aber bei der wichtigsten hängen. »Wie hast du die CD bekommen?«

Lee kommt in diesem Augenblick zurück und reicht mir die Asservatentüte. Ich befördere die CD in die Tüte, wobei ich darauf achte, keine Fingerabdrücke darauf zu hinterlassen. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass der Erpresser die CD berührt hat, und auch wenn wir verhindert haben, dass das Video veröffentlicht wird, muss ich ihn trotz allem noch finden.

Was mir plötzlich Sorgen bereitet. Es hat zwar gedauert, Caleb zu finden, aber so schwer war es nun auch nicht. Jeder gute Hacker hätte ihn finden können, was die Frage aufwirft: Warum war es so einfach?

Das ist niemals eine Frage, bei der es gut ist, sie beantworten zu müssen.

Ich versuche, nicht zu weit vorauszudenken, und setze die Befragung fort. »Gibt es sonst nichts mehr, was du mir erzählen willst?«

»Nein.« Er schüttelt den Kopf. »Das war wirklich alles. Jemand hat mich per Mail kontaktiert, dann habe ich das Video und die Instruktionen, wem ich es schicken soll, per Lieferdienst bekommen.«

Frustration breitet sich in mir aus, lässt mich meinen Kiefer zusammenpressen, aber ich schiebe die Verärgerung einfach weg und seufze. Leider sind Hindernisse Teil dieses Jobs.

Auf einmal schnaubt Jeff und steht auf. »Ich muss das mitnehmen.« Er beginnt die Kabel vom Laptop auszustecken. »Es ist eine Menge, was ich durchsehen muss, und es wäre mir lieber, dabei nicht von dreckiger Unterwäsche umgeben zu sein.«

Ich nicke. »Ich komme bald nach.«

Jeff wendet sich Caleb zu. »Lass dir eines gesagt sein, Junge, wenn du diesen Scheiß weitermachst, landest du schneller im Gefängnis, als es dauert, pissen zu gehen.« Caleb sieht ihn mit gerunzelter Stirn an, und Jeff fährt fort: »Und glaube mir, es werden deine Hackerkollegen sein, die dich dorthin befördern.«

»Warum sollten sie das tun?«

Jeffs furchteinflößendes Lächeln ist zurück. »Weil du den Menschen nicht hilfst, du verletzt sie, und diesen Scheiß machen wir nicht. Du willst das Hacken als Job betreiben? Such dir einen Mentor.« Jeff lacht angesichts dessen, was auch immer er auf Calebs Gesicht ablesen kann und fügt hinzu: »Und nein, dieser Mentor bin nicht ich.«

»Hey, warten Sie!«, ruft Caleb, als Jeff das letzte Kabel löst. »Sie geben mir den doch zurück, oder?«

»Das ist ziemlich unwahrscheinlich«, sagt Jeff und klemmt sich den Laptop unter den Arm. »Und wenn ich du wäre, würde ich für eine Weile keinen Computer mehr anfassen. Die CIA und das FBI werden dich jetzt offiziell auf dem Radar haben. Willst du wirklich, dass sie persönlich bei dir auf der Matte stehen?«

Calebs einzige Antwort ist sein gesenkter Blick.

Jeff schüttelt in offensichtlicher Enttäuschung den Kopf und wendet sich dann mir zu. »Noch irgendetwas, was du von mir brauchst, Chef?«

»Finde heraus, wo diese E-Mail herkam, und du bekommst zu Weihnachten einen Bonus.«

»So gut wie erledigt.« Jeff duckt sich, um sich nicht den Kopf an der niedrigen Decke anzustoßen, und trottet die schmale Treppe hinauf.

Seine schweren Schritte dröhnen laut über unseren Köpfen, dann gehe ich zu Caleb. »Komm schon, Junge.« Ich umfasse seinen Arm und führe ihn stumm hinaus, Shawna und Lee direkt hinter mir.

Ich muss mich immer noch entscheiden, was ich mit ihm machen will. Aber die Luft ist stickig, und irgendetwas stinkt hier drin wie eine Mischung aus Schimmel, saurer Milch und dem Inhalt einer Sporttasche, der ein Jahr lang benutzt und nie gewaschen wurde.

