Das System will dich!

Am schwersten hatten es jedoch «Selbst.»-Kinder. Die Abkürzung stand für «Selbständige», die überlebenden Reste also der «sterbenden Kapitalistenklasse», eine in der DDR wenig geschätzte Berufsgruppe. Auch Künstler wurden so stigmatisiert. Andre P. zum Beispiel in unserer Klasse, dessen Stiefvater Goldschmied war. Andre war ein sehr fantasievolles, künstlerisch begabtes, aber auch etwas chaotisches Kind. Er wohnte direkt gegenüber der Schule, kam aber oft zu spät, seine Eltern waren langhaarige Lebenskünstler. Als er an einem nebligen Tag wieder einmal zu spät kam, erklärte er: «Ich habe die Schule nicht gesehen und bin in die falsche Richtung gelaufen.» Wir mochten diesen verspielten Jungen, dem bei jeder sich bietenden Gelegenheit von den Lehrern vorgehalten wurde, dass er leistungsschwach sei. Missratene Aufsätze wurden laut vorgelesen, die in Arbeiten erzielten Noten wurden vor versammelter Klasse genannt; für leistungsschwache Schüler glich das einer ständigen Demütigung.

I- und «Selbst.»-Kinder sollten nur in Ausnahmefällen in den Genuss privilegierter Bildungsangebote kommen, an die Erweiterte Oberschule zum Beispiel, kurz EOS genannt, die DDR-Variante des Gymnasiums. Besonders paradox war, dass die Kinder hauptamtlicher Parteifunktionäre oder Militärs per Definition auch als der Arbeiterklasse zugehörig galten, also förderwürdig waren.

Ich mochte etwa elf Jahre gewesen sein, hatte mich von einem desinteressierten Schulbankdrücker zu einem der leistungsstärksten Schüler der Klasse entwickelt, der bereits erwähnten neuen Fächer wegen, da wurde ich aufgefordert, in das Zimmer des wichtigen, großen Schuldirektors zu kommen. Herr Münzel war fast zwei Meter lang, grauhaarig und hager. Es umgab ihn

«Setz dich bitte dorthin», sagte Herr Münzel freundlich und wies auf einen Stuhl am Tisch. Schnell ließ er die Befürchtung in mir sterben, ich hätte etwas Unangenehmes zu erwarten. Alle lächelten süßlich und sprachen über furchtbar wichtige Dinge. Angelegenheiten, die man mit Elfjährigen eigentlich gar nicht bespricht. «Es geht um den Frieden und um deinen Beitrag, damit es in unserer Welt friedlich bleibt.»

Ich fühlte mich aufgewertet, schaute von einem der Männer zum nächsten. In der Schule war ja oft vom Kommunismus die Rede, der irgendwann den Sozialismus ablösen sollte, in dem wir gerade lebten. Und das fand ich stets eine beruhigende Vorstellung, weil die gegenwärtige Situation ja doch viel Raum für Träume ließ, mit all dem Grau, den Mängeln und so weiter. Der Kommunismus dagegen wurde uns von den Lehrern als etwas rauschhaft Schönes beschrieben. Das Geld würde abgeschafft, alles wäre gratis. «Wir werden das wahrscheinlich nicht mehr erleben, aber ihr jungen Menschen vielleicht schon», hatte unsere Klassenlehrerin Frau Remmel geweissagt. Und ich dachte bei dem Gedanken an ein Einkaufen ohne Geld sofort an die Intershops, jene Läden, in denen es gegen Westgeld Kaugummi, Matchbox-Autos und bunte T-Shirts zu kaufen gab. Waren, die es in DDR-Läden nicht gab. Ob das versprochene Einkaufen ohne Geld im Kommunismus dann auch für die Intershops galt, war eine unter uns Jungen tatsächlich heiß diskutierte Frage.

Ich hatte mir jedenfalls vorgenommen, dass mein erster Weg am ersten Tag unseres Lebens im Kommunismus in den

Die drei Erwachsenen nahmen sich viel Zeit für mich, nur für mich. Und es wurde nicht ein einziges Mal geschimpft, sondern es ging um die ganzen großen Fragen des Lebens: um den Sozialismus, um den Vietnamkrieg, der soeben für das sozialistische Lager siegreich endete. Es ging um das Putschisten-Regime in Chile, um die westdeutschen Klassenfeinde (noch war das Kürzel BeErDe nicht so verbreitet), um die USA – und dann um den kleinen Harald: «Kannst du dir vorstellen, später einmal als Berufsoffizier deinem Land zu dienen?»

