Zweites Kapitel

Eine Woche später

Emma

»Alles wird gut«, wiederhole ich in die Dunkelheit unseres Schlafzimmers hinein. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Die Stunden sind verschmolzen, ineinandergelaufen und -getropft, und erst als ich von Leo keine Antwort bekomme, geht mir auf, dass er gar nicht neben mir im Bett liegt. Ich muss eingenickt sein.

Ein Blick auf die Uhr: 3:47 Uhr. Heute ist mein Arzt­termin.

Ich warte auf das Rauschen der Klospülung und das Kreischen unserer knarzenden Dielen, aber alles bleibt still. Bestimmt ist Leo unten und schiebt sich im gelben Schein des Kühlschranks stehend irgendwas in den Schlund. Eine Notration Schinken vermutlich: Er hat versprochen, vegan zu werden, sollte die Chemo nicht anschlagen. Um mich zu unterstützen. Ich habe meine Ernährung nach der Erstdiagnose vor vier Jahren umgestellt, obwohl ich gestehen muss, mir mehr als einmal auf dem Sainsbury-Parkplatz in Camden den Cheddar gierig gleich aus der Packung in den Mund gestopft zu haben.

Ich stehe auf. Vor Leo habe ich nie gesteigerten Wert auf Kuscheln im Bett gelegt, aber wenn er nicht da ist, sehnt sich mein ganzer Körper nach ihm.

Auf dem Klo ist er nicht, also gehe ich nach unten in die Küche. Im Hinuntergehen streiche ich mit der Hand über die Wand, die uneben und knubbelig ist von den unzähligen, immer wieder überstrichenen Farbschichten. »I’m a survivor«, singe ich leise vor mich hin.

Ich drücke mich an dem hohen Bücherstapel vorbei. Darauf steht eine emaillierte Schale voller Krimskrams, den wir nie benutzen – Schlüssel für unbekannte Schlösser, Büroklammern, eine Vorratspackung Nähvlies. Leo stellt den Stapel beharrlich immer wieder mitten in die Diele, damit ich mich endlich um den Plunder kümmere, und ich schiebe ihn jedes Mal beharrlich zurück an seinen Platz. Die Lösung wären mehr Regale, aber Möbel zusammenbauen ist einfach nicht meins.

Dummerweise ist das auch für Leo nichts, und so drehen wir uns endlos im Kreis.

»Leo?«, flüstere ich.

Nichts. Nur das fast schon theatralische Knarzen der Treppenstufen, das unsere Babysitter allesamt so gruselig finden, dass sie nach dem ersten Besuch nie wiederkommen.

Ich habe das Häuschen von meiner Großmutter geerbt. Die ist nicht nur Mitglied des Unterhauses und Hobbyviolinistin gewesen, sondern hat sich im Alter auch zu einer mehr oder minder schlimmen Hamsterin entwickelt, die in den letzten zehn Jahren ihres Lebens rein gar nichts mehr weggeschmissen hat. Leo behauptet, ich zeige ernst zu nehmende Anzeichen, ihr kleines Problem geerbt zu haben, und meine Therapeutin ist, sehr zu meinem Verdruss, ganz seiner Meinung. Wenn wir einen unerträglichen Verlust erleiden, so sagt sie, klammern wir uns selbst an die belanglosesten Kleinigkeiten.

Unser Häuschen gehört zu einem Ensemble putziger kleiner Reihenhäuschen aus der Zeit von King George, ganz am Ende der Heath Street, wo Hampstead Village in die weitläufige Parklandschaft von Hampstead Heath übergeht. Es ist ziemlich he­run­ter­ge­kom­men und unglaublich beengt, und bestimmt würden wir ein kleines Vermögen dafür bekommen, wenn wir es verkaufen würden, – oder zumindest mehr als genug, um irgendwo in einer weniger gefragten Wohngegend ein wesentlich großzügigeres Haus zu kaufen –, aber diese vier Wände sind so sehr Teil meiner Geschichte, Teil meines Über­le­bens­kampfs, dass ich es einfach nicht über mich bringe, sie zu verlassen.

