Zweiundfünfzigstes Kapitel

Elf Stunden zuvor

Wir fahren nicht auf den M1. Wir bleiben bis Wembley auf dem North Circular, dann nimmt Jill die Abfahrt, und jetzt endlich kapiere ich auch, dass wir zu ihr nach Hause fahren.

Na klar doch.

Wie ich Jill kenne, hat sie schon alles für ein richtig deftiges englisches Frühstück vorbereitet oder eine Riesentüte süße Teilchen vom Bäcker besorgt. Dazu ein bisschen fetzige Musik, zu der wir früher ausgelassen getanzt haben. Umarmungen, heiße Schokolade, jede Menge guter Ratschläge und viel Gerede, das Ganze doch positiv zu sehen. Ich glaube, Leo und Jill mögen einander nicht annähernd so sehr, wie ich sie beide liebe, aber sie weiß, dass er alles für mich ist. Sie wird mir Mut machen und mir sagen, dass er bestimmt zu mir zurückkommt. Dass wir beide füreinander bestimmt sind. Dass wir das irgendwie zusammen durchstehen werden.

Ich hoffe, das macht sie. Ich hoffe, das werden wir.

Jill wohnt in einem gigantischen Neubaugebiet in Wembley, eine Stadt mit schicken Appartementgebäuden, makellos gepflegten Gärten und Cafés mit Marketingschwerpunkt wie »Finde dein neues Ich« und »Dein Stückchen Himmel auf Erden«. Welten liegen zwischen diesem Viertel und meinem schmuddeligen kleinen Häuschen, und darum bin ich auch so gerne hier. Hier ist alles so perfekt symmetrisch wie ein Schachbrett, so sauber und adrett. In Jills Kühlschrank stapeln sich ordentlich beschriftete Gefrierbeutel, und ihre Küchenschränke stehen voll mit säuberlich aufgereihten Plastikdosen, in ­denen sich nie abgelaufene Lebensmittel finden.

Vorigen Monat hat Leo eine Dose Räucherpaprika in meinem Gewürzregal gefunden, die seit siebzehn Jahren abgelaufen war.

Jill schaltet den Motor aus und schaut ein paar Sekunden länger als gewöhnlich in den Rückspiegel.

Ich drehe mich um, aber da ist niemand, bloß ein Gärtner, der Holzstützen für ein junges Bäumchen in den Boden rammt.

»Wen suchst du?«, frage ich beim Aussteigen. Sie scannt den Parkplatz.

»Was? Ich suche niemanden«, sagt sie. »Komm schon! Wir kochen uns erst mal einen Tee!«

Irgendwas ist hier im Busch. Jedenfalls hat sie mich nicht bloß hergefahren, um mich ein bisschen aufzuheitern, so viel steht schon mal fest.

»Hör zu, ich finde, ich sollte Leo wirklich schnell eine Nachricht schicken«, sage ich. Ich gehe vorn um ihr Auto. »Gibst du mir bitte eben dein Handy?«

»Später.«

Ein kalter Wind weht heute. Und ich trage so einen bescheuerten Pulli mit Dreiviertelärmeln, die einem gerade bis über die Ellbogen gehen. Ich versuche, sie so weit wie möglich herunterzuziehen, während ich hinter Jill her über den Parkplatz haste, aber ich friere trotzdem ganz erbärmlich.

Im Vorbeigehen fällt mir auf, dass jeder Parkplatz eine andere Farbe hat, was mal wieder zeigt, wie kunterbunt und lustig das Leben in HA9 ist.

Jill und ich kennen uns seit über zwanzig Jahren, und sie ist meine beste Freundin, aber als ich nun hinter ihr in den Aufzug steige, legt sich der Zweifel wie eine eiskalte Hand von hinten auf meine Schulter.