Sechzigstes Kapitel

Leo

Minuten – vielleicht auch Stunden – nachdem ich im Schuppen eingeschlafen bin, kommt Emma herein und bleibt neben dem Sofa stehen. »Leo«, wispert sie.

Schweigend rücke ich ein Stückchen zur Seite, um ihr Platz zu machen. John Keats, der ganz begeistert war, die Nacht im Schuppen zu verbringen, schläft unter der Bettdecke. Wie er darunter atmen kann, weiß der Himmel. Ich stupse ihn mit dem Fuß an, er schnufft und brummelt, bleibt aber liegen wie ein Sack Zement. Emma muss sich auf die Sofakante hocken.

»Leo«, flüstert sie wieder, und ich will am liebsten »Hi!« antworten und sie küssen. Ich will mit ihr über unser letztes Zusammentreffen hier im Schuppen lachen, als wir solche Sorge hatten, ob die Chemo angeschlagen hat oder nicht, und über die grässliche kuhmilchfreie Schokolade. Ich möchte uns beide ausziehen, nicht um miteinander zu schlafen, einfach nur um ihre nachtwarme Haut an meiner zu spüren.

»Ich wollte es dir sagen«, sagt sie in die Dunkelheit hinein.

Ich schalte das Licht ein und sehe sie an. Sie ist noch angezogen und trägt einen Bademantel über den Sachen. Sie hat tiefe Ringe unter den Augen, und sie ist blass. Fast sieht sie aus wie während der Chemo.

»Ich wollte es dir sagen«, sagt sie noch einmal. »Das musst du wissen, Leo. Ich wollte es dir sagen. An dem Wochenende, als wir das erste Mal gemeinsam bei deinen Eltern in Hitchin waren: Ich wollte es dir danach sagen, sobald wir wieder in London gewesen wären. Da kannten wir uns schon ein paar Wochen. Es schien mir der richtige Moment zu sein.«

»Und?«

»Und dann hast du erfahren, dass du adoptiert wurdest. Du warst fertig mit der Welt. Monate hat es gedauert, bis du dich einigermaßen berappelt hattest.«

»Aber dann?«

»Ich wusste, es würde dich kaputtmachen«, sagt sie nach kurzem Schweigen. »Ich war in dieser Zeit immer für dich da, Leo. Ich habe jedes Wort gehört, das du über deine leibliche Mutter gesagt hast. Über Adoptionen im Allgemeinen und übers Belogenwerden. Das wäre wie eine Bombe gewesen, die dir die Beine wegreißt, just in dem Moment, als du gerade wieder laufen gelernt hattest.«

»Aber – aber das ist inzwischen fast zehn Jahre her. Da muss es doch …«

Sie unterbricht mich. »Hätte es in den vergangenen zehn Jahren einen Tag – auch nur einen einzigen Tag – gegeben, an dem ich geglaubt hätte, es dir sagen zu können, ohne dir damit wehzutun, ich hätte es getan.«

Sprachlos starre ich sie an. »Dann ist das also alles meine Schuld?«

»Nein … ich wollte nur …« Sie versucht, meine Hand zu nehmen, aber ich kann das nicht. Ich kann nicht hier sitzen und Händchen mit ihr halten.

»Es ist nicht deine Schuld, Leo, nein. Aber es ist ganz einfach so, hättest du nicht diese Vergangenheit gehabt, hätte ich es dir gesagt.«

Ich bleibe stumm, und sie sagt: »Versetze dich doch mal in meine Lage. Stell dir vor, du wärst ich, mit einer Vergangenheit, so schlimm, dass du deinen verdammten Namen ändern musstest. Hättest du mir wirklich ehrlich alles erzählt? Wo es doch in genau dieselbe Kerbe gehauen hätte wie das Schlimmste, was dir je im Leben passiert ist? Hättest du mir das wirklich angetan?«

»Ja«, sage ich, ohne zu zögern.

