Lesewut

Ich las damals wie besessen. Die Lektüre der Trüglebener Oma war von den deutschen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt: Hermann Hesse, Thomas Mann, Ödön von Horváth, Alfred Döblin, Franz Werfel und viele mehr. Kein Dostojewski, Flaubert oder Dickens hatte sich in Omas Bücherschrank verirrt. Ihre Schwägerin im hessischen Gladenbach, nur knapp zwei Autostunden oder 200 Kilometer westlich gelegen, aber unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang, versorgte sie mit ihren Wunsch-Büchern. Was zur Folge hatte, dass ich all diese Bücher, zumeist die mit bunten Schutzumschlägen versehenen Ausgaben der Bibliothek Suhrkamp, die ich sehr mochte, ebenfalls las, nachdem ich meine Karl-May-Phase hinter mir hatte und den Reiz dieser zunächst als langweilig und staubtrocken empfunden Lektüre entdeckt hatte.

Hesses «Steppenwolf» gefiel mir besonders, die Geschichte von Harry Haller, eines in zwei Persönlichkeiten zerrissenen

Es war dann wie eine Kettenreaktion: Durch Hesse wurde ich auf fernöstliche Philosophie, auf Konfuzius und Laotse neugierig, von Thomas Mann und Hesse war der Weg zu Friedrich Nietzsche nicht weit. In eines von Omas Büchern, Wilhelm Raabes «Die Chronik der Sperlingsgasse» in einer Goldmann-Taschenbuchausgabe, war eine 30-seitige Leseprobe von Nietzsches «Ecce homo» eingefügt worden. Diese 30 Seiten elektrisierten mich. An der Kraft seiner Sprache konnte ich mich besaufen. Ich hatte ein Philosophie-Lexikon aus dem ostdeutschen Dietz-Verlag, darin waren sie alle aufgelistet – von A wie Adorno bis zu Z wie Zarathustra, dem Hauptwerk Nietzsches. Der Inhalt des Lexikons war natürlich ideologisch gefärbt, aber ich konnte das ganz gut trennen.

Es wäre anmaßend, heute zu behaupten, ich hätte damals von Nietzsche und den anderen Philosophen viel verstanden. Doch die Beschäftigung damit hat mich herausgefordert, aus diesem Steinbruch von Gedanken immer neue Stücke herauszubrechen und dann freute ich mich, wenn sich mir Begriffe wie «Sein» und «Dasein» Stück für Stück erschlossen.

Selbst wenn ich damals nur an der Oberfläche dieser philosophischen Tiefen zu surfen vermochte – ich berauschte mich an ihrer Sprache, an Sätzen wie: «Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.» Klang dieses Nietzsche-Zitat nicht wie ein Text der Deutsch Amerikanischen Freundschaft, einer unserer Lieblings-Bands, nur eben

Manches von dem, was ich las, verstand ich nicht, namentlich bei Nietzsche. Doch das war nicht wichtig. Wichtig war, dass es mir einen Kick gab, mich nicht einschläferte und dass jeder neue Gedanke viele andere nach sich zog.

Jenseits von Nietzsches Sprache wurde meine Neugierde schon durch die Tatsache befeuert, dass das System ihn zur Unperson erklärt hatte, als maximal verdammungswürdig brandmarkte. Die Bücher dieses Philosophen wurden in der DDR im Giftschrank verwahrt – neben Hitlers «Mein Kampf». Nietzsche galt als Reaktionär, gar als geistiger Wegbereiter des Faschismus. «Ins Nichts mit ihm», hat der marxistische Philosoph Wolfgang Harich im Stile eines Großinquisitors noch 1987 fabuliert. In der Nichtbeschäftigung mit Nietzsche sah man gar einen Akt kultureller Hygiene, was ich intuitiv für ein abgrundtiefes Unrecht hielt. Was ich von Nietzsche bis dahin verstanden hatte, war sein radikaler und konsequenter Anti-Dogmatismus, sein Aufruf zum Sturz von Götzen und das Infragestellen von allgemeingültigen «Wahrheiten». Ich war überrascht, als ich in ihm auch einen konsequenten Anti-Nationalisten und scharfen Kritiker wilhelminischer Deutschtümelei entdeckte. Nichts von dem, was SIE sagten, hielt einer Überprüfung stand! Aber das war ich ja langsam gewohnt.

