Emma hat eine alte Freundin aus Unizeiten, Jill, mit der sie sich einmal im Monat zum Essen trifft. Sie haben zusammen Meeresbiologie studiert und in St. Andrews im selben Wohnheim gewohnt, und obwohl mir ihre Freundschaft immer eigenartig überspannt erschien, ist Emma ihrer Jill über die Jahre geradezu verbissen treu geblieben.
Nur ganz selten werde ich zu einem ihrer Dinner eingeladen, aber das ist wohl auch besser so, denn obwohl ich Jill eigentlich mag, werde ich nicht recht schlau aus ihr. Sie gehört zu den Leuten, die in geschriebenen Sätzen reden, nicht in hundsgewöhnlicher Umgangssprache, was Unterhaltungen mit ihr eher anstrengend macht – als wäre man unversehens in einem Theaterstück gelandet und hätte seinen Text vergessen. Außerdem finde ich ihren Humor ziemlich beißend, um nicht zu sagen ätzend, auch wenn Emma sich über ihre Witze schlapplacht.
Aber ich glaube, Jill und ich wären nie aneinandergeraten, hätte sie vor drei Jahren nicht unangekündigt bei uns auf der Matte gestanden und wäre einfach bei uns eingezogen.
Pünktlich zu Rubys errechnetem Termin war sie da. Ist ganz selbstverständlich unseren Gartenpfad hochspaziert, als ich gerade mit der watschelnden Emma zum Brunch gehen wollte, in der Hand eine große Übernachtungstasche und eine Schachtel dunkler Schokoladentrüffel. (Ich kann dunkle Schokoladentrüffel auf den Tod nicht ausstehen, aber gut, Geschmäcker sind halt verschieden.)
»Einen wunderschönen guten Morgen euch beiden«, flötete sie, als sei nach ihrer Anwesenheit verlangt worden. »Ich richte mich schon mal ein, während ihr unterwegs seid, und beginne mit einigen leichten Haushaltstätigkeiten.«
Emma hatte mich an die Hand genommen und sanft die Straße hinuntergezogen. »Ich hab dir doch gesagt, dass sie uns ein bisschen unterstützen soll, wenn das Baby kommt.«
Was sie tatsächlich gesagt hatte, war, sie mache sich Sorgen um ihre psychische Verfassung nach der Geburt des Kindes und wolle Jill bitten, auf Abruf bereitzustehen, sollte irgendwas schieflaufen. Dass Jill bei uns einziehen würde, war nie Thema gewesen.
Ruby wurde geboren, und Jill blieb noch zwei Wochen. Wir waren zu Tode erschöpft, in unseren Grundfesten erschüttert – und mussten uns das ohnehin schon viel zu kleine Häuschen nun auch noch mit einer weiteren Person teilen. Am Ende bereute es Emma, glaube ich, selbst, Jill eingeladen zu haben – als die postnatale Depression alles niederwalzte wie ein Panzer, da klammerte sie sich an mich, nicht an Jill.
Am Ende betrachtete ich es als einen etwas überzogenen Freundschaftsbeweis, den ich nicht verstehen konnte oder wollte. Mitleid mit Jill vielleicht, die sich wohl sehnlichst ein Baby wünschte. Vielleicht hatten sie als junge Frauen ja einen Pakt geschlossen. So oder so war jetzt ohnehin nicht der richtige Augenblick, mit Emma darüber zu streiten. Irgendwann zog Jill wieder in ihre eigene Wohnung, und ich hielt den Mund.
Heute Abend findet wieder Jills und Emmas monatliches Stelldichein statt, also habe ich mich mit Emmas Nachruf in unser klitzekleines Arbeitszimmer verkrümelt. Es wird dauern, die gramerfüllten Zeilen in meinem Notizbuch in etwas Druckreifes umzustricken, aber ich habe Whiskey und Feigengebäck und noch mindestens zwei Stunden Zeit, ehe Emma wieder nach Hause kommt.
