Kapitel 6

HADLEY

Es ist Samstagabend und schon spät, als ich meine Wohnung betrete, und bevor ich mir auch nur die Schuhe ausziehen kann, fällt die Tür hinter mir ins Schloss, und Ryders harsche Stimme fährt mir durch Mark und Bein. »Erklär mir bitte, was dich geritten hat, mit zwei Fremden in einem Hotelzimmer zu schlafen, wenn dort niemand vor Ort war, der für deine Sicherheit hätte sorgen können?«

Ich bin von dem, was Ryder da gerade von sich gibt, so geschockt, dass ich mir den Knöchel verdrehe, um meine High Heels loszuwerden, bevor ich mich wieder fassen kann. Als ich mich wieder zu ihm umdrehe, sieht er mich düster an. »Da gibt es nicht viel zu erklären.«

Er steht da, die Beine weit auseinander, die Arme vor seiner muskulösen Brust verschränkt und verlangt: »Beantworte die Frage.«

Ryder übertritt nie die Grenze zwischen Privat und Professionell. Soweit ich mich erinnere, ist das nicht ein einziges Mal vorgekommen. Jetzt, wo es geschieht, komme ich ins Schleudern und bin durcheinander. Ich will zu ihm sagen: Weil du mich wieder und wieder zurückweist und mich das langsam umbringt. Aber mit diesem stechenden Blick auf mir braucht es meine ganze Kraft, um überhaupt »Nein« sagen zu können.

Eine Augenbraue hebt sich. »Nein?«

»Genau richtig, nein.« Ich biete ihm die Stirn.

So wie Ryder Grenzen festgelegt hat, die er nicht übertreten wird, habe auch ich welche gezogen. Meine Gefühle gehören mir. Wenn er mir nicht mehr gibt, werde ich ihm auch nicht mehr von mir geben. Es ist ein Spiel, das ich nicht verlieren darf. Sonst verliere ich entweder ihn oder mich selbst.

Ihm wird klar, dass ich nicht nachgeben werde, also unterbricht er schließlich diesen Starrwettbewerb und schüttelt den Kopf in überdeutlicher Frustration. »Warum willst du mir nicht antworten?«

Wahrscheinlich bin ich nach allem erschöpft, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden erleben musste. Vielleicht bin ich es auch einfach nur müde, wieder und wieder dasselbe Spiel mit Ryder zu spielen. Aber ich kann die Frustration in meiner Stimme nicht mehr zurückhalten. »Weil es dich nichts angeht, was ich mache.«

Langsam kneift er die Augen zusammen. »Du. Gehst. Mich. Nichts. An?«

Mir wird sofort klar, ich habe einen Nerv getroffen, und eine schwächere Frau wäre vor all dieser düsteren Männlichkeit zurückgewichen. Aber es gibt einen Haken an der Sache. Ich kenne den Mann vor mir. Seltsamerweise verstehe ich Ryder auf eine Weise, die in meinen Augen nicht einmal Sinn macht. Und aus diesem Grund weiß ich, ich kann ihm nicht mehr von mir geben, ohne nicht im Gegenzug etwas von ihm zu bekommen. Denn wenn ich es ihm einfach geben würde, würde er mich nicht nur nicht respektieren, er könnte mich auch ganz leicht verletzen. »Ja, was ich in meinem Privatleben mache, geht dich nichts an«, sage ich zu ihm, wende mich ab und stelle meine Handtasche auf einem Tischchen ab. »So wie mich dein Privatleben nichts angeht. Du hast es so gewollt, nicht ich.«

Ich kann das Knarren des Holzbodens hören, als seine Füße sich auf mich zubewegen. Im nächsten schockierenden Moment liege ich in seinen Armen, und er dreht mich zu sich um. Endlich spüre ich seine brennende Berührung und kann kaum atmen. Seine Augen sind fest, ernst, so wie seine Stimme. »Ist das das Spiel, das wir jetzt spielen?«

»Ich spiele nicht«, sage ich ihm sehr ernst, gefangen in der Hitze, die zwischen uns brennt. Sie macht süchtig, und ich spüre, wie mir in seinem starken Griff am ganzen Körper heiß wird. »Ich habe nie Spiele mit dir gespielt. Ich war immer geradeheraus. Du weißt genau, wie ich für dich empfinde. Wenn hier jemand ein Spiel gespielt hat, dann du.«

Ich kann an Ryders Gesichtsausdruck sehen, dass ihn meine Worte nicht kalt lassen. Normalerweise sieht man immer nur sein Pokerface, das mir gar nichts zeigt. Aber jetzt nicht. Die Intensität in seinen Augen liegt jenseits von Gefühlen, es ist Magie, denn so sieht Ryder ohne seine ganzen Schutzmauern aus. »Keine Geheimnisse. Nicht mehr. Können wir uns dieses Versprechen geben?«

»Das kann ich dir versprechen«, flüstere ich kaum hörbar. »Es ist ein Versprechen, dass ich dir schon oft angeboten habe.«

Die Emotionen, die sich in seinen Augen spiegeln, bringen mein Herz ins Stolpern, aber als er sagt: »Das Impulse gehört mir«, bin ich mir ziemlich sicher, dass es für einige Sekunden ganz aufgehört hat zu schlagen.