Sie seufzt. »Das sagt sich so leicht, vom sicheren Sofa aus. Aber ich war da, Leo. Ich wusste besser als jeder andere, was man dir zumuten kann und was nicht.«

»Echt jetzt? Wieder die alte Leier? Du weißt besser als ich selbst, was gut für mich ist?«

»So habe ich das nicht gemeint! Ich …«

»Emma, hör zu. Hör mir zu.« Sie sieht mich an. »Es gibt nichts, was du nicht über mich weißt. Nichts. Ich sage dir alles, immer schon, denn wenn wir nicht ehrlich zueinander sind, was machen wir dann eigentlich hier?«

Wir schweigen beide.

»Du hast mir nicht gesagt, dass du den ganzen Papier­kram gefunden hast, den ich versteckt hatte«, sagt Emma schließlich. »Ich weiß immer noch nicht, was du sonst noch alles herausgefunden hast oder mit wem du geredet hast. Das hast du alles im Geheimen gemacht.«

Ich setze mich auf. »Du willst wissen, mit wem ich geredet habe? Mit Robbie Rosen zum Beispiel. Und Mags Tenterden. Letztes Wochenende war ich bei Sheila zu Hause, die, wie ich dann erfahren musste, mehr über unsere Ehe weiß als ich. Und dann habe ich einen reizenden Abend mit Jeremy Rothschild verbracht, ehe ich dich schließlich bei Jill gefunden habe.«

Emma schreckt hoch. »Du warst bei Robbie? O Gott, Leo. Und Mags, ich …«

»Und wo wir schon bei unserer Ehe sind, ist die eigentlich rechtskräftig?«

Sie wendet sich ab und schüttelt schließlich den Kopf. »Eher nicht.«

»Eher nicht? Was soll das denn bitte heißen?«

»Das soll heißen, ich weiß es nicht. Aber als wir das Aufgebot bestellt haben, hätte ich wohl ein Kästchen ankreuzen müssen, um anzugeben, dass ich meinen Namen habe ändern lassen. Habe ich aber nicht.«

Eine Weile bleiben wir beide still. Hin und wieder schaut Emma mich an, aber ich kann ihr nicht ins Gesicht sehen. Das war unser Tag. Unser herrlicher, wunderbarer Freudentag, mit Blumen und Wein und Torte und Freunden und Tanz und Lachen.

Als ich den Namen ihres Vaters auf der Eheurkunde gesehen habe, habe ich natürlich gestutzt: Er hieß Peel mit Nachnamen. Aber Emma hat mir erklärt, ihr Vater hätte ihr den Mädchennamen ihrer Mutter mitgegeben, als Erinnerung an sie, und ich hatte bei mir gedacht, wie traurig und passend und wunderschön das doch war.

Sie hat mich an unserem Hochzeitstag angelogen.

»Das war egoistisch«, sagt sie irgendwann. »Und falsch. Ich war ein Feigling. Aber ich habe dich geliebt, Leo. Natürlich wollte ich dich heiraten.«

Ich sage nichts. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ich den Mund aufmachte.

»Ich wusste nicht, dass das rechtliche Konsequenzen haben könnte, als ich dir den Antrag gemacht habe. Ich habe nicht nachgedacht. Ich wusste nur eins: Ich war verrückt nach dir. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich war glücklich, so glücklich – ich wollte dich einfach bloß heiraten.«

Ich muss an die Rede denken, die ich an unserer Hochzeit gehalten habe. Über die Frau, die ich so gut kenne, die ich so sehr liebe. All die erwartungsvollen Gesichter, die uns anlächelten und anlachten, die erhobenen Gläser. Auf das Brautpaar!

Irgendwann holt sie tief Luft und sagt: »Vorher war Kummer, Leo. Kummer und Selbsthass und eine Einsamkeit, die zu beschreiben mir die Worte fehlen. Aber dann kamst du. Du war alles für mich. Bist du immer noch.«

Ich schließe die Augen. Ich stecke so tief in dieser Schreckensschlucht, dass ich immer wieder vergesse, was Emma alles durchgemacht hat. Welche Last sie auf den Schultern getragen hat, als wir uns ineinander verliebten.

Ich muss an unser erstes Telefongespräch denken, damals, kurz nach dem Tod ihrer Großmutter. Wie erst die Minuten vertickten, dann die Stunden. Wie es unversehens sechs Uhr abends wurde und wir immer noch redeten. Wie meine Kollegen die Rechner ausschalteten und nach Hause gingen und sich vielsagend angrinsten, weil jeder sehen konnte, was da gerade passierte.