Mit meinen neuen Freunden fuhr ich vom Leipziger Hauptbahnhof aus nach Markranstädt und weiter bis Röcken; wir wollten uns Nietzsches Geburtshaus und Grab anschauen. Damals war das ein vergessener, beinahe verwunschener Ort. Zwei Gräber, ein zerfallenes Pfarrhaus, eine simple Gedenktafel – mehr Wertschätzung gewährte Röcken am Rande eines riesigen Braunkohle-Abbaugebietes seinem weltberühmten Sohn nicht.

Lauge legte sogar eine Rose am Grab Nietzsches nieder, das

Mit ihren vollen Auslagen erweckten ostdeutsche Buchläden auf den ersten Blick, anders als Kaufhäuser oder Kaufhallen, einen Anschein von Vielfalt. In Wahrheit herrschte jedoch auch hier quälende Einfalt, weil es eine Art Vorzensur der Verlage gab. Nicht systemkonforme Autoren erschienen auch nicht. Und falls DDR-Verlage ihre Werke dennoch veröffentlichten, dann in geringen Auflagen als «Bückware», die nur über Beziehungen «unter dem Ladentisch» zu bekommen war. Oder durch Zufall, dem man durch häufige Laden-Besuche ein wenig nachhelfen konnte. Ein Volk von Lesern waren die Ostdeutschen dennoch. Bücher wurden wertgeschätzt, wurden mit Nachbarn, Kollegen, in der Familie getauscht, jedes Buch hatte viele Leser. Das lag sicher auch am überschaubaren Angebot an alternativen Freizeitunterhaltungen, war zugleich indessen eine Reaktion auf Bevormundung und staatlich gelenkte Kontrolle. Wer las, beging gedanklich «Republikflucht», floh zumindest für die Länge eines Buches aus der Realität.

 

Aber auch das ist wahr: Noch populärer als «gute Bücher» waren West-Zeitungen, zumal Illustrierte mit kaum oder gar nicht bekleideten jungen Frauen, die wiederum von «West-Katalogen» getoppt wurden, Kataloge wie jene von Otto, Quelle oder Neckermann. Dem Hineinschmachten in diese mit Hochglanzbildern gespickten Verlockungen der Konsumgesellschaft zu widerstehen, vermochte im Osten niemand, der die Möglichkeit hatte, an sie heranzukommen. Unverbesserliche Genossen hätten

Zurück zu den Büchern. Wir loteten Möglichkeiten aus, den staatlichen Bücherbann zu umgehen. Der einfachste Weg war, die Bücherschränke der Großeltern oder Bekannten zu flöhen. Dann gab es da ja noch die lieben West-Tanten. Als ich irgendwann merkte, dass sich unsere liebe Tante aus dem hessischen Gladenbach bei der Erfüllung meiner Wünsche – bestimmte Jeans- oder Sneaker-Marken – ob ihres Alters von über 70 Jahren im Angebots-Dschungel der nächsten Stadt Gießen hoffnungslos verirrte, ließ ich das sein – und wünschte mir Bücher. Das funktionierte ganz gut, zumindest anfangs. Bis immer einmal wieder Bücher fehlten. Seltsamerweise schienen die Stasi-Kontrollen in der Provinz etwas lückenhafter zu sein; vielleicht waren dort aber auch die Kontrolleure etwas großherziger, denn in Omas Paketen fehlte nie ein Buch. So kamen wir irgendwann auf den Dreh, Bücherwünsche nur noch über den Umweg Thüringen zu äußern. Das führte zwar dazu, dass mich die Bücher oft ein halbes Jahr später, nämlich anlässlich unserer Sommertour, erreichten – aber das war es wert.