Unser Haus ist von dichtem Blattwerk umhüllt, das, da bin ich mir ziemlich sicher, mit seinen winzigen Füßchen die Bausubstanz schädigt, aber Emma weigert sich strikt, irgendwas dagegen zu unternehmen. Durch den stetig kleiner werdenden Rahmen unseres Fensters sehe ich einen lila seidigen Himmel, der sich zusehends verdunkelt.
Ich lese die Einleitung noch mal und lasse eine von Rubys Murmeln über den Schreibtisch kullern.
Meeresbiologin und Fernsehmoderatorin Emma Bigelow, die im Alter von ?? Jahren gestorben ist, war begeisterte Sammlerin herrenloser Hunde und beinahe im Alleingang dafür verantwortlich, die Ökosysteme der britischen Küste ins Bewusstsein der Allgemeinheit gerufen und die Einrichtung umfangreicher Schutzgebiete angestoßen zu haben. Sie war ein Vorbild für Frauen in der Meeresbiologie und hat Preise und Forschungsstipendien gewonnen, die zuvor jahrzehntelang allein Männern vorbehalten waren. »Mehr wert als zwanzig dieser drögen Rabenvogel-Anbeter, die sonst solche Sendungen moderieren« (The Times, Oktober 2014), war Bigelow von 2013 bis 2015 für zwei Staffeln das Gesicht der beliebten BBC-Reihe Unser Land. Im Anschluss an die erste Staffel richteten Fans einen anonymen Instagram-Account ein, der einzig und allein Clips ihrer windmühlenartigen Gestik gewidmet ist. Bigelow selbst sagte auf Nachfrage, sie finde das köstlich.
Nach zwei Staffeln kehrte Emma Bigelow zu ihrer Lehrtätigkeit an der University of Plymouth und dem University College London zurück. »Ich bin mehr Polyp als Mensch«, sagte sie damals. »Ich bin heilfroh, wieder in der Gezeitenzone zu sein, aber das kostenlose Mittagessen fehlt mir schon sehr.«
Was ich nicht dazugeschrieben habe, ist, dass sie mir das mit tränenüberströmtem Gesicht gesagt hat, und auch nicht, dass ich, als sie mir das sagte, herumgelaufen bin wie ein Silberrücken und gedroht habe, die BBC wegen Verstoßes gegen das Kündigungsrecht zu verklagen.
Emma Merry Bigelow wurde hineingeboren in das Wanderleben eines Militärangehörigenkindes, stationiert unter anderem in Plymouth, Taunton und Arbroath. Ihr Vater war Militärgeistlicher bei den Royal Marines, und ihre Mutter, die kurz nach Bigelows Geburt verstarb, war studierte Altphilologin.
Ich höre auf zu lesen.
Das gefällt mir überhaupt nicht.
Gute Nachrufschreiber sollten eigentlich klingen, als seien sie mit dem oder der Verstorbenen auf Du und Du gewesen. Dafür werden wir bezahlt. Aber wir, die wir unser ganzes Leben lang Nachrufe lesen – die auf Nerdforen darüber diskutieren und Nachrufkonferenzen besuchen, die alle Nachrufbücher und -artikel und -sammlungen lesen –, wir kennen den Unterschied. Hätte ich das nicht selbst geschrieben, ich hätte gutes Geld darauf gewettet, dass der Schreiber dieser Zeilen Emma nie begegnet ist. Von ihrem einzigartigen Zauber fehlt jede Spur.
Ich beschließe, eine kurze Pause einzulegen, und erstelle eine Liste mit allen Fakten, die ich noch abgleichen muss.
John Keats schläft in dem Queen-Ann-Sessel hinter mir, obwohl er eigentlich nicht auf die Möbel darf. Ich schaue ihm beim Schlafen zu, eine Pfote zuckt wie ein müdes Auge, und überlege mir das Für und Wider, Emma die Fragenliste einfach gleich zuzuschicken und alles auf Kelvin zu schieben.
