Du hast mir nie irgendwelche Versprechungen gemacht … hallt es in meinem Kopf wieder, als ich aus meinem Truck aussteige, der vor dem Unternehmensgebäude von Blackwood steht. Ich habe Hadley nie Versprechungen gemacht, nein, aber während ich auf das Gebäude zuschlendere, nachdem ich bei der Polizei eine Stunde lang verhört wurde und meinen abschließenden Bericht abgeben konnte, beschließe ich, dass ich ihr zumindest ein paar Versprechen geben sollte. Aber das Spiel hat sich verändert. Jemand wurde heute Nacht ermordet, damit er nicht redet, und mit dem versuchten Mordanschlag auf den Senator kann ich davon ausgehen, dass wir der Lösung, wer hinter alldem steckt, näher gekommen sind.
Meine Aufmerksamkeit hatte auf Hadley gelegen, und es wurden Fehler gemacht. Ich muss meine Fehler wiedergutmachen, und nie zuvor wollte ich jemanden so sehr in die Finger kriegen wie diesen Drecksack, der hinter alldem steckt. Nicht nur für den Senator, sondern auch für die Tränen, die Hadley geweint hat.
Ich betrete die geschäftige Kommandozentrale, wo jeder Einzelne hinter seinem Schreibtisch sitzt und arbeitet, um Antworten auf Fragen zu finden, bevor ich sie überhaupt gestellt habe. »Etwas Neues vom Senator?«, frage ich in die Runde.
Jenny, die bereits vier Jahre bei Blackwood Security arbeitet, dreht sich auf ihrem Drehstuhl herum und antwortet mir: »Er wird noch immer operiert. Aber von den Berichten, die ich bisher bekommen habe, sieht es so aus, als würde er es schaffen.«
»Gut«, sage ich und schicke stumm ein Dankesgebet an das Wunder namens moderne Medizin. Ich lasse aber nicht allzu viel Erleichterung zu. Wir müssen alle auf der Hut bleiben. »Haben wir schon die Alarmanlage im Haus des Senators untersucht?« Das hat oberste Priorität, ich verstehe einfach nicht, wie sie ausgeschaltet werden konnte.
Chris, ebenfalls ein langjähriger Mitarbeiter, wendet sich von seinem Bildschirm ab: »So wie es aussieht, hat der Senator sie nicht eingeschaltet, als er nach Hause gekommen ist.«
Was Sinn ergibt, schätze ich. Sie konnten die Alarmanlage nicht ausschalten, ohne dass ich es mitbekommen hätte, denn wir hatten für diesen Fall Vorkehrungsmaßnahmen getroffen. Aber das bedeutet, der Schütze hat gewartet. Irgendjemand muss den Senator beobachtet und geduldig auf den Moment gewartet haben, an dem der Senator seine Vorsicht fallen lässt, und dann hat er zugeschlagen. Da auf Lupa und den Senator etwa zur selben Zeit geschossen wurde, gehe ich davon aus, dass es mehr als einen Schützen gab. Eine Person hatte ein Auge auf Hadley und mich gehabt. Eine andere hat den Senator beobachtet. Meine Hände ballen sich zu Fäusten, weil ich weiß, ich bin in deren Falle getappt. Ich war so mit Hadleys Video beschäftigt, habe versucht Hadley und den Senator auf diese Weise zu beschützen, dass ich übersehen hatte, was eigentlich dahintersteckte. Ich war zu nah an der Sache dran, zu nah an Hadley.
Und das ist der Grund, warum du nicht mit der Tochter des Senators schlafen sollst, echot es in meinem Kopf.
Ich schiebe die Gedanken beiseite und konzentriere mich auf das, was vor mir liegt. »Ich brauche von irgendjemanden ein Update, was Lupa angeht.«
Alex wirbelt in ihrem Drehstuhl herum; sie hat dunkle Ringe unter den Augen, die mir sagen, dass sie sich, wenn das alles vorbei ist, freinehmen und in den Urlaub fahren sollte. »Hast du bei der Polizei nichts gehört?«
Ich schüttle den Kopf. »Heute Nacht wurde nur alles schnell erledigt. Ich wurde verhört, habe den Bericht unterschrieben, in dem steht, dass wir Lupa untersucht haben, weil er sich in den Computer des Senator gehackt hat« – natürlich habe ich Hadley nicht erwähnt – »und dann bin ich gegangen.« Was nichts Ungewöhnliches war. Es waren zuvor schon Zielpersonen in meiner Gegenwart gestorben, einige waren sogar von Mitgliedern meines Teams oder mir selbst umgebracht worden. Es folgte immer eine kurze Untersuchung, aber schlussendlich wurden diese Tode als Notwehr deklariert.
