Weltstadt Budapest

«Smalltown Boy» von Bronski Beat war der Soundtrack dieses Sommers und des Abschieds von Leipzig. Dazu hörte ich viel Cure, natürlich Depeche Mode, die sich noch heute wundern, in Ostdeutschland ihre treueste Fanbase gehabt zu haben. Während sich der Zug aus einer dieser einst prächtigen, damals nur noch großen Jugendstil-Hallen des Leipziger Hauptbahnhofs schob, schienen uns die beiden höchsten Gebäude der Stadt, der «Uni-Riese» und das Hochhaus Wintergartenstraße, wie gereckte Zeigefinger zu mahnen: Macht keinen Blödsinn!

Hatte ich damals Zweifel? Aber sicher. Hatten wir einen Plan? Keine Spur. Dabei basierte in diesem System alles auf einem Plan. Das Leben war vorgeplant. Die Partei hatte immer recht – und natürlich immer einen Plan. Einen Fünfjahresplan, der alles regelte, was in solch einem von Mauern umgebenen Mikrokosmos zu regeln war: wie viel Handtücher 16,8 Millionen Menschen

Pläne gehörten also zum Leben. Wir hatten keinen, mal abgesehen von dem, die Lücke im Eisernen Vorhang zu finden, irgendwie, irgendwo, irgendwann. Und unsere Kriegskasse von 100 D-Mark und 60 Dollar sollte dabei helfen.

Der Zug holperte über das schlecht verarbeitete Gleisbett, schwankte sogar von Zeit zu Zeit in seiner Gesamtheit abwechselnd nach links und rechts. Ich sah noch einmal meinen einst gefürchteten, im Vergleich zu früher jetzt auf Bonsai-Größe geschrumpften Granit-Godzilla, das Völkerschlachtdenkmal, dessen Augen nicht böse funkelten, es war ja taghell, und der in diesem dunstigen Grau sogar ein wenig traurig dreinzublicken schien. Stadtteile und Vororte wie Sellerhausen, Paunsdorf, Engelsdorf schlichen vorbei. Wir saßen auf der mit Kunstleder überzogenen Bank im schmutzigen Fahrgastraum des Zuges, es roch nach erkaltetem Nikotin und nach Zugtoilette. Der Sommer 1984 überschritt gerade den Zenit. Der Fußballgott Diego Armando Maradona hatte kurz zuvor Spanien und den FC Barcelona verlassen und beim SSC Neapel in Italien angeheuert, wo er sich von dem gigantischen Spieler, der er bis dahin war, in einen Heiligen, einen Fußballgott verwandeln würde. In Los Angeles begannen die Olympischen Sommerspiele, Tage später ließ sich Präsident Ronald Reagan bei einer Mikrofonprobe zu einem Witz herab, über den vermutlich niemand außer ihm selbst lachen konnte: «Die Bombardierung Russlands beginnt in fünf Minuten.»

Noch am Abend würden wir Budapest erreichen, die heiterste Zelle in den Baracken des Ostblocks. Vor uns lag das Leben,

Wie schmeckte die Freiheit? Nach Heineken-Bier aus der Dose. Und nach Coke. Koma stand mit den bunten Dosen ausgestattet auf dem Budapester Ostbahnhof mit dem unaussprechlichen Namen Keleti pályaudvar, als unser Zug am Abend des 25. Juli 1984 dort einrollte. Die Sache mit den Dosen ist erwähnenswert, weil uns ostdeutschen Flaschenkindern Dosenbier, Dosen-Coke, Dosen-Fanta wie Symbole der Spaßgesellschaft vorkamen, blecherne Botschafter der Freiheit, getarnt als Durstlöscher. Von der Umwelt- und Klimaschädlichkeit solcher Verpackungen sprach damals noch niemand.

Alles in Budapest atmete Großzügigkeit und den allmählich verbleichenden Prunk imperialen Imponiergehabes. Ich hatte noch nie so einen breiten Fluss gesehen, dazu diese riesigen Brücken. Es war Sommer, die Abende waren lau, Budapest erschien uns damals als eine bunte, vor Dynamik flirrende Weltstadt, in der man Spaß haben konnte – auch ohne das echte Geld, von dem wir nicht genug hatten. Denn für unsere Ostmark gab es nur einen lächerlichen Tagessatz der begehrten ungarischen Forint. Wir lösten das Problem, indem wir einfach nichts aßen, dafür umso mehr Heineken-Bier aus Dosen tranken. Und wir residierten für einen sehr geringen Betrag im Internat der Zahnmedizinischen Fakultät an der Uni.

