Zweiundvierzigstes Kapitel

Emily

Ich wusste nichts, bis zu dem Moment, als Janice Rothschild plötzlich mitten im Zimmer stand und schrie: »STOPP! Emily! Stopp!«

Ich erstarrte. Irgendwelche Leute kamen angelaufen.

Janice sagte etwas zu einer der Schwestern, die versuchte, mir Charlie wegzunehmen, also hielt ich ihn ganz fest. Janice wurde aus dem Zimmer geführt. Sie weinte. Sie hatte eine Hand vor den Mund geschlagen, als hätte sie sich übergeben oder etwas mit ansehen müssen, das zu grässlich war, um es zu begreifen. Sekunden später war auch Shazia da.

Ich wusste nicht, was los war, nur dass es etwas Schlimmes sein musste. Vor zwei Tagen hatten sie die Dosierung meiner Antipsychotika herabgesetzt. Hatte ich womöglich irgendwas Verrücktes angestellt? Ich versuchte, die vergangene Stunde zu rekapitulieren, aber da war nichts, nur ein Meer glutroter Panik. Ein kreischendes Gitarrenriff spielte wieder und wieder in meinen Ohren, wie um mich daran zu hindern, dass ich mich erinnerte.

»Hilf mir«, sagte ich zu meiner Betreuerin. »Shazia, was machen die da?«

Shazia, die zum ersten Mal, seit ich hier war, sichtlich erschüttert wirkte, hockte sich neben mein Bett, wo ich saß und mich an Charlie klammerte.

»Wir müssen mit dir reden«, sagte sie. »Ohne Charlie. Gibst du ihn mir, Emily?«

Ich fing an zu weinen. »Warum? Was habe ich getan? Warum darf er nicht bei mir bleiben? Warum darf ich ihn nicht im Arm halten?«

Shazia legte mir beide Hände auf die Knie. »Vertraust du mir?«, fragte sie. »Vertraust du mir genug, dass ich ihn eben mitnehmen darf, damit wir uns in Ruhe unterhalten können? Und dann bringe ich ihn dir wieder zurück?«

Schluchzend legte ich ihr meinen kleinen Jungen in die Arme. Auch ohne zu fragen, wusste ich, dass mir keine andere Wahl blieb.

»Was ist passiert?«, fragte Shazia, als sie ohne ihn zurückkam. »Was hast du gemacht, Emily? Woran kannst du dich erinnern?«

Ich sagte ihr, dass ich es nicht wusste. Ich sagte es ihr wieder und wieder, bis meine Stimme sich vor Panik überschlug. Was dachten die denn alle, was ich getan hatte? Warum hatte Janice mich angeschrien?

»Was ist mit Charlie?«, fragte ich schließlich. »Ist er krank?«

Sie sagte mir, sie hätten ihn gerade untersucht, und allem Anschein nach fehlte ihm nichts. Da schluchzte ich schon wieder. Was immer ich getan hatte, es musste etwas Ernstes gewesen sein.

Irgendwann nahm Shazia mich dann an die Hand und führte mich in einen Raum, wo schon der Psychiater auf mich wartete, der jeden Morgen zu uns ins Haus kam. Und dann war da noch ein weiterer Mann, den ich nicht kannte, der sagte, er sei Sozial­arbeiter. Er hatte große feuchte Augen, in denen ich sehen konnte, dass ich etwas falsch gemacht haben musste, trotz des schiefen Lächelns, mit dem er mich bedachte. So ein Lächeln, wie es die Leute immer dann aufsetzen, wenn man ihnen leidtut, sie aber nicht zu nett zu einem sein dürfen.

Shazia sagte mir, ich solle mich setzen, und erklärte mir dann, Janice sei ins Zimmer gekommen, gerade als ich versucht hatte, Charlie zu ersticken.

Undurchdringliches Schweigen legte sich über den Raum. Ich starrte sie an, sie starrten mich an. Gerade wollte ich schon laut Nein sagen, da sah ich es: Charlie, auf meinem Bett, und ein blassblaues Rechteck, das sich über sein Gesicht senkte. Mir blieb das Herz stehen, während ich dieses Bild zu deuten und umzudeuten versuchte, aber ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte, es blieb, was es war. Die Hände, die das blaue Rechteck gehalten hatten, waren meine gewesen.

Die drei ande­ren Personen im Zimmer schauten mich an. Da hing eine Uhr mit einer fast leeren Batterie, der große Zeiger zuckte nutzlos zwischen der Drei und der Vier.