Dreieinhalb Stunden. Mehr hatte es nicht gebraucht.

Emma sagt: »Das Leben hatte plötzlich wieder einen Sinn, als ich dich kennengelernt habe, Leo. Und ich wusste wieder, warum man eigentlich leben will.«

Ich schaue auf, aber sie sieht mich nicht an. Sie steckt irgendwo tief in ihrer Vergangenheit.

Ich muss an Ruby denken. Wie sie auf Emmas Brust lag, zerknautscht und winzig klein, und aus Leibeskräften schrie. Was muss Emma nur gedacht haben, als wir unser kleines Wunderkind bestaunten? War sie überhaupt emotional da?

»Mich würde auch interessieren, wie du es geschafft hast, ein Kind auf die Welt zu bringen, ohne dass ich wusste, dass es nicht dein erstes ist«, sage ich müde. »Die Ärztin meinte, Zangengeburten seien keine Seltenheit bei Erstgebärenden. Hast du der was gesteckt, damit sie mich anlügt?«

Emma schüttelt müde den Kopf. »Nein, Leo. Nein. Die Ärztin meinte damit nur, dass es meine erste Vagi­nal­geburt war. Charlie wurde per Kaiserschnitt geholt.«

Das muss ich erst mal schlucken. »Aber du hast gar keine Narbe, du …« Ich verstumme. Sie hat eine Narbe.

Ich schließe die Augen. Ich bin ein Mann Mitte vierzig. Ich habe einen Uniabschluss. Ich habe mein ganzes Berufsleben dem Streben nach Wahrheit gewidmet. Wie konnte ich nur so dumm dein? Eine Blinddarmnarbe genau über dem Schambein? Wieso habe ich das gefressen? Zehn Jahre lang?

»Und ja, ich habe ihnen tatsächlich gesteckt, dass sie bitte nichts über Charlie sagen sollen«, sagt Emma sanft. »Ich glaube, da pappte ein Aufkleber auf meiner Akte oder an der Tür oder – ich weiß auch nicht. Aber es ist ihre Pflicht, die Mutter zu schützen, Leo. Niemand wollte dich dumm dastehen lassen.«

Widerstrebend muss ich einsehen, dass sie wohl recht hat. Hätten sie auch nur ansatzweise geahnt, was diese Frau bis dahin alles durchgemacht hat, sie hätten ihr vermutlich jeden Wunsch erfüllt.

»Und Mags? Warum hast du behauptet, sie hätte dich eiskalt abserviert?«

Emma reibt sich das Gesicht mit den Händen. »Weil … Hätte ich dir gesagt, dass es meine Entscheidung war, mich von ihr zu trennen, hättest du mich nach dem Warum gefragt. Und dann hätte ich dir sagen müssen, dass Janice mich vor die Tür hat setzen lassen. Und …« Sie seufzt. »Es war einfacher, es dir nicht zu sagen, Leo. Es tut mir leid. Ich weiß, wie flapsig das klingt.«

»Tut es.«

Emma sieht sich in meinem Schuppen um, pikst mit dem Finger in den Lampenschirm, dort, wo er eine Delle hat.

»Bis heute Abend habe ich geglaubt, ich hätte versucht, mein eigenes Kind zu ersticken«, sagt sie. »Ich habe mir nicht zugetraut, selbst für meinen Sohn zu sorgen, also habe ich ihn weggegeben. Kannst du dir vorstellen, du hättest Ruby weggeben müssen, als sie acht Wochen alt war? Kannst du dir vorstellen, wie schlimm so was ist?«

»Nein.«

Das kann ich wirklich nicht. Ich kann es mir nicht einmal ansatzweise vorstellen.

Sie holt tief Luft. »Leo, durch dich ist alles anders geworden. Ich weiß nicht, ob du je verstehen wirst, warum ich das so lange für mich behalten habe, geschweige denn, es mir verzeihen kannst, aber – hör mir zu.«

Sie steht auf und kniet sich vor das Sofa, vor mich. »Es ist alles echt, Leo. Jedes kleinste bisschen du und ich ist echt.«

Ich schaue sie lange an.