Sekunden später habe ich die Idee bereits verworfen. Sie hat gerade wieder die Tür zum Leben geöffnet – das Letzte, was sie jetzt braucht, ist, mit der Nase auf ihre Sterblichkeit gestoßen zu werden. Gerade heute Morgen erst war sie eine Runde gelaufen und hat mir ein Foto ihres hochroten glänzenden Gesichts geschickt. ICH LEBE!, hat sie geschrieben. VERDAMMT NOCH MAL, ICH LEBE!
Außerdem ist es mir viel zu peinlich, ihr einzugestehen, dass ich nicht einmal genau weiß, woran ihre Mutter eigentlich gestorben ist. Emma hat immer nur was von Komplikationen im Wochenbett gemurmelt, und ich wollte nicht nachhaken, da sie allem Anschein nach nicht darüber reden wollte.
Emma hat eine Plastikmappe für wichtigen Papierkram, beschriftet mit MAPPE FÜR WICHTIGEN PAPIERKRAM. Ich habe noch nie hineingeschaut, stelle mir aber vor, dass es darin ähnlich aussieht wie in meiner eigenen Archivschachtel: Geburtsurkunde, Abschlusszeugnisse, wichtige Briefe, all so ein Zeug. Der Ordner steht ganz oben in ihrem Aktenschrank, den sie immer abschließt, aber ich gebe der Tür trotzdem einen ganz leichten Schubs. Das wäre die wesentlich einfachere Lösung für mein kleines Problem.
Die Rolltür gleitet beinahe lautlos nach oben. Man hört nur den leisesten Ansatz eines Geräuschs, aber das reicht, um den Hund zu wecken. Beide starren wir erschrocken in den Schrank.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich diesen Schrank das letzte Mal von innen gesehen habe. Nie lässt Emma ihn unverschlossen, ihr graut vor dem Gedanken, ein Einbrecher könne sich mit all ihren noch nicht computererfassten Forschungsergebnissen aus dem Staub machen. Wenn wir verreisen, holt sie ihren Pass immer eigenhändig aus dem Schrank. Du vergisst sonst noch, ihn wieder abzuschließen, sagt sie dann, und sie hat vollkommen recht.
Ich frage mich, ob sie unversehens wieder in eine ihrer schwarzen Zeiten zu rutschen droht. Das hier sieht ihr so gar nicht ähnlich.
Nach kurzem Zögern nehme ich die Plastikmappe heraus und öffne sie.
John Keats wirkt besorgt, also wähle ich ein Jungle-Album von unserer Spotify-Playlist aus. »Ghost of My Life« heißt es, von einem gewissen Rufige Kru.
Die Mappe ist beinahe leer.
Nur ein paar Unterlagen neueren Datums. Ihre Promotionsurkunde; der Dankesbrief einer Wohltätigkeitsorganisation, an die sie seit zehn Jahren spendet; Emmas letzter Führerschein aus Papier, bevor die abgeschafft wurden. Ein Foto von Emma und ihrem Vater vor einem gewaltigen Kriegsschiff, ein alter Ausweis von Emmas Arbeit. Sonst nichts.
Der Hund lässt mich nicht aus den Augen.
Der Schrank steht eigentlich nie offen, aber diese Mappe habe ich schon tausendmal gesehen. Immer so vollgestopft, dass alles an den Seiten herausquillt, genau wie meine eigene Mappe mit wichtigen Unterlagen – es gibt erstaunlich viele unheimlich wichtige Papiere, die man nie im Leben braucht. Die Mappen, in denen wir sie aufbewahren, werden unaufhaltsam immer dicker und fetter, bis sie irgendwann aus allen Nähten platzen. Sie werden nicht plötzlich so dünn, dass sie schon fast nicht mehr da sind.
Ich ziehe den Arbeitsausweis heraus, der noch an einem abgewetzten Bändchen hängt.