Erst letzte Woche hat Leo mir eine Anzeige für ein geräumiges Reihenhäuschen mit drei Schlafzimmern in Tufnell Park gezeigt. »Schau dir nur mal an, wie groß die Schlafzimmer sind!«, hat er mit hoffnungsvoll strahlendem Gesicht geflüstert. »Wir hätten ein Gästezimmer! Eine Toilette im Erdgeschoss!«

Ich habe ihm zwar mit meiner Bemerkung, dass Hampstead mein Biom und dieses Haus mein Ökosystem sei, ein Lächeln abgerungen, doch er ist sicht­lich enttäuscht gewesen. Ich kam mir richtig mies vor. Ich würde fast alles tun, um Leo glücklich zu machen, aber das kann ich nicht. Dieses Haus ist mein einziger sicherer Hafen.

Leo ist nicht in der Küche. Und er ist auch nicht in unserem winzig kleinen Büro, sehr zu meiner Erleichterung. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte ich befürchtet, er könne womöglich gerade einen Nachruf auf mich schreiben. Den Gedanken könnte ich nicht ertragen. Sämtliche Zeitungen haben vorgeschriebene Nachrufe auf alle möglichen Prominenten in der Schublade. Nachrufschreiber leben in der ständigen Angst, ein ganz großer Todes­fall könne sie eiskalt erwischen. Ich bin zwar kein Promi, aber seine Zeitung würde vermutlich einen Nachruf auf mich bringen.

Ich singe weiter leise »I’m a survivor« vor mich hin, weil das der einzige Textfetzen ist, an den ich mich erinnern kann, und versuche es im kleinen Esszimmerchen, in das wir uns eigentlich nie verirren. Es ist beinahe unbenutzbar, überall türmen sich Grannys Krempel und Geigennoten zu wackeligen Stapeln, aber ich habe Leo versprochen, mich bald darum zu kümmern. Sobald ich die Abschlussarbeiten des diesjährigen Masterstudiengangs korrigiert habe.

»Leo?« Meine Stimme klingt wie immer. Von Krebs keine Spur. Ich frage mich, ob womöglich noch immer etwas Bösartiges durch meinen Körper kreist wie billiger Wein, aber irgendwie kommt mir das ziemlich unwahrscheinlich vor.

Aus dem Nichts überfällt mich eine bodenlose Angst: Was, wenn Ruby ebenfalls verschwunden ist? Ich hechte die Treppe hinauf, so schnell, dass ich stolpere und hinfalle und auf Händen und Knien lande, aber sie ist da.

Natürlich ist sie da. Und natürlich atmet sie noch.

Ich suche Leo im Wäscheschrank, hinter der Falltür zu unserer gemeingefährlichen Dachterrasse. Keine Spur.

Langsam wird mir mulmig. Was, wenn einer dieser durchgeknallten Typen aus dem Netz die Nase gestrichen voll davon hat, dass ich seine Nachrichten geflissentlich ignoriere, und sich jetzt meinen Mann vorknöpft?

Lächerlich, sage ich streng zu mir, aber diese Horrorvorstellung lässt sich nicht mehr abschütteln. Ich sehe Leo, wie er die Haustür aufmacht und niedergeknüppelt wird. Leo, wie er John Keats vor dem Schlafengehen noch mal in den Garten lässt und von einem einsamen Irren erschlagen wird, der glaubt, ich gehörte ihm, weil er mir so gerne dabei zuschaut, wie ich im Fernsehen über Lappentaucher rede.

Ganz so schlimm ist es natürlich nicht, aber ein bisschen schlimmer, als ich Leo bisher eingestanden habe. Manche von diesen Typen werden wütend, wenn ich nicht auf ihre Nachrichten reagiere. Natürlich blockiere ich sie alle, aber ein paar erfinden einfach neue Profilnamen, lassen sich partout nicht abwimmeln. Für eine Weile habe ich das mit einem Achselzucken abgetan, aber so langsam macht es mir doch zu schaffen. Angst habe ich eigentlich keine, ich habe es bloß satt.