»Wirklich?«

»Ja.« Sie legt die Hand an meine Wange.

Ganz kurz schmiege ich die Wange in ihre Hand. Erinnerungen kommen und gehen. Der Tag, an dem wir beide eine schlimme Lebensmittelvergiftung hatten; als wir John Keats das erste Mal gesehen haben; als wir auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn eingeschlafen sind. Streitereien auf Taxirücksitzen, Hunderte angebrannter Abendessen, Knutschen auf der Couch, der »Wanderurlaub«, den wir in einem Pub verbrachten.

Gute Jahre waren das.

Langsam nehme ich ihre Hand von meiner Wange. Ich bin durcheinander, ich bin hundemüde. Ich weiß nicht, was tun.

»Dein Dad«, sage ich schließlich. »Wieso hast du mir Lügen über ihn erzählt?«

Emmas Augen füllen sich mit Tränen. Emilys Augen.

»Ach, Leo«, flüstert sie. Sie wischt sich mit dem Ärmel über die Augen. »Ich musste … ich musste seinen Tod in meinem alten Leben lassen. Ich weiß, du kannst das unmöglich verstehen, aber ich habe es einfach nicht über mich gebracht, dir zu sagen, dass Dad an etwas gestorben ist, was ich hätte verhindern können. Meine Mutter ist schon meinetwegen gestorben, ich … ich konnte es einfach nicht.«

Eine einzelne Träne läuft ihr über die Wange. John wurschtelt sich noch mal zurecht und brummelt ein bisschen und macht gerade genug Platz, dass Emma sich auf das Sofa setzen kann.

»Aber Emma«, sage ich. »Emma. Jeremy hat mir gesagt, dein Vater ist am Alkohol gestorben. Wie hättest du das denn verhindern sollen?«

Sie schüttelt nur den Kopf. Noch eine Träne läuft ihr über das Gesicht.

»Er ist nie bis Kinshasa gekommen. Wo er meiner Geschichte nach gestorben ist. Sie haben einen anderen Geistlichen hingeschickt. Stattdessen hat er im Wohnzimmer einen Herzinfarkt erlitten und ist im Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Er hatte so viel Alkohol im Blut, ich glaube nicht, dass er noch irgendetwas mitbekommen hat.«

Mir will schier das Herz brechen.

»Emma. Daran warst doch du nicht schuld! Alko­ho­li­ker sterben, weil nichts und niemand sie vom Trinken abhalten kann. Und der Tod deiner Mutter im Wochenbett genauso. Du hättest es nicht verhindern können.«

Ich nehme ihre Hand, denn wie könnte ich das nicht? Sie weint lautlos, bis die ersten Vögel draußen in der Dunkelheit zu zwitschern beginnen.

»Leo«, sagt sie, als sie sich ein bisschen gefasst hat. »Ich weiß, du wirst Zeit brauchen, in Ruhe über alles nachzudenken. Dir zu überlegen, was du willst.«

Ich nicke, aber in Wahrheit habe ich nicht die geringste Ahnung.

»Ich kann so lange im Schuppen schlafen. Schließlich ist das alles auf meinem Mist gewachsen. Du solltest nicht meinetwegen hier draußen schlafen müssen.«

»Geht schon«, winke ich rasch ab. Es ist einfacher, im Schuppen Verstecken mit der Welt zu spielen.

»Sicher?«

»Ganz sicher.«

»Dann lass dir so viel Zeit, wie du brauchst«, sagt sie. »Aber du sollst wissen, dass ich dich liebe. Ich habe dich immer geliebt.«

Es fühlt sich wie Stunden an, ehe sie noch mal etwas sagt. Womöglich sind wir beide kurz eingenickt. Zu dritt liegen wir auf dem Sofa, als sei nichts passiert. Als ich ihre Stimme höre, scheint sie von weit weg zu kommen, und es dauert einen Augenblick, bis mir alles wieder einfällt.

