Damals schien es, als gehe in Europa demnächst das Licht aus. Wir waren alle friedensbewegt, lebten in einem unsichtbaren Wald aus Mittelstreckenraketen, und es schien nur eine Frage der Zeit, wann da am Abzug jemand die Nerven verlor. Uns ging es da nicht anders als Gleichaltrigen im Westen, nur dass wir eben nicht in der Nachrüstung des Westens, sondern in der alle Bereiche des Lebens betreffenden militärischen Vorleistung des Ostblocks und der fehlenden demokratischen Kontrolle dieses irren Systems das Hauptproblem sahen. Wenn SIE von Frieden sprachen, dann meinten sie: «Lasst uns in Ruhe.» IHRE Auffassung von «Frieden», das war die Welt nach der Niederschlagung der Aufstände 1953 bei uns, 1956 in Ungarn, des Prager Frühlings 1968 und das polnische Kriegsrecht seit 1981. Sie wollten «in Frieden» ihren Krieg gegen die inneren Feinde führen. So verstanden wir das.
Was uns allerdings Ronald Reagan als US-Präsidenten nicht sympathischer machte. Und es gab eine Phase, da hielt ich Pazifismus tatsächlich für eine Lösung all dieser Probleme. Wir überlegten sogar kurzzeitig, ob wir nicht Theologie studieren sollten – obwohl ich nicht getauft war und aus der Bibel nur die Geschichten kannte, die ich in Monumentalfilmen wie «Die zehn Gebote» oder «Das Gewand» gesehen hatte. Dietlind brachte uns Stoffaufnäher mit, auf denen «Schwerter zu Pflugscharen» stand. Darunter war ein Hinweis auf die entsprechende Bibelstelle, und ein Pikto-Mann schmiedete ein Schwert in ein landwirtschaftliches Gerät um.
Am Parka sah das irgendwie stimmig aus. Jedenfalls weniger aggressiv als die Anarcho-Sprüche der Punks. In der Schule gab es mit diesen Aufnähern allerdings gigantischen Ärger. Wir wurden zum Direktor bestellt, und uns wurde mit Rauswurf gedroht, falls wir die Dinger nicht umgehend vom Ärmel abtrennen. Das zur Verteidigung vorgebrachte Argument, bei der Figur und dem Spruch handle es sich um ein sowjetisches Denkmal, einst ein Geschenk des Kremlchefs Nikita Chruschtschow an die Vereinten Nationen, zählte nicht. «Sie haben bis nächste Woche Zeit, diese Aufnäher zu entfernen – sonst fliegen Sie von der Schule. Punkt!», wurde uns unmissverständlich gesagt. Ich gab nach, weil ich schließlich in eigenem Auftrag eine letzte Mission in diesem System zu erfüllen gedachte: das Abitur.
Dieser Pazifismus lieferte uns eine Art politisches Fundament, Argumentationshilfen, um uns den vom System aufgezwungenen Pflichten zu entziehen oder sie zumindest infrage zu stellen. Zu diesen Zwängen gehörten die Schießübungen, zu denen man uns bei verschiedenen Anlässen nötigte. Das «Jörgen-Schmidtchen-Gedenkschießen» zum Beispiel. Jörgen Schmidtchen war eine Art «Märtyrer» des Systems, ohne dass dieser Begriff so verwendet wurde. Er war ein in Leipzig geborener Grenzsoldat, der wohl einst denselben Weg zum Abi im selben Beruf wie wir gegangen war, weshalb unsere Schule seinen Namen trug. Nach dem Abitur versah er seinen Wehrdienst bei den Grenzsoldaten und wurde im April 1962 an der noch nicht einmal ein Jahr alten Mauer erschossen – «von Agenten aus dem Westen», wie die DDR-Propaganda erklärte. Postum wurde er zum Helden stilisiert. Dass er ums Leben gekommen war, weil er sich unvorsichtigerweise der Flucht von zwei DDR-Soldaten in den Weg stellte, wobei auch einer der beiden Flüchtenden starb, hat man damals nicht erfahren.