Obwohl, ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, letzte Woche hat jemand auf mich gewartet, als ich aus dem Labor in Plymouth gekommen bin. Da saß ein Mann auf der grasbewachsenen Böschung gleich neben der Auffahrt. Ungewöhnlich daran war nur, dass er mit dem Rücken zum Meer saß. Wer setzt sich denn bitte an einem sonnigen Nachmittag auf eine Böschung, um eine Auffahrt anzustarren, wenn gleich hinter ihm der atemberaubende Blick auf den glitzernden Plymouth Sound lockt? Und wie er die Baseballkappe ins Gesicht gezogen hat, als ich die Auffahrt entlanggelaufen bin, und sich dann weggedreht hat, fand ich auch eigenartig.

Ich bin runtergegangen an den steinigen Strand, um mich ein bisschen umzuschauen, und ein paar Minuten später ist er ebenfalls aufgetaucht. Normalerweise ermuntere ich ja alle und jeden, sich die Gezeitentümpel doch einmal etwas genauer anzuschauen, aber ich glaube nicht, dass dieser Typ sich auch nur im Entferntesten für marine Ökosysteme interessierte. Kurz darauf kam Nin, meine wissenschaftliche Mitarbeiterin, dazu, und kaum war sie da, war er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Bestimmt ganz harmlos, aber es gefiel mir nicht.

Ich setze mich auf das Bett und versuche, mich zu konzentrieren. Meinen verschwundenen Ehemann zu finden hat jetzt oberste Priorität.

Ich schaue aufs Handy. Selten, sehr selten, wenn jemand wirklich Wichtiges gestorben ist, muss Leo mitunter auch mal mitten in der Nacht an den Laptop. Vielleicht ist eine echte Bombe eingeschlagen, vielleicht ist die Queen gestorben oder der Premierminister. Vielleicht musste er in die Redaktion.

Keine Nachrichten von ihm auf dem Handy. Nur meine Google-Suche nach einem Mann, den ich nicht hätte suchen sollen. Das Letzte, was ich getan habe, ehe ich einschlief.

Die Erinnerung an das morgendliche Telefongespräch sickert in mein Bewusstsein wie Hochwasser unter einer Tür hindurch. Ich will doch bloß mit dir reden, hatte er zu mir gesagt. Bitte, können wir uns nicht irgendwo treffen, unter vier Augen?

Ich hatte wortlos aufgelegt.

»Leo?«, flüstere ich. Nichts. »Leo?«, flüstere ich, lauter diesmal. »Ich könnte immer noch Krebs haben! Du kannst mich jetzt nicht verlassen!«

Dann, nach einer kurzen Pause: »Ich liebe dich. Wo bist du?«

Noch immer keine Antwort. Mein Mann ist spurlos verschwunden.

Ich finde ihn schließlich im Gartenschuppen. Vor ungefähr fünf Jahren hat er sich so über den unzumutbaren Zustand des Hauses geärgert, dass ich jemanden dafür bezahlt habe, den Schuppen zu entrümpeln. Anschließend haben wir ihn gedämmt und ein wetterfestes Kabel nach draußen verlegt, damit er dort arbeiten kann. Ich habe ein Sofa und einen Teppich und ein Bücherregal hineingestellt und ihm hoch und heilig versprochen, nichts von meinem Kram »zum Aussortieren« hier zwischenzulagern. Leo ist hin und weg gewesen und hat dann prompt wieder vergessen, dass der Schuppen überhaupt exis­tiert.

Nun sitzt er in einer Wolke Zigarettenrauch in seinem vergessenen Heiligtum und hustet.