Ich versuche, zu begreifen, was er mir gerade gesagt hat, und scheitere. »Okay, ich bin mir nicht sicher, was mich mehr schockiert: dass du mir etwas Persönliches über dich erzählt hast oder dass du einen Sexclub besitzt.«

Er lacht leise. »Ich bin mir sicher, das ist beides gleich schockierend, aber es ist auch beides wahr.« Er ist nicht zurückgewichen, die Hitze seines Körpers berührt sengend meinen, und er fügt hinzu: »Der Club gehört mir, seit dem Tag, an dem er seine Pforten öffnete. Niemand weiß davon, außer einer Handvoll Menschen, denen ich vertraue.«

Es gibt eine Menge, worüber wir reden müssen, dessen bin ich mir sicher, aber mir liegt die offensichtlichste Frage auf der Zunge. »Bist du ein Dom?«

»Ich genieße …«, er hält kurz inne, wählt seine Worte mit Bedacht, »… ein aktives Sexualleben und Frauen, die in diesen Clubs verkehren, helfen mir dabei, meine Fantasien auszuleben.« Er blickt auf mich herab, und meine Brust hebt und senkt sich hektisch. Das ist das erste Mal, dass ich Ryder ohne seine Schilde sehe, und diese Offenheit ist wie eine Droge, die ich wieder und wieder haben will. Seine Stimme bleibt fest, und er fährt fort: »Aus dem Grund habe ich den Club aufgebaut: Ich wollte Frauen zu meinen Konditionen kennenlernen, weil ich mein Privatleben gerne privat halte und weil ich den Menschen Sicherheit anbiete, die darunter leiden würden, wenn mein Sexskandal jemals publik werden würde.«

Ich lecke mir über die Lippen, stelle mir seine besondere Sexspielart vor, sehe, dass sein Blick der Bewegung meiner Zunge folgt und frage gepresst: »Bis du … bist du gerade mit jemandem zusammen?«

Er schüttelt den Kopf. »In letzter Zeit nicht, nein. Mein Blick war auf etwas anderes gerichtet.«

Und dieser Blick liegt genau auf mir.

Er muss nichts weiter sagen. Ich weiß genau, warum er sonst mit niemandem zusammen war. Wegen mir. Und jetzt sehe ich etwas, was ich vorher noch nie gesehen habe. Ich sehe – vielleicht wegen all der Verwirrung, wegen des Videos und allem anderen –, dass er sich fragt, wie ich mit anderen Männern zusammen sein konnte. Denn mir wird klar, nicht nur ich wusste, dass das zwischen Ryder und mir etwas Besonderes ist, er wusste es auch. Und vielleicht, nur vielleicht, kämpft er sehr viel stärker gegen diese Anziehung zwischen uns an, als ich geahnt habe.

Ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob das unsere Chance ist. Er hat mir gegeben, was ich wollte … mehr. Jetzt bin ich an der Reihe.

»Du willst die Wahrheit über mich wissen?«, frage ich leise und trete zurück, denn ich weiß, ich muss für das, was vor mir liegt, sitzen.

Ich gehe zur Couch, setze mich, und als er sich neben mich setzt, sagt er: »Bitte, fang an.«

In Ryders Nähe fühle ich mich immer sicher, so auch jetzt, darum schließe ich die Augen und lasse zu, dass meine Gedanken an einen Ort wandern, den sie lange nicht mehr betreten haben.

Die Schule ist vor einer Woche zu Ende gegangen, und damit zog die Freiheit ein. Ich drücke meine Hand auf mein Haar, versuche damit dem Wind zu trotzen, der durch das Cabrio rauscht, singe den *NSYNC-Song mit, der aus den Lautsprechern des Autos dröhnt und trommle mit meinen Fingern auf dem Lenkrad herum. Tori sitzt im Beifahrersitz, hat die Hände in die Luft geworfen und singt sogar noch lauter bei dem Song mit als Vicky auf der Rückbank.