»Na ja«, fährt Alex fort und dreht sich wieder zu ihrem Computer herum, »in der Polizeidatenbank ist bisher nichts aufgetaucht, was bedeutet, dass sie entweder noch Beweise sammeln, oder derjenige, der den Bericht schreibt ist faul und hat bisher noch nichts eingetragen.«
Nicht das, was ich hören wollte. Ich brauche eine Spur. Irgendetwas, das mir die richtige Richtung zeigt. Und jetzt gehe ich davon aus, dass wir es mit einigen professionellen Scharfschützen zu tun haben, denn wer auch immer den Schuss auf Caleb abgefeuert hat, war ziemlich weit entfernt, denn wir haben ihn nicht gesehen. »Irgendetwas von der Spurensicherung?«
»Negativ. Sie sind gerade erst mit dem Haus fertig geworden«, berichtet Alex, tippt schnell etwas ein, bis ich den Bericht auf den Bildschirmen an der großen Wand aufblinken sehe. »Der Bericht liefert keine Ergebnisse. Es wurden keine Fingerabdrücke gefunden. Nicht ein einziges Haar. Es war ein sehr sauberer Job.«
»Und was ist mit der CD, auf der sich das Video befindet?«, frage ich.
Jenny antwortet mir. »Keine anderen Fingerabdrücke, nur Calebs.«
Ich sehe aus dem Augenwinkel zu Jeff, der neben Jenny sitzt. »Schon Glück bei der Durchsuchung von Calebs Computer gehabt?«
»Leider nein«, brummt Jeff. »Und das war es mit meinem Weihnachtsbonus.«
Er wird sowieso einen bekommen, aber es gefällt mir, wenn sie glauben, sie müssen ihn sich verdienen.
Frustriert, weil es kaum Neuigkeiten oder hilfreiche Informationen gibt, presse ich die Hände auf die Rückseite des leeren Stuhls vor mir. »Irgendetwas muss sich verändert haben.«
»Was meinst du damit?«, fragt Alex.
Ich hebe den Kopf. »Wir hatten Lupa gerade erst hochgenommen, und der Senator war zu dem Zeitpunkt bereits angeschossen worden. Warum hat die Person, die hinter allem steckt, geglaubt, jetzt handeln zu müssen?«
Alex schweigt einen Moment lang, ihr Blick wandert zur Decke.
»Das hier könnte der Grund sein«, meldet sich Jeff zu Wort, tippt etwas auf seiner Tastatur ein, und ein Zeitungsartikel taucht auf dem Bildschirm auf. Die Schlagzeile lautet: SIE SIND REICH! BEZAHLEN SIE MEHR STEUERN! »Der Senator war ein deutlicher Unterstützer dieser Steuerpolitik.«
»Erklärst du mir, was ich mir da gerade ansehe?«, frage ich, weil ich keine Zeit habe, um den Artikel zu lesen.
Er legt los: »Es soll ein Gesetzesentwurf durchgesetzt werden, der die Reichen stärker besteuern soll.«
Geld. Genau das Motiv, das ich bei dem Erpresser vermutet hatte. Geld ist schlussendlich, neben Macht, die stärkste Motivation, wenn es um politische Gewalt geht. »Und die Abstimmung dazu findet am Dienstag statt?«
»Ja«, erwidert Jeff.
Was wohl erklärt, warum der Erpresser wollte, dass der Senator bis Montag zurücktritt. Offensichtlich ist diese Abstimmung wichtig. »Alles klar, gib mir die Namen von allen, die gegen dieses Gesetz sind. Dort fangen wir an.«
»Das ist etwas, was ich für dich herausfinden kann.« Er dreht sich wieder zu seinem Computerbildschirm herum.
Bevor seine Finger auch nur eine Taste auf dem Keyboard berühren können, sagt Alex: »Ich habe die Liste hier.«
Eine Datei mit der Namensliste erscheint auf dem Bildschirm, der Alex am nächsten ist.