»Ach herrje«, sage ich und bleibe in der Tür stehen. »Was machst du denn da?«

Kleinlaut guckt er mich an. »Ich rauche eine Notfallzigarette.« Neben ihm liegt eine Schachtel Zigaretten, hastig aufgerissen. Daneben das lange Plastikdings, das wir immer benutzen, um den Gasherd anzuzünden.

Der Hund, der mir nach draußen gefolgt ist, schaut erst Leo an und dann mich, als wolle er sagen: Aber er raucht doch gar nicht. »Aber du rauchst doch gar nicht«, sage ich.

»Ich weiß.« Er nimmt den Herdanzünder und drückt auf das Zündknöpfchen. Eine blau-orange Flamme beleuchtet sein Gesicht, müde und verängstigt, und obwohl das Bild mir beinahe das Herz bricht, muss ich lachen. Mein Mann sitzt in seinem Schuppen und raucht eine Notfallzigarette, angezündet mit einem Hausfrauenflammenwerfer.

»Lach nicht«, brummt er und muss selbst ein bisschen lachen. »Ich habe Angst.«

Ich höre auf zu lachen. Wie oft habe ich während meiner Krankheit daran denken müssen, was wohl wäre, wenn ich diesem Mann wegsterben würde, dessen gesamte emotionale Landschaft geformt ist von Verlust. Klar habe ich Angst um mich gehabt, selbstredend, und mir Rubys Kummer vorzustellen ist schier unerträglich, aber in gewisser Hinsicht bereitet Leo mir die größten Sorgen. Die meisten Menschen sehen meinen Mann vermutlich als stillen, in sich selbst ruhenden Menschen; einen schlagfertigen Kerl, ein helles Köpfchen. Aber das ist nur die eine Seite.

Unsere kleine Familie ist der erste Ort, an dem er sich wirklich zu Hause fühlt.

»Ach, Leo …«, sage ich. »Liebling, kannst du nicht einfach einen Whiskey trinken oder so was?«

Er schüttelt den Kopf. »Ich habe dir versprochen, keinen Alkohol mehr zu trinken. Und daran halte ich mich.«

Ich setze mich zu ihm aufs Sofa, aus dem eine kleine Staubwolke aufsteigt, und halte seine Hand, während er mir kleinlaut gesteht, mit John Keats eine Alibigassirunde zum Kiosk gedreht zu haben, um heimlich Zigaretten zu besorgen. Und Schokolade ohne Kuhmilch habe er auch mitgebracht.

»Ekelhaft war die«, gesteht er mit jämmerlicher Miene.

Ich hake mich bei ihm unter. Er ist so angespannt, als rechne er jeden Augenblick mit einem tödlichen Angriff. »Du brauchst meinetwegen nicht auf Alkohol zu verzichten«, sage ich. »Oder auf Fleisch oder Milchprodukte.« Seine Haare stehen wirr in alle Richtungen ab, außerdem hat er tiefe Ringe unter den Augen und müsste sich dringend mal wieder rasieren, aber, Himmel, er sieht einfach umwerfend aus, dieser Mann.

Ich betrachte ihn und wünschte, ich könnte ihm irgendwie zeigen, wie sehr ich ihn liebe. Wie sehr ich ihn vor dem beschützen möchte, was womöglich mit mir geschieht.

John Keats lässt sich brummend zu Leos Füßen nieder.

»Alles wird gut«, sage ich. »Wir spazieren morgen zu diesem Termin in die Praxis, und Dr. Moru gibt uns die Entwarnung, während du wieder dasitzt und ihn wortlos bezichtigst, in mich verknallt zu sein …«

»… weil es stimmt«, brummt Leo.