Ich an der Seite der Indianer gegen Amerika, durchfuhr es mich. Doch das war nur ein kindischer Reflex. In Wahrheit hatte sich mein Amerika-Bild längst gewandelt. Und das hatte viel mit Jeans, Wrigley’s Spearmint und Neil Young zu tun.

Einer der Männer sprach weiter: «Du findest vielleicht, dass es etwas früh ist, sich zu entscheiden. Aber wir würden dich jetzt schon gezielt fördern, zum Beispiel auch hier in der Schule oder beim Wunsch, eine EOS zu besuchen. Das würde dir die Türen zu einer höherwertigen akademischen Ausbildung öffnen …»

Ich saß da mit gelähmten Gesichtszügen. Nicken, war mein erster Gedanke. Das kann nie schaden; also nickte ich. Ich dachte an Schießen, Uniformen, Geländeübungen. Was eigentlich ganz lustig sein konnte. Aber auch daran, dass Uniformen nicht das Label von Levi’s oder Wrangler trugen. Und dass bei der Armee auch keine föhnfrisierten Mittelscheitelgardinen geduldet wurden. Ob sie ahnten, wie schwer es mir fiel, hier die richtige Reaktion zu zeigen? «Wir verstehen ja, wenn du dich da jetzt nicht

In meiner Klasse befand ich mich mit zwei anderen Jungen in einem permanenten Wettbewerb, nicht der Klassen-Kleinste zu sein, und nach dem Gespräch mit dem Direktor fühlte ich mich mindestens um Haupteslänge gewachsen. Die Ernüchterung folgte, als ich zu Hause meinen Eltern davon erzählte. Papa lächelte nur, Mama entschied: «Sag ihnen, du hast andere Pläne. Und du bist zu klein für das Militär.»

Ich wartete damit eine Woche, sonnte mich im Gefühl des Umworbenseins. Und dann informierte ich meine Klassenlehrerin Frau Remmel, die schon mehrfach nach einer Antwort in dieser Angelegenheit gefragt hatte, meine Eltern seien nicht begeistert von einer Offizierslaufbahn ihres Sohnes. Und wer will seinen Eltern schon widersprechen?

Tatsächlich faszinierte mich schon damals, was politisch in der Welt geschah. Die Bücherfunde in Omas Haus hatten das Feld bereitet. Und vor dem Fernseher sitzend, saugte ich die Bilder aus aller Welt auf, die uns via «Tagesschau» oder «Weltspiegel» erreichten. Ich kann mich tatsächlich noch an die Reportagen über den Vietnamkrieg erinnern. Wie Popstars erklärten uns Reporter-Legenden wie Winfried Scharlau oder Peter Scholl-Latour die Welt, das Mikrofon in der Hand, im Hintergrund eine zerschossene Kriegskulisse. Da spielten sich Dramen in Echtzeit ab, Soldaten mit Funkgeräten und riesigen Antennen wieselten durchs Bild, andere ließen eine Granate nach der anderen in einen kleinen Granatwerfer gleiten, wendeten sich ab, hielten sich die Ohren zu, während ein dumpfer Knall das TV-Bild leicht hüpfen ließ. Oder an die Bilder von landenden Hubschraubern zur Evakuierung von Menschen auf dem Dach der US-Botschaft in Saigon, danach das Entsorgen von Hubschraubern im

Boatpeople, die türkische Invasion im Norden Zyperns, der libanesische Bürgerkrieg und vielleicht am stärksten jene Bilder aus Teheran während der letzten Tage des Schahs – all das steigerte in mir den Wunsch, mehr über diese aufregende, unruhige Welt zu erfahren.

Ich wäre so gern so ein «Welterklärer» wie jene im Fernsehen geworden.

Doch wir waren Rädchen im großen Uhrwerk des real existierenden Sozialismus. Jede unserer noch so unbedeutenden Handlungen, selbst das Lernen oder das Sitzen in der Schule, wurde von Lehrern, Pionierleitern oder anderen Funktionären in einen politischen Gesamtkontext eingeordnet, wurde als unser Beitrag zum globalen Klassenkampf verklärt.