»Es gibt da noch etwas, das du wissen solltest«, sagt sie. »Nicht über mich«, setzt sie schnell hinterher. »Über Janice. Ich glaube, ich weiß jetzt, wo sie steckt.«

Ich schlage die Augen auf. »Echt?«

Emma nimmt einen Brief heraus, geschrieben in einer Handschrift, die ich nicht erkenne. Sie sagt, ­Janice hat ihr vor ein paar Wochen einen Brief geschickt. Noch so was, wovon ich nichts wusste. Wollten Emma und ich wirklich versuchen, unsere Ehe irgendwie zu retten, würde es wohl monatelang so weitergehen. Jahrelang vielleicht.

Sie gibt mir den Brief.

Liebe Emma,

bestimmt ist dieser Brief ein großer Schreck für dich. Aber ich musste dir unbedingt schreiben. Du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber ich muss oft an dich denken.

Wegen dieser Krabbe, die wir damals gemeinsam entdeckt haben. Am Strand von Alnmouth, weißt du noch. Klar weißt du noch. Ich habe deine Fernsehserie gesehen und weiß, dass du immer noch nach ihr suchst. Also, wenn du mich fragst, solltest du es mal auf Coquet Island versuchen. Bei Shakespeare sind Inseln magische Orte, und der Mann wusste wovon er redet.

Coquet Island ist das einzige Fleckchen entlang der Küste, das komplett für Menschen gesperrt ist.

& ich habe mal einen Fischer bezahlt, damit er mich rausfährt zum Vögelgucken man darf zwar nicht an Land, aber sieht eine ganze Menge, unter anderem auch ganz sicher eine ­deiner Krabben … vermutlich fahren da sonst nur Vogelfreunde raus, denen so eine ungewöhn­liche Krabbe nicht auffällt, weil sie sich nur für ihre Papageientaucher und Rosalöffler interessieren.

Entschuldige, dass ich dir das so lange verschwiegen habe. Ich hätte dir das schon vor ­Jahren sagen sollen. Ganz ehrlich, es tut mir schrecklich leid.

Tut mir wirklich leid, Emma.

Janice

»Klingt fast, als sei sie betrunken gewesen«, mutmaße ich müde. Ich weiß nicht, ob ich gerade noch die Kraft habe, mich mit Janice Rothschild auseinanderzusetzen.

»Ja – oder unter Drogen.«

»Vielleicht. Meinst du, sie könnte auf Coquet ­Island sein?«

»Nein, ich glaube, sie ist in einer Steinhütte.«

Ich reibe mir die Augen. »Was?«

Emma streicht sich die Haare hinter die Ohren. Und mir entgeht nicht, dass es das erste Mal seit einem Jahr ist, dass ihre Haare dafür lang genug sind.

»Der Tag, an dem ich mich entschlossen habe, Charlie zu behalten. Als ich dachte, ich verliere das Baby.«

Ich durchsuche den Stapel an Erinnerungen, den ich heute habe einsortieren müssen. »Ja«, sage ich. »Ich erinnere mich.«

»Janice hatte mich in ihr Haus eingeladen. Wir haben einen Strandspaziergang gemacht – viel zu lang für einen Spaziergang, aber, Himmel, was war es für eine Erleichterung zu wissen, dass sie sich um Charlie kümmern würden, ich bin … Na ja, ich bin einfach immer weitergelaufen. Irgendwann muss mein Körper gemerkt haben, dass ich von allein nicht stehen bleiben werde, also hat er mich ausgebremst. Ich bekam Blutungen, Kreuzschmerzen, Schwindel. Und landete schließlich im Krankenhaus.«

Ich weiß noch, wie sie einmal, als sie mit Ruby schwanger war, Rückenschmerzen bekommen hat. Da war sie in heller Panik gewesen und schon im Krankenhaus, noch ehe ich ihre Sprachnachricht abgehört hatte.

»Aber davor hatte es irgendwann angefangen zu regnen, und wir haben uns in diesem kleinen gemauerten Stall mitten in den Dünen verkrochen. Es war herrlich. Nur ich und meine Freundin, von der niemand etwas wusste, mitten zwischen den Schafkötteln und Spinnweben.«

Sie unterbricht sich und denkt zurück. »Janice ging es genauso. Das weiß ich. Als der Sturm vorü­ber­ge­zogen war, schien die ganze Welt so voller Hoffnung, so frei und leicht und … Ich weiß auch nicht. Voller Verbundenheit vielleicht.«

»Und … Du meinst, dass sie in diesem Schuppen ist?«

Etwas verlegen runzelt Emma die Stirn. »Ja, das glaube ich tatsächlich.«

Ich warte ab, ob sie noch etwas dazu sagt, tut sie aber nicht.