»Ist er nicht. Jedenfalls wird er mir sagen, dass der Krebs weg ist, und dann können wir endlich weitermachen mit unserem Leben. Wir holen Ruby aus der Kita und gehen mit ihr schaukeln, und dann fahren wir nach Hause und bringen sie ins Bett, und danach gibt es ein schönes Essen und Wein und vielleicht ein bisschen Beischlaf. Alles wird gut.«

Schweigen. »Vielleicht entrümpele ich sogar das Haus«, füge ich hinzu. »Wobei ich mich an deiner Stelle da besser nicht zu früh freuen würde.«

Er betätigt abermals den Anzünder und leuchtet mir mit der Flamme ins Gesicht. Ich streiche ihm mit dem Finger über die Wange, und er zieht mich an sich.

»Es tut mir leid«, sagt er. »Eigentlich war ich ganz zuversichtlich, was deinen Termin morgen angeht, aber dann bist du ins Bett gegangen, und ich …« Er bricht ab.

»Und irgendwie schien es mir grundfalsch, mich mit Milchprodukten oder Whiskey zu trösten«, sagt er schließlich. »Ich habe es dir schließlich versprochen.«

»Vegane Schokolade und Nikotin und sonst gar nichts«, pflichte ich ihm bei. »Wobei du ja nur gesagt hast, dass du darauf verzichtest, wenn es morgen nicht so gut läuft. Heißt das, du weißt was, was ich nicht weiß?«

Er schüttelt den Kopf und lächelt schief. »Nein, Emma, das heißt es nicht. Es heißt, ich mache das … ich weiß auch nicht. Um deiner würdig zu sein.«

Eine Weile sieht er mich nur an, dann küsst er mich. Sein Atem stinkt abscheulich nach Zigarette, aber in diesem kalten Schuppen, unsere Zukunft in den Akten des NHS verschlüsselt, ist mir das gerade schnuppe. Mein Mann ist ein Meisterküsser. Zehn Jahre, und es kribbelt immer noch.

»Ich liebe dich«, sagt er. »Und es tut mir leid, dass ich ausgetickt bin. Das ist nicht gerade hilfreich.«

Ich lehne den Kopf an seine Schulter und merke da erst, wie müde ich bin. Hundemüde, todmüde, so müde, wie ich es zuletzt gewesen bin, als ich in der achten Woche schwanger war und auch mit dem Gesicht auf einer Käsereibe eingeschlafen wäre.

Extreme Erschöpfung, stelle ich fest. Seit ein Assistenzarzt mir vor vier Jahren bedauernd mitteilte, ich hätte da etwas, das sich extranodales MALT-Lymphom nennt, habe ich jede noch so kleine Regung meines Körpers so akribisch wie argwöhnisch beäugt, als sei es einer meiner Meeresorganismen im Labor. Und immer wenn mir etwas Neues oder Ungewöhnliches auffiel, spürte ich, wie sich in meinem Bauch ein kleines klaffendes Loch purer Angst auftat.

Zuerst wurde ich als niedriggradig eingestuft, so niedrig sogar, dass sich aus einer Behandlung keine »klinischen Vorteile« ergäben. Damals standen Leo und ich gerade am Anfang unserer dritten Kinderwunschbehandlung, und vonseiten der behandelnden Ärzte gab es keinerlei Einwände, diese Behandlung fortzusetzen. In einem Jahr würden sie sich alles noch einmal anschauen und dann neu entscheiden.

Ich vertraute den Ärzten, als sie sagten, es gebe keinen Grund, mich gleich zu behandeln. Dass es noch Jahre dauern würde, bis eine Chemotherapie notwendig würde, und eine vierteljährliche Mammografie würde jede noch so kleine Veränderung rechtzeitig erfassen. Aber die Angst saß mir wie ein Betäubungsbolzen im Gehirn. Es kam mir vor, als stünde ich neben mir.

Längst vergessene Gedanken und Gefühle überfielen mich rücklings aus dem Hinterhalt. Nachts lag ich wach, und in meinem Kopf spukten wirre Bilder und Schuldgefühle herum. Unablässig musste ich an meine Zeit an der Uni denken, damals, in meinen Zwanzigern.

Und natürlich an ihn.

