»Du wirst schon sehen.« Mehr sagt Jill nicht auf meine wiederholte Frage, wo wir eigentlich hinfahren.
Ihr scheint diese ganze Sache ein diebisches Vergnügen zu bereiten. Sie schweigt zwar die meiste Zeit, aber ich sehe es ihr an: im Gesicht, an ihrer Körpersprache – sie ist eine Frau auf einer Mission. Das Radio ist ausgeschaltet, aber sie singt leise irgendwelche Liedfetzen vor sich hin und kommentiert die Straßenverhältnisse wie früher mein Fahrlehrer.
Zwanzig Minuten ist es inzwischen her, seit sie mich vor der Kita aufgegabelt hat. Gerade fahren wir auf den North Circular, am Stadtrand von London. Vor uns Hinweisschilder für den M1 in Richtung Watford und The North.
»Guck dir den Allerwertesten an!«, tönt sie prustend und weist auf ein eher unansehnliches Exemplar von männlichem Passanten, das gerade eine Fußgängerbrücke überquert. »Ein Arsch wie ein Brauereipferd!«
Das Hinterteil ist in der Tat ausladend, hat aber ein derart harsches Urteil bestimmt nicht verdient.
»Ich finde wirklich, ich sollte Leo eben anrufen«, sage ich nach kurzem Schweigen. »Ich weiß, du hast gesagt, er braucht noch Zeit, aber … aber es kommt mir komisch vor, ihm nicht Bescheid zu sagen. Dürfte ich eben dein Handy benutzen?«
»Nein«, sagt Jill sehr bestimmt. »Nein, Emma, du wirst ihn nicht anrufen. Ich habe dir doch gesagt, ich habe mit ihm gesprochen.«
Als sie so unerwartet vor Rubys Kita aufgetaucht ist, dachte ich eigentlich, sie wolle mir vor dem Gespräch mit Leo ein bisschen Mut machen – mich eben kurz den kleinen Hügel hinauf mitnehmen, ein paar aufmunternde Worte sagen, mich fest in den Arm nehmen. Aber nein, sie ist einfach an unserer Straße vorbeigefahren, geradewegs über den Heath und in Richtung Golders Green.
»Ich treffe mich gleich mit Leo!«, sagte ich alarmiert. »Stopp! Jill, das geht jetzt wirklich nicht!«
»Das hier ist viel wichtiger«, entgegnete sie nur mit einem eigenartigen Grinsen im Gesicht. So eigenartig, dass ich mich fast fragte, ob sie womöglich was genommen hatte. In unserem ersten Jahr in St. Andrews haben wir mal zusammen Pilze probiert, und im Anschluss hat Jill erklärt, ein derart vollkommener Kontrollverlust sei für sie kein erstrebenswerter Zustand. Danach hat sie keine Drogen mehr angerührt.
»Jill!«, protestierte ich. »Echt jetzt, lass mich raus!«
Sie ignorierte mich geflissentlich, also löste ich an einem Fußgängerüberweg am Eingang zum Golders Hill Park den Sitzgurt und versuchte, die Tür aufzumachen. Langsam wurde ich echt sauer. Was sollte das alles?
Aber Jill hatte, wie Entführer in Filmen, vorsorglich sämtliche Türen verriegelt. »Jetzt stell dich nicht so an!«, sagte sie. »Du kannst dich doch nicht aus dem fahrenden Auto fallen lassen wie Bruce Willis. Du brichst dir ja alle Knochen!«
»Jill, das ist mein Ernst, lass mich sofort raus.«
Aber sie fuhr unbeeindruckt weiter.
Sie habe mit Leo geredet, sagte sie. Er habe gesagt, er stünde noch unter Schock und bräuchte noch ein paar Tage Zeit, bis er so weit sei, mit mir zu reden.
Wieder und wieder sagte sie mir das, bis ich es schließlich kapiert hatte. »Darum habe ich dich auch abgeholt«, erklärte sie. »Ich hätte es grässlich gefunden, wenn du nach Hause gekommen wärst und niemand wäre da gewesen, und dann hättest du ganz allein in eurem leeren Haus gesessen, wo du doch eigentlich dachtest, Leo würde da sein.«
Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Danke«, sagte ich leise.
Wir steckten eine Weile im Stop-and-go-Verkehr fest und tuckerten an heruntergekommenen Ladenzeilen vorbei, aber ich versuchte nicht noch einmal, aus dem fahrenden Wagen zu springen. Leo wollte mich nicht sehen. Es würde Mittwoch, vielleicht sogar Donnerstag werden, ehe er so weit war, dass wir miteinander reden konnten. Bis dahin würde ihm vermutlich aufgegangen sein, dass er mir nie wieder vertrauen könnte, und dann war’s das. Ich hätte ihn verloren. Diesen wunderbaren Mann, die Liebe meines neuen Lebens. Meinen liebsten Leo.
Inzwischen fahren wir über den North Circular in Richtung M1, und es ist mir schon fast egal, wo Jill mich hinbringt.
Bestimmt zum vierten oder fünften Mal greife ich nach meinem Handy, um unauffällig eine SMS an Leo zu tippen, aber das Handy liegt natürlich immer noch in meiner Handtasche zu Hause auf dem Bett. Zu Hause, wo ich eigentlich gehofft hatte, meinen Mann davon überzeugen zu können, wie sehr ich ihn liebe.
Der Verkehr wird immer spärlicher, und Jill drückt aufs Gas.