Sobald wir das Deck des Bootes erreichen, atme ich die frische Luft ein und wende mich dann mit verschränkten Armen an ihn.

Er mustert mich eingehend, und vielleicht hat er herausgefunden, dass ich mich noch nicht entschieden habe, ob ich ihn einliefern soll oder nicht, denn plötzlich sagt er: »Wissen Sie, ich habe etwas herausgefunden, dass möglicherweise nützlich für Sie sein könnte. Wenn ich es Ihnen sage, muss ich dann nicht ins Gefängnis?«

»Kommt drauf an, was du mir erzählst«, antworte ich ihm ehrlich.

Er sieht sich mit Furcht in den Augen um, bevor er flüstert: »Ich weiß, wer noch auf dem Video mit ihr zu sehen ist.«

»Wir wissen bereits, dass der Kongressabgeordnete sich auf dem Video befindet.«

Caleb sieht mich mit ängstlichem Blick unter seinen Wimpern hervor an, und seine Stimme ist leise. »Ja, aber von ihm spreche ich nicht. Ich meine den anderen Typen. Wenn ich Ihnen diese Information gebe, wird mich das vor dem Gefängnis bewahren?«

Ich gehe in Gedanken das durch, was er eben gesagt hat, und konzentriere mich auf das, was er nicht gesagt hat. »Woher willst du wissen, dass wir die Identität dieser Person nicht bereits kennen?«

»Na ja, kennen Sie sie?«

Ich runzle die Stirn. »Sag mir, was du weißt.«

»Alles klar, also …«

Die nächsten Sekunden rauschen so schnell an mir vorbei, und es geschehen so viele Ereignisse, dass mein Hirn kaum hinterherkommt. Caleb öffnet den Mund … dann rinnt Blut über sein Gesicht … und er sackt zu Boden.

»Runter«, brülle ich, lasse mich auf das Deck fallen. »Kann jemand den Schützen sehen?«

»Negativ«, schreit Lee, wie auch die anderen Mitglieder meines Teams.

Wir bleiben unten, und die Minuten vergehen … und vergehen … und vergehen.

Langsam, aber sicher kommen wir aus unseren Verstecken hervor, weil wir sicher sind, der Schütze hat sein Ziel ausgeschaltet und ist dann geflohen.

»Verdammte Scheiße«, fluche ich und blicke auf Calebs leblosen Körper hinab. Ich senke die Hand, taste nach seinem Puls, finde aber keinen.

In diesem Augenblick höre ich durch den Kopfhörer in meinem Ohr jemanden, mit dem ich nicht gerechnet habe. Alex beginnt so schnell zu reden, dass ich kaum einzelne Worte ausmachen kann, aber bald wird alles zu deutlich und zu real.

Der Senator. Erschossen.

Es ist wie ein gigantisches Puzzle, das vollendet wurde, nachdem man darum gekämpft hat, dass alle Teile zusammenpassen. Ich starre auf Calebs leblosen Körper zu meinen Füßen hinab. Blut sammelt sich unter seinem Kopf auf dem Deck des Bootes an, und mir wird klar, dass ein viel größerer Plan, als ich es mir hätte vorstellen können, heute Nacht ausgeführt wurde.

Das alles. Das Video. Hadley. Selbst das Foto von Hadley und mir in der Klatschpresse. Das alles war eine Ablenkung, damit ich mich nicht auf den Senator konzentrieren oder ihn beschützen würde. Sie müssen darauf gewartet haben, dass der Senator seine Vorsicht verliert. Und ich war nicht da, um ihn davon abzuhalten, diesen Fehler zu begehen.

Man hat mit mir gespielt … sehr gut gespielt, und ich bin über diese Tatsache nicht besonders erfreut.

Aber der Stress und die Anspannung in meinem Körper ist nichts im Vergleich zu dem Augenblick, als ich mein Handy aus der Tasche ziehe, um Hadley anzurufen und stattdessen eine Nachricht von ihr finde.

Ich brauche dich.