»Echt jetzt?«

»Ja. Und ich sage dir auch, warum: In ihrem Brief erwähnt sie Coquet Island, und sie sagt dauernd, wie leid es ihr tut, dass sie es mir nicht gesagt hat. ›Ich hätte dir das schon vor Jahren sagen sollen‹, schreibt sie. Das hört sich an, als meinte sie die Krabben, aber ich glaube, sie will sich damit bei mir entschuldigen, dass sie mir nicht die Wahrheit über die Geschichte mit dem Kissen gesagt hat.«

John steckt unvermittelt den Kopf unter der Decke hervor und guckt Emma an. Nachdem er sie missbilligend gemustert hat, starrt er mich an, dann verzieht er sich, leise brummelnd, wieder unter die Decke. Wir sind ihm zu laut.

Und trotz allem müssen wir beide lächeln. Emma tätschelt den kleinen Hügel unter der Decke, wo er sich schmollend zusammengeringelt hat.

»Janice ist eindeutig nicht ganz bei Trost, wenn man sich diesen Brief anschaut«, sagt Emma. »Ob sie betrunken war oder irgendwelche Medikamente genommen hat oder was auch immer, ich weiß es nicht, aber es geht ihr eindeutig nicht gut.«

Ich nicke zustimmend.

»Ich glaube, sie ist dort. In Alnmouth. Mit Blick auf die ­Insel, die sie daran erinnert, was sie getan hat.«

»Aber … warum sollte sie in einem Schafstall hausen? Warum quartiert sie sich nicht einfach in ihrem Haus ein?«

»Weil Jeremy sie dort sofort gefunden hätte. Und sie brauchte ein bisschen Zeit für sich.«

»Das verstehe ich. Aber warum dann nicht ein Bed & Breakfast oder ein Wohnwagen oder so was – Coquet Island kann man doch bestimmt fast von überall sehen?«

Sie denkt kurz darüber nach. »Man kann die Insel zwischen Alnmouth und Low Hauxley tatsächlich fast von überall sehen«, sagt sie. »Also ja, sie könnte irgendwo dazwischen sein – ich würde sagen, das sind acht, vielleicht zehn Meilen. Aber vorhin ist mir noch was eingefallen, als ich im Bett lag und versucht habe zu schlafen.«

Ich warte.

»Ich musste daran denken, wie gemütlich das damals war, im Sturm in diesem Schuppen, und dann fiel es mir siedend heiß wieder ein. Ein richtiger Geistesblitz. Gerade als der Regen langsam nachließ, meinte sie nämlich: ›Wäre das hier nicht der perfekte Rückzugsort für einen netten kleinen Nervenzusammenbruch? Einfach das Leben Leben sein lassen, dasitzen und aufs Meer hinausschauen und viel zu viel Wein trinken?‹«

»Echt jetzt?«

»Ja. Wir haben uns eine Weile lang darüber unterhalten – das war mir ganz entfallen. Wir haben darüber fantasiert, wie man es in ein gemütliches kleines Nest verwandeln und alles nett herrichten könnte. Sie meinte, sie sei sich ziemlich sicher, dass der Stall nicht unter Denkmalschutz steht und dass sie den Besitzer über das Grundregister ausfindig machen wolle. Genau darauf bezieht sie sich in ihrem Tagebucheintrag. Der, nach dem Jeremy und Charlie mich vorhin gefragt haben.«

Ich schaue sie an. »Das überzeugt mich noch nicht«, muss ich gestehen. »Ich höre zwar, was du sagst, aber … na ja, das erscheint mir doch alles ein bisschen weit hergeholt. Von allem ande­ren mal abgesehen scheint Janice mir nicht der Typ fürs Wildcampen. Ich kenne sie zwar nicht persönlich, aber sie wirkt immer so elegant und gepflegt. Als hätte sie ein Faible für die schönen Dinge des Lebens. Nicht zugige Bruchbuden mit Schafscheiße in den Ecken.«