Emma Bigelow, steht da. Biologie und Meereswissenschaften. Lächelnd betrachte ich das Foto. Obschon ein neutraler Gesichtsausdruck verlangt ist, wirkt meine Frau trotzdem subversiv, bildschön und leicht amüsiert.
Ich lehne mich zurück und begutachte den Aktenschrank. Sie muss die Papiere irgendwo anders reingestopft haben.
Hat sie aber nicht. Alles andere ist ordentlich beschriftet und eingeräumt. Ich könnte jetzt sämtliche Ordner da drin einzeln durchgehen, aber wozu das Ganze? Sie wird wohl kaum ihre Geburtsurkunde gelocht und abgeheftet haben.
Ich gehe nach oben und schaue mich im Schlafzimmer um, aber da liegt auch nirgendwo ein Papierstapel.
Und im Flur auch nicht.
Sie sind auch nicht in der leeren Staubsaugerverpackung, die sie neuerdings als Behelfsablage benutzt.
Ich weiß, dass die Unterlagen noch vor ein paar Wochen da waren, als wir nach Paris gefahren sind nämlich, um das Ende von Emmas Chemo zu feiern. Und ich weiß noch ganz genau, dass ich über ihre vollgestopfte, chaotische Mappe lachen musste, weil sie noch schlimmer aussah als meine.
Die Unterlagen wären mir aufgefallen, wenn Emma sie herausgenommen und irgendwo herumliegen gelassen hätte. Das Haus ist klein. Ich hätte sie beiseiteschieben müssen, um mir eine Tasse Tee zu machen, oder Ruby daran hindern müssen, sie mit Farbe oder Glitzer oder Popeln zu beschmieren. Irgendwas stimmt da nicht.
Ich weiß es da noch nicht, aber das ist der Moment, an dem ich Emma hinterherzuspionieren beginne.
Ich gehe runter ins Esszimmer, das gewissermaßen eine Schreckenskammer aus Papier ist; alles Sachen von Emmas Großmutter. Im ganzen Zimmer gibt es kaum mehr als vier Quadratmeter freie Bodenfläche, alles andere versinkt knietief in Dokumentenstapeln.
Ich stakse von einem freien Fleckchen zum nächsten wie ein Storch im Salat und schaue mich um. Nirgendwo irgendwas, das mit Emma zu tun hat. Fast alles Partituren und Etüden und vergilbte Kontoauszüge, die schon vor Jahrzehnten in die Mülltonne hätten wandern sollen. Die meisten Papiere sind achtlos in Einkaufstüten aus den Achtzigern gestopft – weiße Sainsbury-Tüten mit oranger Schrift, Tesco-Tüten mit dicken blauen Streifen. Und alles bedeckt von einer dicken Staubschicht …
… bis auf die alte Tüte von Marks and Spencer, die mir ins Auge fällt, als ich versuche, einen Fuß in die hinterste freie Ecke zu setzen. Die stammt anscheinend noch aus den Achtzigern, als sie leuchtend grüne Tüten hatten mit kursiver goldener St. Michael-Aufschrift. Die Tüte ist zwar genauso verstaubt wie alles andere in diesem Zimmer, aber es sind deutlich Handabdrücke darauf zu erkennen. Glänzende grüne Lücken, wo Finger den Staub abgewischt haben. Das kann noch nicht lange her sein.
Ich halte inne. Diese Mission geht inzwischen über die reine Faktensuche hinaus.
Aber die Tüte. Sie steht in der hintersten Ecke des Zimmers, halb unter dem alten Schreibtisch von Emmas Großmutter versteckt. Von der Tür aus ist sie nicht zu sehen, weil ein Kamingitter aus Messing die Sicht versperrt. Ich sehe sie nur, weil ich mich so weit vorgewagt habe.
Etwas in diese Tüte zu packen, hier im hintersten Winkel, hieße, es absichtlich zu verstecken.
Ich greife nach der Tüte und hebe sie hoch.