Als die Jungs die letzte Zeile singen, dreht Tori die Musik leiser und lächelt mich an; ihr langes braunes Haar, von dem ich mir wünschte, mein Haar wäre genau so, ist vollkommen verwuschelt, aber irgendwie sieht sie damit noch hübscher aus. »Okay, spuck es aus. Hat Jimmy dich gefragt, ob du mit ihm zu der Party gehst?« Ihre Augen strahlen, wie immer, wenn sie sich auf neuen Klatsch stürzt.

»Nö.« Ich halte vor dem Stoppschild und blicke in beide Richtungen, ehe ich in Richtung Autokino fahre.

Vicky beugt sich zu uns vor und sagt: »Oh, er wird so was von fragen.«

»Vielleicht.« Ich will nicht zu aufgeregt wirken, aber ich hoffe, er tut es. Er ist in der Stufe über mir und der Quarterback. Deshalb würde mein Status in der Schule ziemlich in die Höhe schießen, falls er mich fragen würde. Dinge, über die ich mir früher keine Sorgen machen musste, sind auf einmal wichtig geworden.

»Gott«, sagt Tori mit einem Seufzen. »Du hast so ein Glück. Er ist so heiß.«

Ich stimme vollkommen zu. Sein Lächeln bringt mein Herz zum Rasen. »Na ja, du hast aber auch Glück. Paul sieht super aus.«

Tori wechselt den Radiosender und sucht nach einem besseren Lied. »Paul ist nicht Jimmy, aber das ist völlig okay.«

Ihr Lächeln ist zärtlich, und ich weiß, sie mag ihn wirklich. Ja, er ist ein bisschen nerdig, mit seinem ganzen Star-Wars-Gequatsche, aber er ist ein guter Kerl. Und er ist praktisch perfekt für Tori, denn obwohl sie es nicht zugeben will, liebt sie den ganzen geekigen Kram.

»Und was ist mit dir?«, frage ich Vicky und sehe sie im Rückspiegel an. »Hat Craig endlich gefragt?«

»Jep.« Vicky lächelt fröhlich, ihre blauen Augen funkeln. »Er war total aufgeregt dabei und sah aus, als würde er gleich auf seine Schuhe kotzen. Es war richtig süß.« Plötzlich beginnt sie, auf der Rückbank herumzuhüpfen. Oh, oh, ich liebe diesen Song. Dreh mal auf.«

Mit den Gedanken bin ich bei der bald stattfindenden Sommerparty, die einer der reichen Studenten mit einem Haus am See ausrichtet, und den Schmetterlingen in meinem Bauch; ich senke den Blick, um lauter zu machen. Und während Toris und Vickys Gesang das Auto erfüllt, blicke ich wieder auf die Straße und einen Moment lang blendet mich die Sonne.

»Achtung!«

»Ich schwöre dir, ich kann die Schreie noch immer hören, und das brennende Metall riechen«, sage ich, blinzle, um mich aus der Erinnerung zu befreien, und sehe Ryders sanften Blick auf mir. »Obwohl seit dem Unfall schon acht Jahre vergangen sind.«

»Ist das alles, woran du dich erinnerst?«, fragt er, und mir fällt auf, er ist näher an mich herangerückt.

Ich atme den holzigen Hauch seines Aftershaves ein, und seltsamerweise ist seine Nähe alles andere als tröstlich. »Ich weiß nicht mehr, was davor passiert ist. Ich erinnere mich nicht an den Zusammenstoß. Aber ich erinnere mich daran, dass ich zwei meiner Freundinnen aus Kindheitstagen getötet habe. Das werde ich niemals vergessen können.«

»Hadley«, sagt er sanft.

Ich schließe die Augen, nehme all meinen Schmerz und verstecke ihn an einem Ort in meiner Seele, um zu überleben. Erst als ich mich wieder stärker fühle, öffne ich meine Augen und füge hinzu: »Es hat jahrelange Therapie gebraucht, bis mir klar wurde, dass der Autounfall nicht meine Schuld war. Dass es ein Unfall war«, erkläre ich und fühle mich ein wenig abwesend, wie immer. Manchmal … meistens … fühlt es sich an, als wäre das alles ein Traum gewesen und als würde ich über das Leben von jemand anderem reden. »Aber ich denke, ich werde nie vergessen können, dass ich den Laster gesehen hätte, der das Stoppschild überfahren hat, wenn ich nicht wegen des blöden Radios weggesehen hätte. Dass, wenn die Musik nicht so laut gewesen wäre, ich die Hupe des Lasters hätte dröhnen hören. Dass, wenn der Laster meine Seite des Autos gerammt hätte, ich diejenige gewesen wäre, die gestorben wäre und nicht meine besten Freundinnen.«

Ryders Kiefermuskeln zucken einmal und dann noch einmal. »Warum wusste ich nichts von dem Unfall?« Da ist Schmerz in seiner Stimme, und das hat nichts mit dem Pflichtgefühl meinem Vater gegenüber zu tun.