Emma steht auf und steckt den Kopf aus dem Schuppen, als lausche sie auf etwas. Der Wind hat sich gelegt, und es hat aufgehört zu regnen. »Können wir ins Haus gehen?«, fragt sie. »Ich lasse Ruby nicht gerne so allein. Ich würde es hier nicht hören, wenn sie aufwacht.«

Sie ist eine gute Mutter. Ganz gleich, was ich auch gerade für sie empfinde, sie ist eine gute Mutter, und sie hätte es verdient gehabt, Charlie selbst großziehen zu dürfen. Sie hätte es verdient gehabt, ihn aufwachsen sehen zu dürfen.

Drinnen zeigt Emma mir auf dem Computer eine Satellitenaufnahme vom Strand in Alnmouth. Ich sehe sie gleich, die kleine Hütte: Sie zoomt geradewegs darauf zu. Eine kleine Rundung in den Dünen unweit des Golfplatzes, knapp oberhalb des Strandes.

»Die Aussicht auf Coquet Island muss von dort grandios sein«, sagt sie. »Und sie könnte bequem zu Fuß zum Einkaufen gehen. Ganz wild würde sie also nicht campen.«

»Aber ich dachte, Jeremy war schon da und hat nach ihr gesucht? Ich dachte, er hat überall nachgefragt, und niemand hat sie gesehen?«

Nach kurzem Schweigen seufzt Emma. »Ach, du hast ja recht. Es gibt tausend gute Gründe, warum sie nicht in diesem blöden Schuppen sein kann. Wenn sie ihn tatsächlich gekauft und aufgetakelt hätte, dann wüsste Jeremy davon. Sie hätte ein gemeinsames Projekt daraus gemacht. Keine geheime Kommandosache. Das wäre dann doch zu schräg. Und im Dorf wüsste auch jeder Bescheid.«

Ihr Blick geht zu dem Brief in ihren Händen. »Aber ich glaube … Ich war da, mit ihr, damals, als so ein Gefühl von Hoffnung in der Luft lag. Sie hat gesagt, es wäre der perfekte Ort für einen netten kleinen Zusammenbruch, und jetzt ist sie verschwunden und hat vermutlich gerade einen solchen Zusammenbruch, und dabei erwähnt sie ausgerechnet Coquet Island. Das kann doch kein Zufall sein?«

Widerstrebend muss ich ihr recht geben.

Ich gehe zum Kühlschrank und hole den Schinken raus. Emma sieht mir zu, und mit einem Mal überkommt mich eine solche Traurigkeit, dass es mich fast umhaut. Ich weiß nicht, ob wir je wieder über gescheiterte Veganismusversuche lachen werden.

»Was ich nicht verstehe«, sage ich und reiße die Verpackung auf, »was mir nicht in den Kopf will, ist, wieso du dir überhaupt den Kopf darüber zerbrichst, wo sie sein könnte. Wie kann sie dir irgendetwas bedeuten, nach allem, was sie dir angetan hat?«

Emma verzieht keine Miene. »Sie bedeutet mir nichts«, sagt sie ganz leise. »Nicht wirklich. Jedenfalls noch nicht.«

Ich stehe unschlüssig da und weiß nicht, was ich sagen soll.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihr das je verzeihen werde«, sagt Emma. »Wie sollte ein Mensch das können? Aber hier geht es um Charlie. Er hat solche Angst davor, sie könne sich etwas antun, und glaubt, es sei alles seine Schuld. Wenn ich ihm helfen kann, sie ausfindig zu machen, dann muss ich das auch, so gut es eben geht.«

»Okay«, sage ich schließlich. »Wie wäre es, wenn du Charlie eine Nachricht schreibst und ihm sagst, er soll sich bei dir melden, sobald er wach ist.«

Das macht sie.

Emma. Emily. Ich nehme noch eine Scheibe Schinken aus der Verpackung, rolle ihn zusammen.

Die Uhr tickt. Ich legen den Schinken hin. Emma holt sich ein Glas Wasser.