Dieses Mal lagen da eine alte Ausgabe von Kants «Kritik der praktischen Vernunft» sowie Max Stirners «Der Einzige und sein Eigenthum», Letzteres elektrisierte mich umgehend. Stirner gehörte für uns zur unheiligen Dreifaltigkeit des Anarchismus – neben dem Russen Michael Bakunin und dem Franzosen Pierre-Joseph Proudhon. In Wahrheit hatten die Kommunisten Max Stirner als Anarchisten stigmatisiert, um ihn, den Existenzialisten und radikalen Werte-Zerstörer, einer sachlichen Kritik zu entziehen. Das Buch, eine sehr schön erhaltene zweite Auflage des Buches aus dem Jahr 1882, war einst Bestandteil der Bibliothek des Kunstmäzens Harry Graf Kessler gewesen, wie ein Exlibris im Einband verriet.

Während des Blätterns zitterten meine Hände vor Aufregung. «Kauf mich», schien das Buch mir zuzuflüstern. Doch der mit Bleisjpgt ins Buch geschriebene Preis von 270 Mark ließ mir keine Wahl. So viel Geld hatte ich nicht. Und am nächsten Tag wäre das Buch weg gewesen. In der DDR galt das eherne Prinzip

Ich denke, die Tatsache, dass dieser unentschlossene, aufgeregte Kunde sprechen konnte, beruhigte den Verkäufer etwas, sodass er irgendwann für einen Moment tatsächlich kurz im hinteren Teil seines Ladens verschwand. Ich war der vermutlich unfähigste, weil auffälligste Dieb der Welt. Jetzt oder nie, dachte ich nach einer gefühlten Ewigkeit – und stürmte, Stirner unter meinen Parka geklemmt, aus der Ladentür, bei deren Öffnen und Schließen auch noch so ein blödes Glöckchen bimmelte. Ich beschleunigte auf der Straße, den Verkäufer im Nacken wähnend. In Wahrheit folgte mir niemand. Dennoch rannte ich durch die Straßen in Richtung Karl-Marx-Platz, dem heutigen Augustusplatz. In Panik stellte ich mir vor, wie der Verkäufer umgehend die Polizei benachrichtigt haben könnte, die jetzt alle Straßenbahnlinien und Hauptverkehrsstraßen kontrollierte. Also ging ich zu Fuß über Nebenstraßen die gut sechs Kilometer in Richtung Lößnig, wo wir wohnten. Unter der Jacke hütete ich meinen Schatz.

Hatte ich ein schlechtes Gewissen? Aber sicher! Doch ich redete mir ein, im Recht zu sein, und vertraute dabei einer Ahnung,

Faszinierender noch als das Buch ist aus heutiger Sicht seine Geschichte – oder besser die seines im Umschlag verewigten ehemaligen Eigentümers Harry Graf Kessler, eines heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Kunstförderers, Weltbürgers und Pazifisten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. In den 20er-Jahren wurde er zum überzeugten Demokraten und Europäer, der mit Politikern wie Walther Rathenau und Gustav Stresemann befreundet war. Kessler war ein modisch gekleideter Dandy, ein Gentleman, der mit den namhaftesten europäischen Künstlern befreundet war und sich von Max Liebermann und Edvard Munch malen ließ. Bereits in der Kaiserzeit suchte er die Konfrontation mit der reaktionären Engstirnigkeit, konsequent und mutig bot der überzeugte Europäer später den Nazis Paroli. Doch mit der Machtergreifung Hitlers musste er das Land verlassen und starb verarmt und an der politischen Entwicklung verzweifelnd 1937 in Lyon. Das alles habe ich natürlich damals nicht gewusst.