Ich träumte lebensechte, fotorealistische Träume über unser Wiedersehen, das Gefühl seiner Haut an meiner, den Duft seiner Haare. Und als mir dann der Gedanke kam: Ich will ihn anrufen, verwarf ich ihn nicht gleich wieder.

Diesen Gedanken wurde ich einfach nicht mehr los. Ich muss ihm sagen, dass ich krank bin. Ich muss ihn sehen.

Ein paar Tage nach der Diagnose knickte ich ein und rief ihn an.

Die ersten beiden Male trafen wir uns in einem Hotel meilenweit außerhalb Londons, das dritte Mal in einem billigen Schnellrestaurant unweit von Oxford Circus. Zitternd saß ich da, umwabert von einem undurchdringlichen Nebel aus emotionaler Bedürftigkeit und Fruchtbarkeitshormonen, die ich mir jeden Tag selbst spritzen musste. Und jedes Mal versuchte ich mir einzureden, es ginge schon in Ordnung und es käme dabei ja niemand zu Schaden. Es war schlicht und einfach dasselbe Gespräch, das ich schon seit neunzehn Jahren mit mir führte. Aber natürlich ging es nicht in Ordnung. Es gab keine Lösung für uns, bei der wir nicht eine Familie zerstören würden.

Am Ende willigte ich ein, den Kontakt ein weiteres Mal abzubrechen.

Sechs Wochen später hielt ich einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand. Ich zeigte ihn Leo, wir waren beide sprachlos. Am nächsten Tag machte ich noch einen Test und dann noch einen und noch einen, bis ich irgendwann darauf kam, dass so viele Tests unmöglich alle falsch sein konnten. Es ist schon schwer genug, den Kreislauf des Lebens zu begreifen, wenn man jahrelang vergeblich versucht hat, schwanger zu werden, aber mit der Krebsangst im Nacken schien es schier unmöglich.

Das war vor vier Jahren.

Der Krebs blieb eine ganze Weile unverändert, die gesamte Schwangerschaft und die harte erste Zeit als junge Mutter hindurch. Die Röntgenaufnahmen meiner Brust waren unauffällig, und alles andere war, wie es sein sollte. Leo und ich hatten alle Hände voll damit zu tun, ein Neugeborenes zu versorgen, da vergaßen wir gelegentlich, dass ich Blutkrebs hatte.

Aber so konnte es nicht ewig weitergehen. Letztes Jahr dann, Ruby war gerade zwei, fing ich plötzlich an, ganz unerklärlich an Gewicht zu verlieren, und bekam Bauchschmerzen, und nach einer massiven Magenblutung machten sie eine Magenspiegelung. Ein paar Tage später präsentierten sie mir ein Bild eines bösartigen Geschwürs, das sich in meinem Magen eingenistet hatte. »Es ist leider gewachsen«, erklärte Dr. Moru, mein Hämatologe, mir. Sein sonst so sonniges Lächeln war verschwunden, als er mir erklärte, wir hätten es mit einer aggressiven Form eines Non-Hodgkin-Lymphoms zu tun und keine Zeit mehr zu verschwenden. Ich müsse mich unverzüglich in Behandlung begeben.

»Aber wir wollen doch noch ein zweites Kind«, versuchte ich einzuwenden. Er hob bloß die Hand.

»Über ein Geschwisterchen für Ruby können Sie sich Gedanken machen, wenn Sie dem Tod nicht mehr ins Gesicht starren.«

Er ist normalerweise sonst nicht so streng.

Nun, Monate später, ist die Behandlung endlich abgeschlossen. Wir haben gebetet, gehofft und gebangt, dass ich wieder gesund werde, aber diese elende Müdigkeit … Die macht mir am meisten Angst. Dieser Zug ins Bodenlose, diese stille, tiefe, undurchdringliche Dunkelheit darunter.

Vielleicht bin ich doch kein Survivor.