Als Erstes erkenne ich ihre Masterurkunde von der Uni in Plymouth. Als Nächstes ein Schreiben der Polizei in Berkshire; sie ist in Slough mit vierzig Meilen pro Stunde geknipst worden, wo nur dreißig erlaubt waren. Ich muss kurz grinsen. Als sie den Strafzettel damals bekommen hat, ist ihr beinahe der Kragen geplatzt. Komisch, dass sie den aufbewahrt hat. Als Nächstes eine Abschiedskarte von ihren Kollegen bei der BBC, nachdem sie so unerklärlich vor die Tür gesetzt worden war. Du wirst uns allen fehlen! Nie wieder werden wir ein Frühstücksbüfett mit denselben Augen sehen! Hoffentlich ergibt sich mal wieder ein gemeinsames Projekt!
Dann ein Kinderpass von Ruby und zwei für Erwachsene – ein aktueller Pass von Emma und ein abgelaufener, eine Ecke von der Ausgabestelle abgeknipst.
Ich klappe den abgelaufenen auf und lächele schon in Erwartung des Fotos, das ich vielleicht noch nie gesehen habe, nur um feststellen zu müssen, dass die Seite mit Namen und Foto herausgerissen wurde. Ich blättere ihn kurz durch, aber es sind keine Stempel drin. Wieder schlage ich die ausgerissene Seite auf. Sie ist mit Gewalt herausgerissen worden, man sieht noch die Fetzen, als hätte es jemand sehr eilig gehabt.
Ich schaue auf das Foto in ihrem aktuellen Pass: Das ist sie, kein Zweifel. Emma Merry Bigelow.
Ich starre auf den abgelaufenen. Ob der auch Emma gehört hat? Aber wenn ja, warum um alles auf der Welt sollte sie ihn so verunstaltet haben?
Langsam, ganz langsam beschleicht mich eine diffuse Angst. Eigentlich glaube ich immer noch, dass es eine plausible Erklärung geben muss, auch wenn ich mir gerade beim besten Willen nicht vorstellen kann, welche.
Ich blättere kurz in Emmas beruflicher Laufbahn – die schriftliche Zusage eines Wissenschaftsjournals, eine Auszeichnung, ein Forschungsstipendium und Berufungen in diverse Vorstände.
Danach die Unterlagen aus ihrer Studentenzeit. Als Erstes fällt mir das Wappen von St. Andrews ins Auge. Sie hat in St. Andrews studiert. Aber es ist nur ein Brief, kein Diplom oder Ähnliches.
Ich fange an zu lesen: Liebe Em…, dann halte ich inne.
Nicht nur weil ein schwarzer Tintenfleck einen Großteil ihres Namens verdeckt, sondern weil ich unmissverständlich das Gefühl habe, damit eine Grenze zu überschreiten. Auf der einen Seite steht Vertrauen in Emma und unsere Ehe, auf der anderen lauern Misstrauen und Kontrolle.
Aber nach kurzem Zögern lese ich weiter.
Mehrfach habe ich versucht, Sie telefonisch zu erreichen, leider ohne Erfolg.
Ich kann nur wiederholen, was ich auch Ihrer Großmutter bereits gesagt habe: Ich möchte Sie aus ganzem Herzen ermutigen, Ihr Studium der Meeresbiologie fortzusetzen, auch wenn Sie sich derzeit nicht dazu imstande sehen. Wir würden uns freuen, Sie im kommenden Jahr wieder bei uns begrüßen zu dürfen (oder im Jahr darauf, falls der kommende September noch zu früh sein sollte).
Ich möchte hinzufügen, dass es mich zutiefst erschüttert hat, von Ihren gegenwärtigen Problemen zu erfahren sowie deren gravierende Auswirkungen auf Ihre seelische Verfassung. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie herzlich wenig Sie derzeit an der Wiederaufnahme Ihres Studiums interessiert sind. Aber ich bin, wie viele meiner Kollegen hier am Institut, der Ansicht, dass Ihnen eine herausragende Karriere als Meeresbiologin bevorsteht, und wir möchten Ihnen gerne unter die Arme greifen und alles in unserer Macht Stehende tun, um Sie, so gut es geht, dabei zu unterstützen, Ihr unterbrochenes Studium wieder aufnehmen zu können.