»Im Ernst?« Mit wütendem Blick dreht Jeff sich mit seinem Stuhl zu Alex herum. »Wie zur Hölle hast du das so schnell hinbekommen?« Sie will ihm gerade antworten, aber er winkt ab. »Ja, ja, das ist es eben, was du tust.«
Sie lächelt. »Du kannst die Göttlichkeit in diesem Körper eben einfach nicht nachahmen.«
»Oh, bitte«, schnaubt Jeff.
Ich schüttle den Kopf und versuche mich wieder zu fokussieren. »Wir müssen anfangen, die Namen auf der Liste auszusieben. Ich schätze, wer auch immer dahintersteckt, war irgendwann in der Vergangenheit schon einmal gewalttätig. Der Durst nach Macht setzt oft schon früh ein.«
Alex nickt, lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkt die Arme hinter ihrem Kopf. »Aber es fällt mir schwer zu glauben, dass irgendjemand nur wegen des Geldes zu solchen Extremen greifen würde. Ja, es ist ein guter Motivator. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir irgendetwas übersehen.«
Ich nicke zustimmend. Meine Instinkte sagen mir dasselbe. »Es muss sich um mehr drehen als nur ein neues Steuergesetz, auch wenn das ein guter Punkt ist, an dem wir anfangen können.« Ich muss herausfinden, was es ist, denn um Hadley und den Senator beschützen zu können, müssen wir herausfinden, was den Erpresser antreibt. »Um ehrlich zu sein, möchte ich dem logischen Weg nicht folgen. Diese Leute scheinen uns immer einen Schritt voraus zu sein und legen diese falschen Fährten für uns aus.« Das ist ein Fehler, den ich nicht noch einmal machen werde.
Alex nickt. »Es sieht ganz so aus.«
Ich reibe mir mit den Händen über meine müden Augen und füge hinzu: »Wir müssen ein Auge auf Hadley haben, bis wir oder die Polizei herausgefunden haben, wer hinter alldem steckt.«
Alex Augenbrauen ziehen sich langsam zusammen, und auf ihrem Gesicht zeigt sich ein verwirrter Ausdruck. »Wo wir gerade von Hadley sprechen, wo ist deine Freundin gerade?«
»Ist das nicht offensichtlich?«, frage ich verwirrt. »Sie ist im Krankenhaus, mit ihrem Vater.«
»Ähm, nein, da ist sie nicht.« Alex dreht sich wieder zu ihrem Computer, und ihre Finger fliegen über das Keyboard.
Eine Sekunde später sehe ich auf einem der Monitore an der Wand die ersten Aufnahmen aus den Fluren des Krankenhauses aufflimmern; Alex hat sich wohl in die Sicherheitskameras gehackt. Die Slideshow hält schließlich am Wartezimmer.
»Wir haben das Krankenhaus im Auge«, erklärt Alex und lenkt meinen Blick damit wieder auf sich. »Sie ist nicht dort.«
Ich gehe auf den Bildschirm zu, um einen besseren Blick darauf zu bekommen, und mustere die drei Frauen und vier Männer, die auf den Stühlen warten. Keiner davon ist Hadley. Ich greife in meine Tasche, ziehe mein Handy heraus und rufe Lee an. Er geht nach dem ersten Klingeln ran. »Lee, Ryder hier. Hast du Hadley schon zum Krankenhaus gefahren?«
»Negativ«, erwidert Lee. »Sie ist immer noch nicht runtergekommen.«
»Was soll das heißen, sie ist noch nicht runtergekommen? Ich bin vor über einer Stunde gegangen.«
»Dort oben war es eine Weile still, und dann hat sie die Dusche angestellt«, erklärt Lee. »Nach allem, was geschehen ist … ich wollte sie nicht drängen … warte mal einen Moment.« Dann kann ich hören, wie er in sein Headset im Ohr spricht: »Shawna, ist Hadley immer noch unter der Dusche?« Eine Pause. Dann: »Ja, Ryder, das ist korrekt, sie duscht.«
Natürlich weiß ich, dass eine Dusche überhaupt nicht nötig ist, denn ich habe sie selbst gewaschen. »Lee, bitte sieh nach ihr.« Ich versuche, meine Stimme emotionslos klingen zu lassen, und scheitere kläglich.
