Vierzehntes Kapitel

Emma

Dämmerung.

Beim Aufwachen bin ich nur noch selten in Tränen aufgelöst, aber heute ist es wieder so weit. Ich habe noch nicht die Kraft, mich dagegen zu wehren. Ich weine lautlos, die Hände fest auf die Augen gepresst.

Er ist da draußen, irgendwo, quicklebendig. Er atmet. In diesem Moment. Und doch weiß ich nicht, wo. Ich weiß nur, dass er nicht hier ist. Dass er nie hier sein wird, dass ich nie wieder neben ihm aufwachen werde.

Der schiere Schmerz, die erdrückende Last dieses Gedankens ist mehr, als ich heute ertragen kann.

Nachdem ich Leo gestern Abend dabei ertappt hatte, wie er im Esszimmer nach meinen Unterlagen gesucht hat, hat er zwei Stunden lang schlaflos neben mir im Bett gelegen. Und ich habe neben ihm gelegen und getan, als würde ich schlafen, und mich gefragt, wie viel er gesehen hatte, wie viel er weiß. Was wohl passieren würde, sollte er mich zur Rede stellen. Was ich sagen würde.

Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, wer ich eigentlich bin; wo die Grenze verläuft zwischen Wirklichkeit und Wunschtraum. Manchmal stelle ich mir vor, wie mein Mann verlangt, die Wahrheit zu erfahren, und ich ihm darauf nichts zu antworten weiß, weil ich sie selbst nicht mehr kenne.

Als er endlich eingeschlafen war, holte ich die Schachtel aus ihrem vorübergehenden Versteck unter Rubys Bett. Ich hätte sie letzte Woche nicht ins Esszimmer räumen sollen. Ich hätte sie gleich aus dem Haus schaffen und verdammt noch mal darauf achten sollen, den Aktenschrank abzuschließen. Dann hätte Leo keinen Grund, hier herumzuschnüffeln.

So gehen Verbrecher ins Netz. Unter Druck machen sie dumme Fehler.

Während Ruby friedlich schlummert, nehme ich ein Dokument nach dem ande­ren heraus. Ich nehme den »Herzchen, du musst dein Leben auf die Kette kriegen«-Brief heraus, den Jill mir vor vier Jahren geschrieben hatte, nachdem ich verschollen und sie zu meiner Rettung geeilt war und mich in Northumberland aufgegabelt hatte. Ich nehme alles heraus, was Leo zu der Annahme verleiten könnte, ich sei eine andere als seine liebende, treue Ehefrau, und verfluche mich dafür, dass ich es bisher nicht über mich gebracht habe, das alles zu vernichten. Ein ganzes Haus voller Gerümpel zu horten ist eine Sache, aber diese Unterlagen? Das ist nichts weiter als rührselige, abergläubische, bescheuerte Dämlichkeit. Mich an diesen ganzen belastenden Kram zu klammern hilft mir nicht, die Verbindung zu meiner Vergangenheit zu halten. Es birgt nur die Gefahr, den wunderbaren Mann an meiner Seite zu verlieren.

Später dann, ich bin schon bei der Arbeit, ein Anruf von einer unbekannten Nummer auf dem Handy. Ich bin gerade im Seminar mit meinen Georisiko-Studenten; es geht um die Fluss- und Gezeitenströmung im Mündungsgebiet der Themse. Draußen ist es warm, und die Fenster stehen sperrangelweit offen. Schwer, sich da Sturmfluten und überschwemmte Überflutungsgebiete vorzustellen.

Ich sehe das Handy in der Tasche blinken und ignoriere es. Als es allerdings gleich darauf wieder zu blinken anfängt, entschuldige ich mich kurz und gehe raus auf den Flur.

»Hallo?«, sage ich, gerade als der andere auflegt.

Ich gehe zu meiner Anrufliste. Drei Anrufe in Abwesenheit, alle von einer unterdrückten Nummer.

»Ach, fick dich doch«, sage ich zu meinem Handy, aber meine Stimme klingt wackelig.

Mir war immer schon, als hätte ein verpasster Anruf von einer unterdrückten Nummer irgendwie was Unheilvolles. Aber als wir letztes Jahr bei einer Dinnerparty mit Freunden auf das Thema kamen, habe ich einsehen müssen, dass ich mit dieser Meinung doch mehr oder weniger allein dastehe. Leo und die meisten ande­ren unserer Freunde erklärten einstimmig, es jucke sie überhaupt nicht, wenn ein unbekannter Anrufer versucht habe, sie zu erreichen, und nicht durchgekommen ist. Bloß ich und Stef, eine Freundin von der Arbeit, schienen das irgendwie beunruhigend zu finden.

Vielleicht betrifft das nur Menschen, die etwas zu verbergen haben. Stef hat schon mehr als eine heimliche Affäre gehabt.

Ehe ich wieder nach drinnen zu meinen Doktoranden gehe, schaue ich durch das Fenster hinaus auf den kleinen Platz, der jetzt, wo die meisten Studenten in den Sommerferien sind, auffallend leer ist. Nur ein paar Leute auf einer Bank, die Sandwiches essen, und ein Mädchen mit einem Handy, das auf und ab tigert.

Und ein Mann, der allem Anschein nach zu meinem Fenster hochstarrt. Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne … Er wirkt ein wenig abgerissen; könnte auch ein Student sein. Aber irgendwas an ihm gefällt mir nicht.

Die Kappe. Er trägt eine Baseballkappe. Wie der Typ in Plymouth, wie der Kerl bei uns vor dem Haus.

Ich schaue den Flur hinunter, aber sonst steht niemand an einem der Fenster. Sonst ist da niemand, den er anstarren könnte.

Ich bekomme Gänsehaut, und in meiner Brust öffnet sich ein eiskaltes Loch. Guckt der wirklich zu mir?

Als ich mir einen Ruck gebe und zurück zum Seminarraum gehe, wendet der Mann sich ab und marschiert davon. Ich sehe ihn noch von hinten, wie er auf die Gower Street zuhält.

Ich bin wachsamer als sonst, als ich nach getaner Arbeit aus dem Gebäude gehe, aber ich bin umringt vom steten, stillen Strom der Menschen, die gerade Westminster verlassen, die Augen aufs Handy geheftet, stumm und schweigend. Erinnert mich an die unwirkliche Stadt in Das wüste Land. Alles komisch irgendwie.

Ich will hier nicht sein. Ich will am Meer sein. Weite und Leichtigkeit und die Sonne, die runzelige Haut aus der Wasseroberfläche macht.

Nächste Woche. Nächste Woche geht es nach Northumberland, mit seinen weiten Himmeln und den fröhlich plätschernden Gezeiten. Mit Ruby, mit Meer. Ihm, vielleicht, ein Stückchen näher.

Noch vier Tage.