Welche Formel hat die Leidenschaft? Mitunter jene von Salzsäure, Kaliumpermanganat und Natriumhydroxid. Mit zwölf Jahren bekam ich von meinen Eltern zu Weihnachten einen Chemiebaukasten geschenkt. Einen Chemiebaukasten, der heute aus Jugendschutzgründen – vermutlich aufgrund gesundheitlicher, pyrotechnischer, emissionsgefährdender Risiken – nicht mehr verkauft werden dürfte. Sicher nicht an Minderjährige. Aber damals gab es im Handel noch Chemiebaukästen, auf deren Gläschen Totenschädel als Warnhinweis angebracht waren. Für mich galt damals: je giftiger, je explosiver, desto besser.
Ab der sechsten Klasse hatte ich Chemieunterricht. Allerdings war das erste Jahr eine Katastrophe. Zum ersten Mal spürte ich die Antipathie eines Lehrers. Herr Ölschläger ließ mich seine Verachtung spüren, indem er mich mit schlechten Noten traktierte. Er stellte mir regelrecht Fallen, ließ mich mündlich auflaufen und in Klassenarbeiten verzweifeln.
Das Weihnachtsgeschenk meiner Eltern war der Versuch, an diesem Zustand etwas zu ändern. Es änderte sich auch etwas, aber erst, als ich im Schuljahr darauf einen neuen Chemielehrer bekam. Er war Alkoholiker, das mutmaßten wir jedenfalls seiner oft geröteten Augen wegen, und mitunter etwas cholerisch. Aber er mochte mich. Vor allem spürte er bei mir die Begeisterung für die Chemie. Ich glaube, wir waren die beiden Einzigen in diesen Chemiestunden, die in diesem Universum aus knapp über 100 Elementen (damals war im Periodensystem der Elemente beim Mendelevium Schluss) eine gemeinsame Sprache fanden. Meine Begeisterung für Chemie ging so weit, dass ich meinen Ranzen mit Glaskolben aus dem Schulbestand vollstopfte, wenn ich die Schule verließ. Mein Lehrer bekam das mit, nötigte mich in sein Zimmer und sagte: «Wenn du chemische Behälter brauchst, dann frag mich bitte, vielleicht gebe ich sie dir ja so. Diese lässt du aber hier!» Nach meinen ersten Einsern konnte ich dann mitnehmen, was ich brauchte.
Chemie wurde mein Lieblingsfach, gleichauf mit Geschichte. Der Chemiebaukasten mit seinen Säuren, Basen und Salzen genügte schon bald meinen Ansprüchen nicht mehr. Ich kaufte mir diverse Erlenmeyer- und Rundkolben dazu, besorgte mir konzentrierte Salz-, Salpeter- und Schwefelsäure und experimentierte auf Teufel komm raus. Mein Leipziger Opa, der Vater meiner Mutter, war einst ein recht erfolgreicher Tischlermeister gewesen und hatte sich ein großes Grundstück in Holzhausen südöstlich von Leipzig gekauft. Dieses Grundstück war noch zu Lebzeiten meiner Großeltern auf die Familien ihrer drei Töchter aufgeteilt worden, sodass wir jedes Wochenende in unser Gartenhaus fuhren, in Ostdeutschland auch nach russischem Vorbild «Datsche» genannt, um dort von Freitagabend an die Wochenenden zu verbringen. Dort richtete ich mir in einem Schuppen mein Labor ein, in dem ich zusammen mit meinem drei Jahre jüngeren Cousin Lutz experimentierte. Grundlage bildete ein dickes Buch mit dem verheißungsvollen Titel «Chemie selbst erlebt».
Unsere Eltern vertrauten meinen nun stark verbesserten Chemiekenntnissen. Und das war aus heutiger Sicht ziemlich leichtsinnig. Aus unserem Schuppen stiegen die braun-roten Nebel nitroser Gase auf, wir isolierten Chlor und kleine Natrium-Kügelchen durch die Elektrolyse einer konzentrierten Kochsalzlösung und versuchten Phosphor herzustellen, indem wir in ein feuerfestes Reagenzglas pinkelten und das Ganze immer wieder eindampfen ließen. Ich hatte in einem alten, reich illustrierten Gründerzeitbuch, einem Antiquariatsfund mit dem Titel «Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien», gelesen, dass der Apotheker Hennig Brand 350 Jahre zuvor auf diese Weise den sich selbst entzündenden weißen Phosphor entdeckt haben soll. Unser Phosphor war eine Enttäuschung und stank obendrein nach Latrine, sodass wir entnervt aufgaben.