Wie auch immer: Zum Gedenken an diesen durch die Waffe gestorbenen 21-Jährigen veranstaltete unsere Schule also alljährlich jenes «Gedenkschießen». Und wir fragten uns damals schon, ob die Veranstalter den armen Kerl mit dieser geschmacklosen Ehrung post mortem verhöhnen wollten. In Wahrheit hatten die Machthaber in diesem real existierenden Kabarett aber jedes Gespür für Stil verloren. Man stelle sich vor, die Amerikaner hätten, um Kennedy zu würdigen, alljährlich einen Schießwettbewerb in Dallas veranstaltet.
Jedenfalls blieb ich dem «Jörgen-Schmidtchen-Gedenkschießen» fern, ohne mich um eine Entschuldigung zu kümmern. Erst auf Nachfrage schloss ich mich Migges Ausrede an, ich sei mit ihm bei Freunden in Dresden gewesen. Er war tatsächlich dort, ich log frech. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es zu einer regelrechten Untersuchung und getrennt voneinander geführten «Verhören» kommen würde, geführt von einem bärtigen, finster dreinblickenden Mann, der im selben Betrieb tätig sein musste wie wir, den ich aber nie zuvor gesehen hatte. Ich geriet natürlich ins Schwimmen: «Wann fuhr der Zug vom Hauptbahnhof ab? Wann kamen Sie in Dresden an? Haben Sie die Fahrkarte noch?»
Gnadenlosigkeit nistete sich in seinen dunklen Augenhöhlen ein, als er meine gestammelten Antworten notierte. Er schien sich mit so was auszukennen. Und er hielt mir die Widersprüche der meinen zu den Aussagen Migges vor. «Haben Sie mir dazu etwas zu sagen?», fauchte er. Es dauerte nicht lange, und ich sah ein, dass meine Aussagen nicht zu halten waren. «Ja, ich war nicht in Dresden. Ich hatte keine Lust, am Schießwettbewerb teilzunehmen …», gestand ich. Der Bärtige hatte seinen Job getan, Schuldirektor Arnold übernahm. «Sehr misslich, Stutte, sehr misslich», unkte dieser. «So langsam reicht es aber, finden Sie nicht auch?»
Er traf damit ins Schwarze.
Im Sommer 1982 wurde die ganze Klasse in ein Wehrerziehungslager geschickt, das war Teil der «vormilitärischen Ausbildung». Ich hatte überhaupt keine Lust auf dieses Lager, doch nach der Erfahrung mit dem «Jörgen-Schmidtchen-Gedenkschießen» verließ mich der Mut, mich mit fadenscheinigen Gründen entschuldigen zu lassen. Zumal der Aufenthalt im Militärcamp drei Wochen dauern sollte. Ein bisschen lang für eine simple Krankschreibung, man hätte schon eine Cholera erfinden müssen. Also gab es kein Entrinnen vor diesem dreiwöchigen Lagerleben mit militärischem Drill, Handgranatenattrappen-Weitwurf, Ausbildung an der Kleinkaliber-Maschinenpistole KK-MPi 69, die optisch wie ihre große Schwester, die russische Kalaschnikow AK-47 aussah, aber weniger Rückstoß hatte und etwas leichter war. Zudem mussten wir endlose Strecken marschieren, teilweise mit Gasmaske.