 

Das war eine dieser typisch sozialistischen Plattenburgen, ein Zweckbau ohne Schnörkel und bar jedes ästhetischen Anspruchs. Als wäre alles, was geeignet schien, das Auge zu

Mit unseren Rucksäcken enterten wir den Aufzug des Gebäudes, schlossen die Sperrholztüren und drückten auf dem zerkratzten Armaturenbrett den Knopf für das zweite Stockwerk. Im Flur gab es eine kleine Kochnische, in der wir zwei Mädchen trafen, Berlinerinnen in Hotpants. Koma kannte beide bereits. Eine von ihnen, eine schätzungsweise zwanzigjährige Blondine, zeigte auf einen kreisrunden roten Fleck vom Durchmesser einer Kaffeetasse auf ihrem Oberschenkel. «Drecks-Wanzen», sagte sie. «Sie haben mich die ganze Nacht gequält. Schlaft ja nicht ohne Schlafsack in den Betten hier.» Im Zimmer gab es drei Sofa-Betten, einen Tisch mit zwei Stühlen, einen Schrank mit kaputter Tür. Alles strahlte diese bekannte realsozialistische Tristesse aus. Wir beeilten uns, dieses ungastliche Haus zu verlassen, um in die Metropole einzutauchen.

Anders als in der Leipziger Straßenbahn, wo nie ein Kontrolleur kam, bezahlten wir brav das Fahrgeld in Höhe eines Forints – umgerechnet 20 ostdeutsche Pfennig. Koma redete ununterbrochen. Wir verließen die U-Bahn-Station, überquerten eine Donaubrücke, um auf die Margareteninsel zu gelangen. Wir sahen wunderschöne Frauen und coole Typen, die Bars und Diskotheken flimmerten in den Neonfarben der 80er-Jahre. Mit unseren paar Forint waren wir allerdings nur Zaungäste in dieser Szenerie, während jeder Mc-Jobber aus Detroit hier König war. Und es gab deren viele: Westdeutsche, Amerikaner, Holländer, Skandinavier. Die Welt schien sich hier in Budapest zu treffen.

Wir standen vor einem Autohaus, schauten uns die Fahrzeuge an. «Wie lange müsst ihr auf so ein Auto warten?», wurde ich von einem grauhaarigen Mann mittleren Alters gefragt, mit diesem entspannten Zahnpastalächeln, welches nur Amerikaner haben.

«Wir sind nicht von hier. Ich weiß nicht, ob es in Ungarn

Der Mann wieherte vor Lachen. Und ich lachte mit und dachte: Komische Vögel, diese Amerikaner, so lustig war das doch gar nicht. Bis mir der Klops klarmachte, dass ich soeben gesagt hatte, dass es bei uns 15 Jahre dauert, bis man zu einem Auto wird. Auch wenn es so ähnlich klingt: become heißt eben doch nicht bekommen … Na ja, dachte ich, dann tue ich mal so, als hätte ich diesen Witz absichtlich gemacht.

Zwei Amerikaner, 17, 18 Jahre jung, sprachen uns an: «Where are you from, guys?»

«East Germany, GDR …», antwortete ich.

Ich glaube, sie konnten diese drei Buchstaben nicht so ganz einordnen, zumindest merkten wir, wie sie grübelten. Das sind deutsche Russen oder so, schienen sie zu denken. Stephen hieß der ältere der beiden, Zane sein etwas jüngerer Bruder. Sie kamen aus New Orleans. Und es ist nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass ich mich auf den gut 130 Kilometern zwischen New Orleans und Baton Rouge in Louisiana ganz gut auskannte. Theoretisch. Gut ein Dutzend Hefte meines Lieblings-Comics «Mosaik» hatten schließlich in ebenjener Region am Mississippi gespielt. Die beiden staunten nicht schlecht, als ich ihnen Details vom Verlauf des Flusses zwischen New Orleans und St. Louis beschrieb und sogar die Namen von Orten wie Baton Rouge oder Natchez nennen konnte.

Zane und Stephen waren die Kinder von Exil-Ungarn, die in Budapest ihre Großeltern besuchten. Zusammen stürzten wir uns ins Budapester Nachtleben, ins «Randevu» zum Beispiel, eine kreisrunde Diskothek, in der sich die Reichen und Schönen der ungarischen Hauptstadt trafen. Unsere Freunde bezahlten den Eintritt, ebenso die Drinks, wir hätten uns das nie leisten können. Denn unsere D-Mark waren ja als «Kriegskasse» für

An einem der folgenden Tage suchten wir die bundesdeutsche Botschaft auf. Glücklicherweise war der Zugang frei, obwohl es bereits seit Jahren immer wieder Ostdeutsche gab, die in den über den Ostblock verteilten diplomatischen Vertretungen des Westens Zuflucht suchten. Ein freundlicher Angestellter machte uns darauf aufmerksam, dass die Wände des Gebäudes möglicherweise verwanzt seien, man also überlegen sollte, was man sagt. Es war uns egal, wir wollten Klarheit und möglichst alle Brücken hinter uns abreißen. «Wir wollen nicht zurück in die DDR. Wir werden nach einer Lücke suchen, um in den Westen zu gelangen», sagte ich. Und: «Bitte nehmen Sie unsere Daten auf, falls uns etwas passiert.»

Wir gaben dem Mitarbeiter unsere Ausweise, er schrieb unsere Namen auf, nicht ohne zu warnen: «Es ist lebensgefährlich, den Eisernen Vorhang zu überwinden. Ich kann Sie davor nur warnen. Wissen Ihre Eltern Bescheid? Sie wissen, dass Ihnen dadurch Nachteile entstehen? Ich kann Sie nicht davon abbringen. Aber ich rate Ihnen, in der DDR einen Ausreiseantrag zu stellen.»