Ich übersende Ihnen die allerbesten Wünsche des ganzen Kollegiums. Bitte kontaktieren Sie mich jederzeit telefonisch oder per E-Mail, sollte Gesprächsbedarf bestehen – jetzt oder irgendwann im laufenden akademischen Jahr.
Mit herzlichen Grüßen
Dr. Ted Coombes
Biologisches Institut
Nach kurzem Suchen stoße ich auf ein weiteres Wappen von St. Andrews. Ich lese auch diesen Brief – wie der andere mit schwarzer Tinte beschmiert, als habe Emma nicht gewollt, dass man ihren Namen darauf liest.
Es ist die offizielle Exmatrikulationsbescheinigung der Universität, die Bestätigung des Abbruchs von Emmas Grundstudium. Darin wird sie aufgefordert, ihren Studentenausweis zu vernichten. Man wünscht ihr alles Gute. Das Datum ist vom November 2000, sie müsste also im fünften und letzten Semester gewesen sein.
Der Hund steht in der Tür zum Esszimmer und beobachtet mich.
Denk nach, sage ich zu mir. Denk nach.
Unter den vielen Sedimentschichten aus Krimskrams in unserem Flur liegt auch ein Foto von Emma am Tag ihrer Uniabschlussfeier. Ich liebe dieses Foto. Der ernste Blick, die abwehrende Körperhaltung, das angedeutete Lächeln. Nie gab es auch nur den geringsten Zweifel, dass dieses Foto am Tag ihrer Abschlussfeier in St. Andrews geknipst wurde.
Ich lege die Unterlagen beiseite und gehe nach oben, um das Foto herauszukramen. Schnell habe ich es gefunden, aber anders als bei meinem Abschlussfoto fehlt hier etwas ganz Entscheidendes: Das Bild hat kein Passepartout, keine geprägten Angaben wie den Namen des Absolventen oder der Universität. Nur Emma, meine entzückende Emma, im schwarzen Talar mit hellblauer Kapuze und Goldbrokateinfassung. Ohne Barett und Quaste.
Nach langem Zögern, das Herz schlägt mir immer noch bis zum Hals, gehe ich wieder nach unten und stöbere im Netz, bis ich die Talarfarben der Grundstudiumsabsolventen von St. Andrews gefunden habe.
Die Seite lädt enervierend langsam. Draußen rauscht der Wind im Laub, und kleine Efeufäustchen trommeln gegen mein Fenster. Das Haus, warm und vollgestopft, knarzt und ächzt, während die verpixelten Bilder sich allmählich zusammensetzen.
Absolventen der naturwissenschaftlichen Fakultäten von St. Andrews tragen einen Talar mit lila Kapuze und Pelzbesatz. Rasch überfliege ich die anderen Kategorien – Geisteswissenschaften, Doktoranden, Erziehungswissenschaften –, aber nirgendwo finde ich eine hellblaue Kapuze mit Goldbesatz. Wieder und wieder gehe ich alles durch, doch am Ende bleibt mir keine andere Wahl, als einsehen zu müssen, dass Emma ihren Abschluss wohl nicht an dieser Uni gemacht haben kann.
Es ist, als bräche in meinem Bauch ein Schelfsockel ab.
John Keats guckt mich noch immer unverwandt an und klopft mit dem Schwanz gegen den Sessel. Ein kurzer aufmunternder Trommelwirbel oder vielleicht eine Warnung – ich weiß es nicht genau. Ich knie mich vor ihn, starre ihm in die unergründlichen bernsteinfarbenen Augen und sage ihm, dass das alles ein Missverständnis sein muss, auch wenn ich gerade beim besten Willen nicht weiß, wie es zustande gekommen sein soll.