Leo verriegelt den Schuppen, und wir gehen langsam zurück zum Haus. Der Rasen unter unseren Füßen schmatzt vor Nässe, obwohl es seit Tagen nicht mehr geregnet hat. Es wird bald dämmern.

Wir schließen die Küchentür gegen die Düfte unse­res nächtlichen Gartens, und Leo wirft seine Notfallzigaretten in den Mülleimer.

»Versprichst du mir eins?«, frage ich. Er steht vor dem offenen Kühlschrank und beäugt neugierig den Inhalt, auch wenn er längst weiß, was er eigentlich will. Mein Mann würde als Veganer keine Woche überleben.

»Alles.«

»Ach Mensch, Leo, jetzt iss schon den verdammten Schinken!«

Er verzieht das Gesicht und öffnet die Gemüseschublade. »Was soll ich dir versprechen?«, fragt er und kramt dickköpfig im verwelkenden Grünzeug.

»Sollten wir morgen wider Erwarten wirklich schlechte Nachrichten bekommen, fängst du auf keinen Fall an, an meinem Nachruf zu schrei­ben.«

Er richtet sich auf und zieht hastig eine Scheibe Schinken heraus. »Natürlich nicht.« Er dreht den Schinken zu einer labbrigen Zigarre zusammen und fängt an zu mümmeln.

»Womöglich hast ja du das Gefühl, mir das schuldig zu sein. Ich weiß nicht – professionell, persönlich, beides. Aber ich möchte nicht, dass irgendwer über meinen Tod schreibt, solange ich noch am Leben bin. Und du am allerwenigsten.«

»Emma. Darauf würde ich im Traum nicht kommen.«

Ich beobachte ihn eine Weile. »Ganz sicher nicht?«

»Nein!«

Er wirkt ziemlich angefasst. »Entschuldige, Schatz.« Ich setze mich. »Entschuldige. Ich kann mir nur nichts Schlimmeres vorstellen als dich, wie du leise in deine Tastatur heulst und dir ausmalst, ich sei schon hinüber. Das ertrage ich nicht.«

Leo schließt die Kühlschranktür ein wenig zu heftig. »Schon klar«, sagt er. Er kniet sich vor mich. »Schon klar.«

John Keats guckt uns verunsichert an. Leo streicht mir über die Haare. Er weiß, es ist besser, nichts zu sagen.

Und ich ertappe mich, wie schon so oft in den vergangenen Jahren, bei der Frage, wie er wohl ist, dieser Moment, in dem man stirbt. Wie viel wissen wir darüber; und sollte man dann einfach loslassen? Ich glaube nicht, dass man durch einen Tunnel in ein helles Licht geht, aber ich glaube schon, dass es den Moment gibt, in dem wir wissen, dass es vorbei ist, in dem wir aufhören zu kämpfen.

Und genau da liegt des Pudels Kern: Ich will nicht aufhören. Ich will nicht, dass es vorbei ist.

Irgendwann steht Leo auf und legt die ruhige Musik auf, die wir nachts für John laufen lassen. »Und denk nicht mal dran, vor sechs aufzuwachen«, ermahnt er John und gibt ihm seinen Gutenachtkeks.

Dann richtet er sich auf und schaut mich an. »Würde tanzen helfen?«, fragt er.

Leo und ich hatten uns gerade erst kennengelernt, als wir das erste Mal zusammen tanzen gingen. Eigentlich wollten wir bloß im Pub was trinken. Aber aus einem Drink wurden mehrere und daraus dann spätabendliche Spaghetti mit Hackbällchen in einem winzigen italienischen Restaurant gleich um die Ecke von Leos alter Wohnung in Stepney Green und daraus ein paar Gläser Rum in einer Bar voller Zahnmedizinstudenten, die gerade ihr Examen gemacht hatten. Schnell freundeten wir uns mit ihnen an, und die Studenten waren nur allzu bereit, uns ins East End in einen Club in Whitechapel mitzunehmen, wo alle tanzten, als sei das Ende der Welt nahe.