Ich kann hören, wie Lee die Treppen hinaufgeht, und dann an die Badezimmertür klopft. »Ms Winters?« Die Stille, die ich sogar durch die Telefonleitung wahrnehmen kann, raubt mir den letzten Nerv. »Ms Winters, bitte öffnen Sie die Tür.« Wieder eine Pause. »Erlaubnis, die Tür zu öffnen, Sir?«
»Gewährt.«
»Sie ist abgeschlossen.«
Ich beginne vor den Bildschirmen auf und ab zu laufen, und jeder, der sich gerade mit mir im Raum befindet, steht jetzt. »Tritt sie ein.«
Zwei laute Tritte gegen die Tür später sagt Lee: »Ms Winters –« Dann hält Lee den Atem an, und seine Stimme ist belegt vor Sorge. »Da ist Blut auf dem Boden. Augenblick. Ich kann es jetzt sehen – es führt in das anliegende Schlafzimmer und dann den Flur entlang.« Ich kann hören, wie er sich atemlos bewegt. Bis er das Schweigen bricht: »Das Blut führt zurück zur hinteren Treppe und durch die Tür des Privatgartens.«
Der Lieblingsgarten des Senators bietet perfekten Zugang zu der Seitenstraße, wo, wie ich sicher weiß, mein Team an diesem Abend nicht platziert war. Anspannung erfasst mich so schnell, dass mein Atem einfach weg ist, denn mir wird klar, wer auch immer den Senator angeschossen hat, war wahrscheinlich noch im Haus. Die Polizei hat mir gesagt, sie hat das Haus durchsucht, und es wäre niemand mehr da. Sie lagen falsch.
Lee sagt: »Das Blut, Sir …«
»Was ist damit?«
»Es endet am Bordstein.«
Als ich langsam aus der Ohnmacht erwache, ist das Erste, was ich höre, das langsame Tropfen von Wasser. Ich wurde nicht auf sanfte Weise geweckt, wie meine Mutter es früher jeden Morgen getan hat. Dieses Erwachen war mehr wie ein plötzlicher elektrischer Schlag, der sich durch den Nebel in meinem Hirn kämpft. In meinem Hinterkopf herrscht ein Pochen, gegen das eine Migräne alt aussieht, und ganz langsam setzt mein Kopf die Puzzleteile zusammen, bis mir wieder einfällt, warum ich hier bin.
Ich erinnere mich daran, wie Ryder mich geküsst und dann das Badezimmer verlassen hat. Ich erinnere mich daran, wie ich zurück zum Waschbecken gegangen bin, um mir das Gesicht zu waschen. Ich erinnere mich daran, wie die Badezimmertür geöffnet wurde, und das Letzte, woran ich mich erinnere, ist der Schlag von etwas Hartem gegen meinen Schädel, so hart, dass meine Zähne klapperten.
Danach erinnere ich mich an nichts mehr.
Tropf, tropf, tropf … Das Wasser fällt weiter in konstantem Rhythmus, und die letzten Nebelfetzen in meinem Kopf weichen weit genug zurück, dass ich meine Augen öffnen kann. Erst da wird mir klar, dass ich mich nicht im Badezimmer meiner Eltern befinde, dass ein Seil um meine Handgelenke geschlungen ist und ich damit an einen hölzernen Stuhl gefesselt bin.
Ich keuche, bäume mich auf und lasse meinen Blick von links nach rechts durch das Zimmer wandern.
Neonröhren flackern über mir. Der Boden unter meinen Füßen besteht aus Beton, und neben ihnen hat sich eine Pfütze aus dem herabtropfenden Wasser von der Decke gebildet. Die Luft ist feucht und abgestanden und riecht moschusartig, und das Einzige, was sich außer mir, dem Stuhl und dem Seil noch in diesem tristen Raum befindet, ist eine Videokamera auf einem Stativ, die direkt auf mein Gesicht gerichtet ist.
Ich rutsche auf dem Stuhl herum, höre damit aber wieder auf, als das Seil über meine Haut schabt, und versuche herauszufinden, warum ich mich hier befinde. Und wer würde mir das antun? Geschieht das gerade, weil der Mordanschlag auf meinen Vater fehlgeschlagen ist? Es gibt so viele Fragen und keine Antworten dazu … und ich bin verwirrter als jemals zuvor.
Wieder versuche ich, mich zu befreien, aber das Seil ist straff verknotet und unnachgiebig. »Fuck«, zische ich und versuche, mich herauszuwinden. Die Wände sind viel zu nah. Die Luft zu trocken. Ich fühle etwas Klebriges auf meinem Gesicht und kann nur raten, dass es sich dabei um Blut handelt, und Panik beginnt sich in mir auszubreiten. Mir wird heiß, und mein Herz rast.