»Dafür muss ich meinen Dad danken. Mein Name stand nie in der Zeitung, und auch wenn ich denke, dass mein Dad deinem Vater von dem Unfall erzählt hat, hat er ihn bestimmt gebeten, darüber zu schweigen.« Ich sehe die Enttäuschung in Ryders Gesicht und füge rasch hinzu: »Er hat nur versucht, mich zu schützen, Ryder.«

Ryder runzelt die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, ob der beste Weg, dich zu schützen, war, dich zum Schweigen zu bringen.«

Das Gewicht auf meiner Brust verschwindet auf einmal. Ich weiß nicht, wie er es manchmal schafft, mich so zu durchschauen. Aber mir wird klar, dass ich mich dadurch nicht entblößt fühle, sondern auf eine Weise mit ihm verbunden, die ich bei niemand anderem spüre. »Das habe ich mich auch schon oft gefragt, ebenso wie mein Therapeut.«

Ich bin überhaupt nicht überrascht, dass er sich nicht auf das konzentriert, was ich sage, sondern seinen Gedanken weiter folgt. »Ist das der Grund, warum du manchmal so leichtsinnig handelst?«

Das ist mit ein Grund, will ich sagen. Nur darum kann ich jeden Tag aufstehen und überleben. Aber Ryder will nicht hören, dass ich mit diesen Männern zusammen bin, weil seine Zurückweisung meinen Schmerz nur größer macht. Stattdessen bleibe ich bei der Wahrheit, die er kennt. »Um ehrlich zu sein bin ich mehr als nur vorsichtig. Ich könnte One-Night-Stands haben, aber das mache ich nicht, weil ich niemandem vertrauen kann, da mein Vater so bekannt ist. Aus dem Grund gehe ich in die Clubs. Dort herrscht ein Level an Privatsphäre, auf das ich mich verlasse … und, na ja, die Männer dort … sind erfahren, was diese Art von Dingen angeht.« Früher, auf dem College, hatte ich ein Date mit einem Möchtegern-Dom, und das hat mich neugierig gemacht. Das hatte mich zu dem einzig Wahren gebracht. In die Hände erfahrener Doms im Afterglow. »Ich brauche die Intensität, den Thrill. Die Aufregung, das Raue und sogar den Schmerz … das alles weckt mich auf. Ich fühle mich …«

»Lebendig?«, wirft er ein.

Ich nicke. »Es ist, als würde sich der Druck in mir immer weiter und weiter aufbauen, und ich kämpfe darum, einen Weg zu finden, wie ich diese Spannung loswerden kann.«

»Diese Erleichterung findest du im Club?«, fragt er.

»Was dort stattfindet, wenn ich im Club bin, bringt mir intensivere Emotionen. Es löst Glück, Angst und sogar Traurigkeit aus, und das sind Gefühle, bei denen ich jeden Tag darum kämpfen muss, dass ich sie fühle.« Der Therapeut nannte meine fehlenden Gefühle PTBS, eine posttraumatische Belastungsstörung. Eine Reaktion ausgelöst durch den Unfall. »Wenn das alles zu viel wird, hilft es mir, mit einem Dom zusammen zu sein, damit die Anspannung verschwindet, wenn das irgendwie Sinn ergibt.«

»Also, für mich ergibt das eine Menge Sinn«, ist alles, was Ryder sagt, und er betrachtet mich eingehend. »Du holst dir jeden Tag, was du brauchst, um atmen zu können, und das macht dich zu einer Kämpferin. Vergiss das nie, Hadley.« Er mustert mich, wie immer, wenn er intensiv nachdenkt, und mein Herz beginnt zu rasen; sein Gesichtsausdruck ist absolut nicht zu deuten. Und als er seine Hand hebt und mit seinen warmen Fingern über meine Wange fährt, kann ich nicht aufhören, ihn anzusehen. Er ist so verdammt real. An ihm ist absolut nichts falsch. »Du hast dich deinem Schmerz gestellt«, sagt er sanft, »und hast überlebt, und das braucht Kraft.«

Mir schwirrt die unbeantwortete Frage, wo das mit uns beiden hinführen soll, im Kopf herum, und da zieht er mich in seine Arme und drückt mich fest an sich.

Das ist alles, was ich brauche. Alles, was ich jemals brauchen werde.