»Ist das okay für dich?«, brüllte er mir ins Ohr. Leo. Fünfunddreißig Jahre alt, bildhübsch und so witzig, auf seine ruhige, treffsichere Art. »Wir können auch irgendwohin gehen, wo es nicht so laut und voll ist, wenn du …?«

»Auf keinen Fall!«, brüllte ich zurück. »Ich bin happy!«

Und das war ich auch. Alles war so unkompliziert mit Leo. Er war so unkompliziert. Wachsam vielleicht, weil er in der Vergangenheit verletzt worden war, aber so geradeheraus, dass ich all die anstrengenden Männer bereute, mit denen ich in den Jahren davor angebandelt hatte, mit ihrer Gier nach Aufmerksamkeit, nach Bewunderung, so raumgreifend und laut. Leo schien nichts von mir zu brauchen, nur mich selbst. Ich hielt seine Hand ganz fest. Sie war kühl und verlässlich, sogar in diesem völlig überhitzten Kellergebäude.

Und dann sagte er: Na schön, tanzen wir.

»Ich bin ziemlich gut«, warnte er mich, was ich als »Ich bin eine Niete« auffasste. Aber, Himmel, konnte der Mann tanzen! Ich fand immer schon, dass es kaum etwas Anziehenderes gibt als einen Mann, der tanzen kann, und Leo, in schmaler Jeans und T-Shirt, mit Brille und undefinierbarer Frisur, war der Stoff, aus dem Mädchenträume sind. Er bewegte sich durch den Raum, durch die dicht gedrängten Menschen um uns herum, wie ein Fisch im Wasser. Mit offenem Mund schaute ich ihm zu, bis er mich um die Taille fasste, sehr sachlich und bestimmt, und mich über die klebrige Tanzfläche bugsierte, als sei ich ebenfalls eine derart begnadete Tänzerin, dass die Leute alles stehen und liegen ließen, um ihr zuzusehen.

»Ich bin mir sicher, es wird alles gut«, sagt er nun, während wir ganz langsam, ganz leise, in unserer dunklen Küche tanzen. Er klingt müde, aber wild entschlossen. »Was anderes kommt nicht in die Tüte.«

Ehe wir ins Bett gehen, husche ich rasch ins Kinderzimmer und schaue nach Ruby. Zusammengeringelt liegt sie in einer Ecke ihres Bettes, mit dem Gesicht nach unten, einen Arm um Ente gelegt. Ich atmete den Duft meines schlafenden kleinen Mädchens ein, meines Wunderkindes.

Wir hatten die Hoffnung schon aufgegeben, noch ein eigenes Kind zu bekommen. Drei Jahre des Hoffens und Bangens, unzählige Termine bei Schulmedizinern, Quacksalbern und allem dazwischen. Wir hatten uns jedem nur erdenklichen Test unterzogen, aber niemand konnte mir sagen, warum es nicht klappen wollte mit dem Schwangerwerden. Das Einzige, worauf sich letzten Endes alle irgendwie einigen konnten, war, dass es höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar gänzlich unmöglich für mich war, auf natürlichem Wege ein Kind zu empfangen.

Schließlich nahmen wir eine neue Hypothek auf das Haus auf und zahlten die unverschämt teure neue »Wundermethode«, die Leos Schwägerin bekommen hatte. Und es funktionierte. In einem ande­ren Teil meines Körpers wuchs ein Krebstumor, aber in meinem Schoß entwickelte sich ein Kind.

Eine zweite Chance, denke ich jetzt und strecke die Hand nach der sachte sich hebenden und senkenden Brust meiner Tochter aus. Bitte, Dr. Moru, bitte geben Sie mir morgen noch eine zweite Chance, damit ich meinen Mann und meine Tochter lieben kann, wie ich es versprochen habe.

Wenn alles gut ist, werde ich ihn loslassen. Ganz gleich, wie schwer es auch sein mag, ich werde ihn loslassen.