Ich lege den Schinken wieder zurück in den Kühlschrank und versuche John zu bewegen, sich in sein Körbchen zu legen, als just in den Moment Emmas Handy klingelt. »Charlie«, flüstert sie.

»Charlie?«, sagt sie, als sie rangeht. »Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht wecken …«

Sie hört einen Moment zu. Konnte nicht schlafen, formt sie stumm mit den Lippen.

Ich stehe auf und setze Wasser auf.

»Na ja, ich weiß, es klingt verrückt«, setzt sie an. »Aber …«

Eine Viertelstunde später stehen wir vor unserem Haus.

Emma trägt einen Regenmantel und eine Strickmütze. Sie hat Tee eingepackt, den ich gekocht habe, und Chips und zwei Äpfel. Es ist Viertel nach vier Uhr morgens, und sie macht sich gleich auf den Weg nach Highbury Fields, um Charlie abzuholen, und dann fahren sie weiter nach Alnmouth, ganze sechs Stunden Autofahrt entfernt. Jeremy ist schon bei der Arbeit. Er geht um sechs auf Sendung.

»Was sagst du Ruby, wenn sie aufwacht?«, fragt Emma. Sie hat eben versucht, Ruby zu wecken, weil sie schon beim Schlafengehen nicht da gewesen ist. »Hey«, hatte sie geflüstert, als Ruby schlaftrunken ein Auge aufmachte. »Ich wollte dir nur schnell einen Kuss geben, weil ich gleich nach …«

»Geh weg«, hörte man Rubys Stimme in der Dunkelheit. »Du bist zu schwer.« So viel dazu.

»Mir fällt schon was ein. Wird schon werden. Sie hatte gestern so viel Spaß mit Oskar und Mikkel, sie hat gar nicht mitbekommen, dass du nicht da warst.«

»Ich will nicht, dass sie glaubt, ich hätte sie im Stich gelassen …«

»Wird sie nicht.« Meine Stimme klingt fest, weil sie es muss. »Ruby weiß, dass du ihre treu ergebene Sklavin bist. Für sie ist das überhaupt kein Problem.«

Draußen hebt ein Vogel zu einem zögerlich gezwitscherten Lied an. Seine Rufe bleiben unbeantwortet, aber er versucht es wieder und wieder.

»Ich kann dich nicht bitten, mir zu verzeihen«, sagt Emma, die auf das Vogelrufen gelauscht hat. Wir stehen so dicht beieinander, dass ich die warme Müdigkeit ihrer Haut rieche. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie es sich anfühlen würde, das Gesicht in ihren Haaren zu vergraben, die Arme um sie zu legen und so zu tun, als sei sie die Emma, die ich kenne und der ich vertraue.

»Ich kann dich nicht bitten, mir zu verzeihen, was ich dir angetan habe. Aber ich muss das hier tun, für ihn. Ich hoffe, du verstehst das.«

Für Ruby würde ich alles tun. Für unsere Kinder würden wir alles tun.

Ich nicke, und sie wendet sich zum Gehen.

»Nur eines muss ich dich noch fragen«, sage ich sie. Sie hält inne, und ich lehne mich gegen den Türrahmen.

»Klar.«

»Und ich flehe dich an, Emma, gib mir eine ehrliche Antwort.«

Sie steht auf dem Gartenpfad, gerahmt von einem Rankengewirr und Efeugeschlängel.

»Wenn Janice nicht verschwunden wäre, wenn ich nicht zufällig über die ganzen Hinweise gestolpert wäre – hättest du es mir gesagt?«

Emma schaut mich lange an.

»Nein«, gesteht sie schließlich. »Ich glaube nicht.«

»Verstehe.«

Sie dreht sich um. »Ich liebe dich, Leo.«

Mir kommen die Tränen. Ich weiß nicht, ob ich um Emma weinen will oder um mich. Vielleicht auch um Ruby oder das chaotische, wunderbar warme kleine Leben, das wir drei hier zusammen hatten. Ich weiß nichts mehr, nur dass wir oft erst, wenn etwas unwiederbringlich zerstört ist, erkennen, wie kostbar es war.