Stolz war ich aber, dass es uns gelang, durch die Veresterung von Baumwolle mit Salpeter- und Schwefelsäure, das Ganze musste durch lange Glasröhren kompliziert gekühlt werden, Schießbaumwolle herzustellen. Die stopften wir in eine Metallhülle. Mein Cousin, der mehr von elektrischen Prozessen verstand, bastelte aus einer Glühbirne ohne Glashülle und einem Batterieblock eine Fernzündung. Auf dem nahen Feld in Holzhausen brachten wir unsere Bombe zur Sprengung, sie hinterließ einen beeindruckend tiefen Trichter. Immerhin hatte ich als «Großer» noch so viel Verantwortungsgefühl, dem drei Jahre jüngeren Lutz einen Helm aufzusetzen – aus Gründen der Sicherheit. Es war ein alter, rostiger Wehrmachtshelm von Omas Trüglebener Hof. Ich selbst trug einen Luftschutzhelm. Wir müssen ein seltsames Bild abgegeben haben. Und wir können froh sein, an unseren Händen noch alle zehn Finger zu haben.
Um für Nachschub zu sorgen, musste man kreativ sein. «Haben Sie Pökelsalz?», fragte ich die Verkäuferin in einem Gewürzladen unter den Arkaden am Alten Rathaus in der Leipziger Innenstadt. Die Frau schaute den Dreizehnjährigen etwas ratlos an. «Ich glaube, ja», antwortete sie. «Dann hätte ich gern zwanzig Tüten», sagte ich und bezahlte den bescheidenen Preis von acht Pfennig pro Tüte.
Die Verkäuferin mag sich gefragt haben, ob dieser Halbwüchsige eine eigene Metzgerei betrieb. «Hamwa nisch, ist ausverkooft», antwortete mir die Verkäuferin übrigens Wochen später, als ich mal wieder ankam. Doch ich hatte ja vorerst genug davon gebunkert.
Das Pökelsalz, alle Hobbychemiker wussten das, bestand aus Kaliumnitrat, auch Kalisalpeter genannt, was eine ähnliche Verbindung war wie das Unkraut-Ex Ammoniumnitrat. Damit ließ sich das allerfeinste Schwarzpulver herstellen, und man konnte es ordentlich rumsen lassen. Wir Jungs liebten das. Und niemand machte sich Sorgen, was sicher nicht an der Verantwortungslosigkeit unserer Eltern lag, sondern am Zeitgeist. Man ließ Kinder eben «ihr Ding» machen, ob sie auf fünf Meter hohe Bäume kletterten, über Eisenbahnbrücken ohne Geländer balancierten, in irgendwelche Tümpel sprangen oder eben ihre Leidenschaft für die Chemie auslebten. Chemie war mein Einser-Fach, meine Eltern dachten, dass ich da eine Art private Weiterbildung betrieb. Und ich ließ sie in diesem Glauben.
Doch es musste nicht immer knallen, wir sorgten auch für viel Rauch. Dazu mischten wir Kalisalpeter mit Zucker, stopften die Mixtur in einen abgeschnittenen Gartenschlauch und benutzten als Zünder eine Wunderkerze. Aber als dann die Sommersonne hinter einer undurchdringlichen weißen und beißenden Nebelwand verschwand, war der Moment gekommen, an dem es unseren Eltern zu viel wurde. «Ihr müsst doch bleede sein …» Und dann gab es für den Rest des Tages Laborsperre. Ich musste den Rasen mähen und Äste klein hacken.
Verbarrikadierte ich mich nicht in meinem Gartenlabor, dann studierte ich das Periodensystem der Elemente; noch heute erkenne ich die Elemente allein am Symbol. Längst hatte ich in meinem Zimmer die Fußballplakate durch eine große Periodentafel ersetzt. Und ich las Bücher wie jenes, das den Titel «Wer einem Stern folgt» trug und von meinen neuen Helden erzählte, die Marie Curie, Justus von Liebig oder August Kekulé hießen. Madame Curie hatte aus Tonnen gefährlicher Pechblende in ihrem Pariser Hinterhof-Labor das strahlende Element Uran gewonnen – und war am Ende daran zugrunde gegangen.
Gern wäre auch ich solch einem Stern gefolgt. Hätten sie mir die Chance gegeben, ich wäre vielleicht sogar dem roten Stern gefolgt. Doch mein Stern drohte im Nirwana zu verglühen. Denn als es am Ende der achten Klasse darum ging, die begehrte Delegierung an die Erweiterte Oberschule zu bekommen, war ich nicht dabei – wider Erwarten. Nur vier Mitschüler aus meiner Klasse bekamen die Freifahrt zum Abitur – zwei Mädchen, die tatsächlich Einser-Zeugnisse hatten, und zwei Jungen, die schlechtere Noten hatten als ich. Beide waren A-Kinder, beide hatten sich bereit erklärt, als Berufsoffiziere einen längeren Wehrdienst zu leisten. Und das hatte ich ja bereits vor Jahren abgelehnt. Es wurde zwar nicht offen ausgesprochen, war aber allen Beteiligten klar. Ich war tief enttäuscht und sah allen Grund, mich von diesem unfairen Kastensystem abzuwenden.