Wieder rief ich mir das Bild ins Gedächtnis. Charlies Gesicht, wie er lachte und dann verschwand, während ich das blaue Rechteck über sein Gesicht senkte. Ein Kissen? Eine gefaltete Strickjacke?

Mir entfuhr ein seltsamer Laut. Es war mein Kissen gewesen.

»Janice ist … Sie könnte recht haben«, wisperte ich ungläubig. Mein ganzes Leben brach mir unter den Füßen weg. »Ich glaube … o Gott, nein.«

»O Gott, nein, was?«, hakte Shazia nach.

Ich schloss die Augen. »Ich glaube, sie hat recht.«

»Ganz sicher?«, fragte Shazia. Ich schlug die Augen auf. »Ich meine, bestimmt …«

Der Sozialarbeiter schaute sie an, und sie unterbrach sich. »Erzähl uns einfach, was passiert ist, alles, woran du dich erinnern kannst«, sagte sie sanft.

Ich dachte wieder daran, an dieses Kissen. Hatte ich ihn damit ersticken wollen? Wirklich? Diesen kleinen Jungen, der schon jetzt die Liebe meines Lebens war?

Ein Stich in meinem Bauch, ein Schmerz wie Feuer. Genau das hatte ich vorgehabt. Das Kissen fest auf seinem Gesicht, dann wäre er sicher, weit weg von mir und dieser schrecklichen Welt.

Ich musste an Charlies vertrauensvolles Gesichtchen denken und schrie sie an, weil sie meine Dosierung herabgesetzt hatten. Ich hab euch doch gesagt, ich bin noch nicht so weit!, brüllte ich. Ich hab es euch gesagt!

Irgendwie brachte Shazia mich dazu, dass ich mich wieder hinsetzte.

Wir mussten es noch mehrmals durchgehen. Und jedes Mal tauchten neue Einzelheiten aus dem Schlick auf, und jede Einzelheit war unerträglich. »Ihr habt mir gesagt, Frauen in meinem Zustand tun ihren Kindern nichts an«, sagte ich immer wieder. »Ihr habt mir gesagt, es könne ihm nichts passiert. Ihr habt das gesagt. Ihr habt das gesagt.«

»Das passiert unglaublich selten«, entgegnete Shazia hilflos. »Und sollte es doch mal vorkommen, dann eigentlich nie absichtlich. Die Mütter wollen eigentlich nie …«

»Natürlich wollte ich das nicht«, heulte ich. »O Gott, hilf mir. Hilf mir.«

Später brachten sie mich wieder auf mein Zimmer und gaben mir Charlie zurück. Er schlief. Eine der Schwestern blieb bei mir im Zimmer, und ich wusste, ohne zu fragen, dass sie mich nicht allein lassen durfte.

»Es tut mir leid, so leid«, sagte ich wieder und wieder zu meinem schlafenden Kind. »Ich hab dich so, so lieb. Ich hab dich so lieb wie sonst nichts auf der Welt. Ich hab dich lieb.«

Ich wollte sterben.

Meine Medikamente wurden umgestellt. Ich schlief zwei ganze Tage. Als ich aufwachte, rief ich Janice an.

»Ich will die Adoption«, sagte ich zu ihr.

Sie versuchten, mich davon abzuhalten. Es gab endlose Treffen und Beratungen, selbst die ande­ren Mütter versuchten, es mir auszureden. Aber im Grunde genommen war es ganz einfach: Ich wollte Charlie in Sicherheit wissen. Ich wollte, dass er ein gutes Leben hatte – ein tolles Leben sogar –, und das ging bei mir nicht.

Nachts lag ich wach zum Klang des Gitarrenriffs, das eingesetzt hatte, als Janice mich auf frischer Tat ertappte, und das in meinem Kopf endlos widerhallte wie ein Schrei. Mein Körper war ein einziger Schmerz ohne Befund. Kein Medikament, das sie mir gaben, machte es irgendwie erträglicher, und ich konnte nichts weiter tun, als zu weinen und Charlie wieder und wieder zu sagen, wie leid es mir tat.

Mein Herz brannte vor Selbsthass. Es zerfraß sich zu einem harten Klumpen, und als sie endlich einsahen, dass ich Charlie an Janice und Jeremy übergeben wollte, zersprang es wie Glas.

Ich fürchtete damals, es würde nie heilen. Und das ist es auch nicht.