Zwei Whiskey und sechs Feigenkekse später widme ich mich wieder dem Papierkram aus dem Esszimmer. Es gibt nun keine Entschuldigung mehr für meine unverhohlene Schnüffelei außer vielleicht, dass ich unter Alkoholeinfluss stehe und mir inzwischen alles egal ist.
Wieder ziehe ich den Papierstapel heraus und gucke aufs Geratewohl irgendwo hinein. Das Kribbeln, das mich überkommt, in dem Wissen, etwas Verbotenes zu tun, lässt mich rasch und zügig handeln: Auf einmal bin ich wieder der Mann, der damals, vor Jahren, in den vertraulichen Unterlagen seiner Eltern gekramt hat, hoch konzentriert, wie besessen davon, möglichst viele Fakten zu sammeln.
Ich ertappe mich dabei, wie ich einen an Emmas Vater adressierten Brief des Marine-Erzdiakonats lese, darin die Warnung, dies sei der letzte Versuch, mit ihm in Kontakt zu treten, ehe man seine Entlassung einleiten müsse.
Ich lese ihn mehrmals, doch er scheint mir ebenso verwirrend wie die Briefe ihrer Universität. Emmas Vater ist in Zaire ums Leben gekommen, lange bevor dieser Brief geschrieben wurde.
Oben höre ich etwas, das nach Kinderfüßen auf mürrischen alten Dielenbrettern klingt, also stopfe ich die Unterlagen schnell wieder in die M&S-Tüte. Doch noch während ich dabei bin, flattert ein kleiner handschriftlicher Zettel heraus – ein Kurzbriefchen, darauf das BBC-Logo, trudelt sich im Kreis drehend zu Boden.
Hey, Süße, tut mir leid, dass ich dich heute Morgen verpasst habe. Ruf mich an. Lass uns nicht so auseinandergehen …
Robbie x
Ich stecke den Zettel wieder in die Tüte und stelle sie zurück unter den Schreibtisch.
Ich lausche eine Weile, setze mich in die Küche und nippe am Whiskey, aber in Rubys Zimmer scheint alles ruhig zu sein.
Ich versuche mir irgendwie zusammenzureimen, was ich da eben gesehen habe, aber meine Gedanken überschlagen sich. Ich kann das Karussell in meinem Kopf nicht lange genug anhalten, um einen einzelnen davon eingehender zu begutachten.
Ich gehe nach oben aufs Klo. Emma hat mich in letzter Zeit zur Achtsamkeit anzuleiten versucht, also versuche ich, mich auf das Gefühl des plätschernden Urinstrahls zu konzentrieren, aber es ist mir so unangenehm, meinen Penis mit Neugier und vollkommen wertfrei zu betrachten, dass ich am Ende die Klobrille vollspritze.
Ohne ernsthaft zu versuchen, mich selbst von diesem Vorhaben abzubringen, schleiche ich auf Zehenspitzen nach oben ins Schlafzimmer und klappe Emmas Laptop auf. Wir benutzen ständig den Laptop des jeweils anderen, aber nie – niemals – wären wir dabei auf die Idee gekommen, den anderen auszuspionieren. Ich weiß nicht einmal, was ich eigentlich suche. Ich weiß nur, dass ich irgendwas finden möchte, das dieser schleichenden Beklemmung endgültig einen Riegel vorschiebt.
Vierzehn offene Reiter, typisch Emma. Bei fast allen geht es um so was wie genetische Populationsstrukturen von Zehnfußkrebsen mit komplizierten Namen, aber da sind noch drei weitere: E-Mail, Facebook und ein offener Fall mit eBay, ein Streit um ein Päckchen, das nie angekommen ist.
Ich bringe es nicht über mich, in ihr E-Mail-Postfach zu schauen. Das wäre der ultimative Verrat; schlimmer wäre nur noch, auf ihrem Handy herumzuschnüffeln.