Im Umkehrschluss verschafften schlechte Leistungen oder Bocklosigkeit als Pionier dem «Klassenfeind» Vorteile. Wer sich verweigerte, war konterrevolutionär. Selbst wer nur Briefe an Rex Gildo schrieb. Wir übernahmen diese Bewertungen nicht, waren aber grundsätzlich politisch-ideologisch geeicht. Und das konnte auch schnell ins Gegenteil umschlagen – in totale Ablehnung.

Wir hatten zu funktionieren. Individualismus und Kreativität waren nur willkommen, wenn sie der «historischen Mission der Arbeiterklasse» dienten, das nannte man wirklich so. So wie die sowjetische Heldenfigur «Timur» in dem Jugendroman «Timur und sein Trupp», den wir im Rahmen des Unterrichts zu lesen hatten. Oder wie Pawel Kortschagin in dem Buch «Wie der Stahl gehärtet wurde», das zur Pflichtlektüre späterer Schuljahre gehörte. Uns wurde immer wieder gesagt, wie schön und vollkommen unser Leben doch sei. «Es ist eine Lust zu leben», titelte eine DDR-Zeitung in jenen Tagen allen Ernstes. Doch es gebe noch immer wichtige Schlachten zu schlagen, die in ihrer Bedeutung

Die Kreativität von uns «Thälmann-Pionieren» war zum Beispiel beim Sammeln von Altpapier und Glasflaschen gefragt, um die Gerichtskosten der amerikanischen Kommunistin Angela Davis zu bezahlen oder den Menschen in Vietnam zu helfen. Wir schrieben Karten mit einer Rose darauf zur Unterstützung der Amerikanerin, verfassten Protestbriefe an den chilenischen Diktator Pinochet, der den kommunistischen Politiker Luis Corvalán inhaftiert hatte, sammelten Ost-Groschen zur Unterstützung der nicaraguanischen Revolution. Stets hieß es, unsere Aktivitäten an den Pioniernachmittagen bewirkten weltweit Großes. Und wer da nicht mitmachte, gefährdete das Leben der inhaftierten Genossen.

Also teilten wir die Straßen unseres Heimatbezirks unter uns Pionieren auf und klingelten dann die Leute heraus: «Haben Sie Flaschen, Gläser, Altpapier?» So lange, bis der Bollerwagen voll war und wir ihn zur Sammelstelle am Rotkäppchenweg schieben konnten. Wir ließen uns ausbezahlen und lieferten das Geld brav in der Schule ab. Dieses Hausieren für eine Handvoll Ostmark bescherte mir nebenbei ein paar alte Bücher, einen Volks-Brockhaus von 1943 und eine illustrierte Robinson-Crusoe-Ausgabe, deren Gegenwert als Altpapier ich Angela Davis und dem vietnamesischen Volk dreist entzog – was glücklicherweise folgenlos blieb.

Angela Davis gewann am Ende ihren Prozess und wurde freigesprochen. Heute genießt sie als viel beschäftigte und respektierte Professorin und Frauenrechtlerin einen angenehmen Lebensabend. Angela Davis ist eine wahrhaft bewundernswerte Frau. Ihr Kampf für die Rechte amerikanischer People of Color war mutig, wichtig und über alle Zweifel erhaben. Zwei Jahre saß sie im Gefängnis. Doch ich habe ihr nie ganz verziehen, dass sie sich zur Bundesgenossin der Ostblock-Apparatschiks

Auch Luis Corvaláns Kampf war nicht umsonst. Am Ende durfte er in den Ostblock ausreisen, für ihn war das tatsächlich die Freiheit. Er wurde mit dem Karl-Marx-Orden und dem Leninpreis geehrt und schlief 2010 friedlich und hochbetagt im Kreis seiner Familie in einem freien, also demokratischen Chile ein. In Nicaragua regiert Daniel Ortega sogar zum Zeitpunkt dieser Niederschrift noch seine Heimat, sehr zum Leidwesen vieler Untertanen. Da behaupte noch jemand, unsere Pioniernachmittage hätten nichts bewirkt …