Wir schüttelten den Kopf: «Wir werden definitiv nicht zurück in die DDR fahren. Auf uns wartet ein achtzehnmonatiger Wehrdienst, eine denkbar schlechte Perspektive. Wir erreichen den Westen – oder landen im Knast. Wo ist es denn am einfachsten, in den Westen zu kommen?»

Der Botschaftsangestellte schüttelt den Kopf, sein Tonfall wurde jetzt fast hämisch: «Sie glauben doch nicht wirklich, ich gebe

 

In Nähe des Donauufers sprach uns ein Mann an: «Seid ihr aus der DDR?», fragte er mit deutlich österreichischem Akzent. Wir bejahten. «Ich bin vom Österreichischen Rundfunk ORF. Wir drehen eine Dokumentation über die Jugend im Ostblock. Habt ihr Lust, uns etwas zu erzählen?», fragte der Enddreißiger, der ein wenig wie einer dieser geschmeidig-seelenlosen Handelsvertreter auf der Leipziger Messe wirkte. Wir verabredeten uns für zwei Stunden später an einem nahe gelegenen Platz, der sich Jászai Mari tér nannte. Dort stand ein Karl-Marx-Denkmal. Der Platz ist heute leer, die Skulpturen stehen im «Memento Park» – einer Art Jurassic Park für die ausgemusterten Götzen der proletarischen Revolution.

Wir setzten uns auf den Sockel dieser steinernen Figurengruppe. Der Österreicher, der bereits mit seinem Kameramann auf uns wartete, fragte, was wir uns denn vom Leben versprächen. Und wir genossen das Gefühl, endlich einmal nach so persönlichen Ansichten befragt zu werden – nach Jahren, in denen man uns ignoriert hatte.

«Ich wünsche mir eine grenzenlose Welt ohne ideologische Barrieren», wiederholte ich einen Satz, den ich mal irgendwo gehört hatte. Ich war zufrieden, gab mir sogar Mühe, ein nicht allzu breites Sächsisch zu sprechen. Denn Sächsisch, das war die Sprache Ulbrichts, die Sprache der Dogmatiker.

Wie sie denn so fühlt, die «Jugend im Ostblock», wollte der

Der Österreicher biss sich auf die Lippe. «Oh Mann, das will ich gar nicht gehört haben. Das ist doch saugefährlich. Passt ja auf.»

Sagte es und verschwand mit seinem Kameramann. Zuvor bekam jeder von uns noch zehn Dollar. «Das ist vom ORF als Honorar so vorgesehen. Quittiert hier mal bitte …» Die Aufnahmen von unserem Interview habe ich mir erst Jahrzehnte später ansehen können, digital geschickt vom Archiv des ORF. Ein Blick zurück in mein früheres Leben.

 

Haben wir sie damals wahrgenommen, diese verschwenderischen Renaissance-, Barock-, Klassizismus-, Jugendstil-Fassaden der ungarischen Hauptstadt? Wir hatten wohl eher Augen für die hübschen Budapesterinnen, die uns allerdings ostentativ ignorierten. Und für Prestige-Bauten wie das Hyatt-Hotel, in dessen Atrium ein Flugzeug hing. Oder für Konsumtempel wie das gerade eröffnete Einkaufszentrum Skála Metro, ein schwarzer Glaswürfel vis-à-vis dem Westbahnhof. Damals war es eine Sensation: Videorekorder, Farbfernseher oder die damals so populären «Walkmen» – alles gab es hier. Wir interessierten uns nicht für die prächtige, vom Pariser Stararchitekten Gustave Eiffel erbaute Markthalle. Wir fingerten stattdessen aufgeregt in den Auslagen der Schallplattenläden herum, wo verkauft wurde, wonach unsere Ohren so hungerten: Punk, New Wave, Pop.

Die Händler hatten einen geschulten Blick, was potenzielle Kunden betraf: «Einer hatte sogar eine Fliegenpatsche, mit der bekamen ostdeutsche Teens, die ohnehin nichts kaufen konnten, ein paar auf die Finger …», empört sich Peter Bardogh noch heute. Der Ungar führte damals als Student deutschsprachige

Auf dem Westbahnhof am Nyugati tér trennten sich unsere Wege: Koma wollte mit dem Zug nach Nagykanizsa in Westungarn und dort die ungarisch-serbische Grenze überwinden. Wir verabschiedeten uns auch von Zane und Stephen. Als ich ihnen erzählte, dass wir vorhatten, den Ostblock zu verlassen, machten sie große Augen. «Wie unser Vater, der hat Ungarn 1956 verlassen.» Ich glaube, die beiden hielten uns für Aufschneider, aber sie wirkten doch ziemlich beeindruckt. Kalter Krieg, Eiserner Vorhang, Mauer und Schießbefehl waren Begriffe, die für Kids aus der US-Provinz so entrückt klangen wie Szenen in «Star Wars».

Zusammen mit dem Klops bestieg ich den Zug nach Rumänien.