Facebook ist auf ihrer Fanseite geöffnet. Sie hat mehr als dreitausend Likes. Nichts Bemerkenswertes, und ich will den Laptop gerade wieder zuklappen, als ganz unten rechts eine Benachrichtigung aufpoppt, dass sie eine Nachricht von einem gewissen Iain Nott erhalten hat.
Hab dir drei Nachrichten geschickt und keine Antwort hab die Schnauze voll vn Frauen im TV die denken sie sind was bessers hättest wenigstens antowrten können.
Mir schwillt sofort der Kamm, ich klicke auf die Nachricht und will schon eine geharnischte Antwort verfassen. Doch dabei öffnet sich versehentlich ihr Maileingang.
Fast hätte ich schnell weggeguckt, ich will ihre E-Mails gar nicht sehen, aber irgendwie schaffe ich es nicht. Im Posteingang wimmelt es nur so von Nachrichten von Männern.
Ich kann die erste Zeile jeder Nachricht lesen.
Mickey Vaillant: Seh dich gerade auf dem iPlayer, du Luder. Du bist
Eric Sueno: DU BIST ECHT NICE ICH WILL DICH
Charlie Rod: Hier meine Nummer, ruf mich an, ich würde gerne
Iqbal Al-Jasmi: Hey Süße
Skinny McSkinnyface: Schlampe
Robbie Rosen: Hey Süße, gerade an dich gedacht
Ich starre wie betäubt auf den Bildschirm. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so schlimm ist. Als ich sie letzte Woche danach gefragt habe, meinte sie nur, sie hätte in den letzten Tagen bloß ein paar Nachrichten bekommen, aber hier sehe ich gleich sechs – sechs –, und allesamt von heute.
Ich bin hin- und hergerissen zwischen weiß glühender Wut auf diese Typen und dem Schock, dass Emma mir das verheimlicht hat.
Warum sollte sie so etwas für sich behalten?
Mir wird ganz anders. Ich fange an, die Nachrichten zu löschen, aber für jede gelöschte rückt eine weitere, ältere nach. Nach den ersten sechs höre ich auf, klappe den Laptop zu und marschiere nach unten, um mir einen letzten Whiskey einzugießen.
Tausend Erklärungen schießen mir durch den Kopf, meine Gedanken springen wie Äffchen von Abschlussfotos zu perversen Typen zu Pässen, versteckten Unterlagen und einer handschriftlichen Notiz von einem Kerl bei der BBC. Immer wenn ich eine fieberhafte Erklärung für eins dieser rätselhaften Phänomene gefunden zu haben glaube, ploppt ein weiteres auf, und mein Hirn muss umso schneller galoppieren.
Ich setze mich und trinke einen Schluck.
Das hier, denke ich aufgebracht – diese alles verschlingende, brabbelnde Paranoia –, ist das Einzige, was dabei herauskommt, wenn man ohne deren Wissen in den persönlichen Papieren anderer Leute kramt. Ich habe nicht nur Emmas Privatsphäre mit Füßen getreten, nein, ich habe auch meinen eigenen Seelenfrieden auf dem Gewissen. Was mache ich denn jetzt? Wie soll ich sie darauf ansprechen, ohne ihr meine beschämende Schwäche einzugestehen? Wenn sie wüsste, dass ich gerade wie ein Bulldozer durch ihr Privatleben gepflügt bin – sie hätte keinen Grund mehr, mir noch zu vertrauen. Und wenn sie mir nicht vertraut, wer bin ich dann, von ihr die Wahrheit – oder sonst was – zu verlangen?
Ich liebe Emma. Ich vergöttere sie. In den vergangenen zehn Jahren war sie alles Gute in meinem Leben. Warum tue ich das? Warum poltere ich herum wie ein wild gewordener Büffel und scheiße auf das Vertrauen zwischen uns? Was habe ich mir bloß dabei gedacht?
Ein Knarzen aus Rubys Zimmer.
»Daddy? Daddy …«