Ausbilder waren die Lehrkräfte aus unserer Giftküche. Drei Wochen in kratzigen, popelgrünen Uniformen mit Schnürstiefeln und Schiffchen auf dem Kopf. Man jagte uns über Kletterwände, nötigte uns zu Fahnenappellen und Nachtwachen mit unbrauchbar gemachten Gewehren des alten Reichswehr- und Wehrmachts-Karabiners 98. Es wurde geschrien, beleidigt, gescheucht. Ich musste damals in meinem «Philosophen-Lexikon» aus dem Dietz Verlag in Ost-Berlin gar nicht lange blättern, um das zu finden, was meine Situation kristallklar deutete. «Es gibt kein richtiges Leben im falschen», sagte der zweite der unter den Buchstaben A aufgeführten Philosophen: Theodor Wiesengrund Adorno. Und hier war alles falsch.
Wer aus unserer Gruppe noch immer der Illusion erlegen war, es gäbe im Gehege so etwas wie ein Leben nach dem Abitur, der wurde durch diese drei Wochen im thüringischen Scheibe-Alsbach eines Besseren belehrt. Wir wussten, dass eine direkte Straße vom Abitur in die Kasernen der Nationalen Volksarmee führte und keine daran vorbei. Der Wehrdienst war die Dornenwüste, die auf dem Weg zum Studium durchquert werden musste. Begehrte Studienplätze setzten nicht nur ein «gesellschaftliches Engagement» voraus, sondern auch einen verlängerten Wehrdienst von drei Jahren. Und das bedeutete Schikanen, Drill und so gut wie keinen Heimaturlaub. Ich wusste, dass ich mich dem nie ausliefern würde. Als ich mal wieder ziemlich durchhing und für einen unerlaubten Moment in unserer kasernenartigen Unterkunft auf dem Bett lag, kam Migge in den Raum und sagte: «Durchhalten, nicht vergessen – in drei Jahren Reeperbahn …» Koma, der ebenfalls im Raum war, hörte das. «Was habt ihr da vor?» – «Ach nichts, nur so gesagt», wiegelte ich ab. Doch Koma ließ nicht locker. «Doch, ich habe das genau gehört. Ich will auch weg. Sobald ich 18 bin, hau ich ab.» Migge und ich schauten uns an. Koma war okay, aber über Fluchtgedanken zu reden, war in der DDR eine schwere Straftat. Schon dafür drohten lange Gefängnisstrafen. Wir vertagten das Thema.
Unser Militärcamp überstanden wir vor allem mit viel Humor. Wir hatten Wochen zuvor aus Spaß angefangen, einen Arabisch-Kurs an der Volkshochschule zu belegen. Die ersten arabischen Wortfetzen fanden sofort Aufnahme in unseren Wortschatz, ständig war etwas «mumtaz», also exzellent oder super, wir riefen uns gegenseitig «Habibi», also Schatz. Um unsere Lehrer zu verwirren, reichte schon «wahid, aithnayn, thalatha» – eins, zwei, drei zu zählen. Also zählten wir oft sinnlos vor uns hin und freuten uns, wenn sie verwirrt fragten: «Was quatscht ihr da?»
Die auf der Leipziger Messe erstandenen Gaddafi- und Saddam-Hussein-Plakate zeitigten Wirkung. Seit drei Jahren tobte der erste Golfkrieg, und infolge einer Verquickung von Zufällen und Halbinformationen ergriffen wir Partei für die Feinde des Mullah-Regimes, weil wir in den finsteren, langbärtigen islamischen Mystikern, die Amerika so gedemütigt hatten, das größere Übel sahen. Teil unseres Spaßspiels war es jetzt, sich in den Uniformen der paramilitärischen «Gesellschaft für Sport und Technik» vorzustellen, man sei ein Soldat von Saddam Husseins Elite-Einheit «Republikanische Garden», die die Kindersoldaten der iranischen Ayatollahs vor sich hertrieben. Ich stellte mir vor, ich sei ein irakischer Soldat, der in den Huwaisa-Sümpfen nördlich von Basra die Pasdaran aufrieb, dabei ständig «aihtimam» und «hariq» rufend, was arabisch «Feuer» bedeutet. Und natürlich «Allahu akbar» (Allah ist groß), was damals noch eine skurrile, weil exotische Note hatte und niemand so recht einordnen konnte. Lauge hatte sich sogar einen Oberlippenbart gemalt, der dann trotz Schrubbens mit heißem Wasser tagelang blieb und ziemlich blöd aussah.