Beruhige dich. Atme.
Langsam bekomme ich mich wieder unter Kontrolle. Panik wird mir gar nichts einbringen, außer den Tod. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Ich bin mir nicht sicher, ob es an dem Schlag auf den Kopf liegt, oder ob man mir etwas gegeben hat, aber meine Augenlider fühlen sich schwer an, ebenso, wie mein Körper.
Ryder …
Meine Brust zieht sich vor Sehnsucht nach seiner Stärke zusammen, aber ich kämpfe diesen Ansturm der Gefühle nieder, weigere mich, ihnen nachzugeben. In diesem Augenblick wird mir niemand anderes helfen als ich selbst.
Ich konzentriere mich auf meinen Atem und meine Umgebung, blicke mich im Zimmer um. Ich sehe keine Türen, aber die Ecken liegen im Schatten, daher nehme ich an, dass sich irgendwo in der Dunkelheit eine Tür versteckt. Es ist nicht das tröstlichste Gefühl, da ich nicht weiß, was sich noch dort verbirgt.
Ich spüre, wahrscheinlich instinktiv, dass ich nicht allein in diesem Raum bin. In diesem Moment treten zwei Männer aus den Schatten, aber nur einer von ihnen kommt auf mich zu. Ich kenne ihn nicht. Aber die Tatsache, dass ich seine dunklen Augen, das dünne Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen und dem fliehenden Kinn sehen kann, jagt mir mehr Angst ein als alles andere. Mein Entführer verbirgt seine Identität nicht vor mir – was mich glauben lässt, er hat nicht vor, mich wieder gehen zu lassen.
Dennoch mustere ich ihn, schätze in Gedanken seine Größe ein. Er ist groß – ich schätze mindestens eins neunzig. Aber er ist nicht schlaksig, dieser Typ ist breit und besteht nur aus Muskeln, und es ist ziemlich offensichtlich, dass er viele Stunden damit verbringt, Gewichte zu stemmen. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und schwarze Jeans, und beides spannt über seinem massigen Körper. Aber es ist die Art, wie er sich bewegt, die meine Aufmerksamkeit erregt. Er kommt näher, seine dunklen Stiefel schlurfen über den Betonboden. Seine Ruhe bereitet mir Sorge. Sehr viel sogar.
Als er vor mir stehen bleibt, fühle ich mich nicht einmal mehr wie ein Mensch. Der kalte Blick seiner dunklen Augen, mit dem er mich betrachtet, gibt mir das Gefühl, ich wäre nichts weiter als ein Ding, nur dazu da, dass er mich auf jede Weise manipulieren kann, die ihm gefällt.
Er macht einen letzten Schritt auf mich zu, bis er vor mir steht, und mein Herz schlägt mir bis zum Hals, meine Handgelenke und Knöchel brennen, weil ich so sehr versuche, von ihm wegzukommen. Anstatt mich verbal einzuschüchtern, wie ich es eigentlich von jemandem wie ihm erwartet hatte, schiebt er seine Hand in mein Haar und bringt es in Unordnung. Dann fährt er mit den Fingern über meine Wunde. Ich stöhne vor Schmerz, und er fährt mit denselben Fingern über mein Gesicht, verschmiert mein Blut auf meiner Wange und meinem Hals.
Als er mein Kinn umfasst, dreht sich mir der Magen um. Er dreht meinen Kopf hin und her, dann tritt er zurück. Offensichtlich ist er zufrieden mit seinem Werk.
Noch immer schweigend geht er zu dem anderen Mann und kehrt dann mit einem Blatt Papier zurück. Er legt es auf meine Knie.
Ich senke den Blick, kämpfe gegen meine verschwommene Sicht an und lese die mit Maschine getippten Worte. Mein Rücken richtet sich kerzengerade auf, und ich konzentriere mich sofort wieder auf meinen Entführer. »Was ist das? Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
Die einzige Antwort, die ich bekomme, ist sein düsteres Grinsen. Seine leblosen Augen füllen sich mit Lust und bringen mich dazu, all meine Unsicherheiten und Ängste an dem Ort zu verstecken, wo dieser Typ sie niemals erreichen kann. Denn das, fürchte ich, ist etwas, was er genießen würde.