Wir liebten diese skurrilen Späße, die vermutlich heute niemand mehr witzig fände. Wir liebten sie, weil die Apologeten dieses System damit schlicht überfordert waren und wir sie mit Verweis auf die sowjetisch-arabische Freundschaft von ihrer «Systemkonformität» überzeugen konnten. Zumeist gab es dann statt Strafen nur Kopfschütteln und Sätze wie: «Die spinnen doch.» Und diese Stigmatisierung als «Spinner» strebten wir an, darin ließ es sich aushalten, das wurde eben noch akzeptiert.
Ich hatte sogar das «Grüne Buch» des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi dabei, das im Untertitel den wenig bescheidenen Anspruch einer «dritten Universaltheorie» führt. Gaddafi wäre wohl zufrieden mit mir gewesen. Doch für uns Teenager war es ein Gag, ein Spaß, unsere politisch kaum gebildeten Ausbilder mit skurrilen Zitaten aus dieser exotischen und ziemlich abstrusen Ideologie zu konfrontieren. Gaddafis krude Weltanschauung passte nicht in das simple ideologische Schwarz-Weiß-Muster des Geheges, ließ sich aber auch nicht mit dem Bann des Verbotes abschütteln. Ständig nervten wir unsere Ausbilder und Lehrer mit den banalen Weisheiten aus dem Gaddafi-Fundus. Beispiel: «Es ist wohl unbestritten, dass die Frau auch ein menschliches Wesen ist …» Einer unserer Ausbilder, ein einfach gestrickter, etwas grober Mensch namens Köhler, blaffte zurück: «Hää? Wer hat schon widder was gesacht? Kartuffi? Kenn isch nisch, mir egal …»
Innerhalb unserer Klasse entspann sich ein Streit, ob es vertretbar sei, ernsthaft an dieser Schießausbildung teilzunehmen. Sich ganz zu verweigern, hätte den Rauswurf aus der Schule bedeutet. Die christliche Fraktion unter unseren Freunden – Christoph, den wir «den Inder» nannten, weil seine Mutter eine studierte Indologin war, sowie «der Szschaffe», der eigentlich einen ziemlich langen komplizierten polnischen Familiennamen hatte – schoss während der Ausbildung an der Kleinkaliber-Maschinenpistole mit scharfer Munition absichtlich an der Scheibe vorbei. Hohe Sandfontänen stoben auf. Das war Ausdruck ihrer Weigerung, auf eine Scheibe zu schießen, auf der Menschen dargestellt waren. Das war respektabel, und ich sann über einen eigenen Ausweg aus der Situation nach. Aber auf der kurzen Reise durch mein inneres Ich fand ich meinen Pazifismus gerade nicht wieder und zerfetzte die Scheibe im Dauerfeuer-Modus. Als mich die strafenden Blicke Szschaffes und «des Inders» trafen, rechtfertigte ich mich: «Es geht nur darum, sich vorzustellen, wen diese Schießfiguren da darstellen sollen.»
Koma und Migge taten es mir gleich. Im Grunde befanden wir uns ja auch im Krieg. Für uns war so lange Krieg, bis wir desertiert oder besiegt waren. So lange ruhten die Waffen nicht. Lauge wäre beinahe unfreiwillig zum Todesschützen geworden. Sein Gewehr versagte. Er bat um Hilfe. Und als der tumbe Köhler ihm zu Hilfe eilen wollte, hielt Lauge ihm hilflos das Gewehr hin – den Lauf voran. Köhler kreischte wie von der Tarantel gestochen: «Du willst misch wo erschießen, du Rindvieh!» Lauge war fortan vom Schießstand verbannt.