Dann wird mir klar, wen ich da vor mir habe. Den Mann, der versucht hat, meinen Vater zu töten. Ich bezweifle, dass dieser Typ hinter der Forderung steckt, mein Dad soll zurücktreten, und vielleicht ist der andere Mann dafür verantwortlich, aber ich zweifle auch nicht an meinen Instinkten, und die brüllen mir zu: Killer!
»Ich werde das nicht vorlesen, was hier steht«, sage ich sehr fest.
Er stellt sich breitbeiniger hin, schiebt seine Hände in seine Taschen und seine Augenbrauen sind zusammengezogen. »Ich werde diese Kamera anstellen, und du wirst vorlesen, was da geschrieben steht«, sagt er mit einem dicken russischen Akzent. »Hast du verstanden?«
Ich schiele auf das Papier herunter und lese noch einmal den Text, den ich laut verlesen soll. Ryder wird dieses Video sehen. Vielleicht sogar mein Vater. Mag sein, dass ich im Nachteil bin, aber meine Eltern haben mich dazu erzogen, vor Grausamkeit nicht einzuknicken. »Es wird auf keinen Fall –«
Aus dem Augenwinkel sehe ich etwas aufblitzen, dann bleibt mir der nächste Atemzug im Hals stecken, und als ich zurückzucke, drückt sich kaltes Metall gegen meine Stirn.
Seine Stimme ist jetzt leiser, kälter. »Hast. Du. Das. Verstanden?«
Mir bleibt keine Wahl. Er hält die Fäden in der Hand.
Gott, ich will mich weigern. Ich hasse es, irgendjemandem so viel Kontrolle über mich zu geben. Aber als mein Körper zu zittern beginnt, wird mir klar, ich bin hilflos, kann ihm nicht verweigern, was auch immer er von mir will, denn ich habe nicht die Kraft, ihm etwas entgegenzusetzen. Und ich bin nicht dumm. Ich will nicht sterben. Nicht heute. Nicht so.
Ryder … tönt es wieder aus meinem Herzen, aber er ist nicht hier. Niemand ist hier. Nur ich. In diesem dunklen Raum. Mit zwei angeheuerten Killern.
»Ja. Ja«, keuche ich, bin steif wie eine Statue vor Angst. Wenn ich mich bewege, wird der Abzug an der Waffe das auch tun. »Ich habe verstanden.«
Der Mann erwidert nichts, nicht, dass ich das wirklich erwartet hätte. Er tritt hinter die Kamera und schaltet sie ein, dann bedeutet er mir mit der Pistole, zu beginnen.
Als ich den Blick senke und noch einmal lese, was auf der Seite geschrieben steht, mir die Worte einpräge, dreht sich mir der Magen um. Ich kann das tun. Ich muss das tun. Ich brauche Zeit, damit Ryder herkommen kann. Er muss wissen, dass es mir gut geht. Verängstigt, aber gut, und es wird mir auch gut gehen – hoffe ich zumindest –, bis er hier eintrifft.
Nach meinem stummen Aufmunterungsversuch atme ich tief ein und finde eine Kraftquelle tief in mir. Ich hebe den Kopf und blicke direkt in die Kamera. »Dad, es fehlt mir nichts, und mein Leben ist gerade nicht in Gefahr, aber das wird sich ändern, falls du nicht deinen Rücktritt verkündest. Jetzt hast du einen guten Grund dafür. Du brauchst Zeit, um gesund zu werden, und du machst das für deine Familie. Es gibt keine weiteren Chancen. Die Zeit ist offiziell abgelaufen.«
Neben der Kamera bewegt sich der Mann wieder auf mich zu. Dieses Mal trägt er eine Maske, und es braucht meine ganze Selbstbeherrschung, um mich nicht zusammenzukauern, während ich hinzufüge: »Falls die Rücktrittserklärung nicht bis zum Morgen gemacht wurde …«
Er drückt die Pistole gegen meine Schläfe. Ich schließe meine Augen, wünsche mir, Ryder würde jede Sekunde durch die Tür gestürmt kommen und den Mann neben mir töten.
Als eben dieser Mann die Mündung der Pistole fester gegen meinen Schädel drückt, öffne ich die Augen wieder und schaffe es, die letzte Zeile des Textes vorzulesen, der für mich geschrieben wurde: »… werde ich sterben.«