Für die heutige Generation ist vermutlich nicht nachvollziehbar, worin die Schwere unseres Vergehens begründet liegen mochte. Doch im damaligen Ostblock war schon der Gedanke daran bzw. der Plan, das Land verlassen zu wollen, ein unverzeihliches Verbrechen, das schwere Strafen nach sich zog. Wer sich der ideologischen Zwangsbeglückung der Gemeinschaft, Kollektiv genannt, widersetzte und aus dem riesigen Gefängnis ausbrach, stand nicht nur historisch angeblich auf der falschen Seite, sondern wurde zum «Klassenfeind» erklärt. Man wurde, da ähnelten sich kommunistische und streng religiöse Dogmen, als eine Art Ketzer oder «Kuffar» gebrandmarkt, stand also außerhalb der Gemeinschaft.
Wir standen an jenem 8. August nicht nur symbolisch außerhalb der Gemeinschaft, sondern ganz konkret: stundenlang in Bulgariens heißer Sonne vor einer Baracke unweit einer Steilküste. Wir durften uns nicht rühren, durften nicht miteinander sprechen und mussten einen Abstand von etwa zehn Metern zueinander wahren. Sobald wir sprachen, wurden wir rüde auf Russisch ermahnt, das zu unterlassen. Wir konnten das Meer sehen, ab und zu sorgte ein Lüftchen für Abkühlung. Aber es war eine Qual.
Ich glaube, wir standen bis zum Abend vor dieser Baracke. Eine Gruppe junger Soldaten lungerte gelangweilt herum. Sie tuschelten, dann kam einer schüchtern zu uns herüber, fragte «skolko» und «Dollar» und zeigte in Richtung Süden. Ich kombinierte, er wollte wissen, wie viel Dollar wir den Männern im Boot angeboten hatten für die Überfahrt. Ich sagte die Summe auf Russisch, die Soldaten lachten.
Dann wurden wir einzeln zum Verhör in die Baracke geführt. Hinter einem Schreibtisch saß ein weißhaariger Militär. Schulterstücke und Zeichen auf der Brust ließen vermuten, dass er schon einige Sprossen auf der Karriereleiter emporgeklettert war. Halb bulgarisch, halb russisch, durchsetzt mit wenigen deutschen Brocken, wurde ich gefragt, was wir von dem Fischer gewollt haben. «Wir wollten einen Ausflug in die Türkei machen und dann wieder nach Bulgarien zurückkommen», log ich. «Wir sind nämlich sehr neugierig …»
Und dann wurde es plötzlich für kurze Zeit dunkel, und Sterne tanzten vor meinem inneren Auge. Ich begriff erst einen Moment später, dass mich die Faust des Uniformierten getroffen hatte. Das überraschende Moment des Schlages, der mich fast vom Hocker fegte, verfehlte seine Wirkung nicht und beraubte mich der letzten Illusion, hier glimpflich davonzukommen. Du bist hier völlig rechtlos und ihnen ausgeliefert. Du bist jetzt am tiefsten Punkt des Menschseins angelangt. Nein, «es rettet uns kein höh’res Wesen», heißt es in der «Internationale», hier musst du allein durch.
«Seien Sie Gentleman», das sprach er aus, wie man es deutsch lesen würde, «sagen Sie Prawda, nur Prawda …», fauchte der Uniformierte und streckte mir dabei den Zeigefinger seiner rechten Hand wie den Lauf einer Pistole entgegen.
«Ja, ja, ich sage die Wahrheit», beteuerte ich. «Wir wollten nach Istanbul fahren und dann zurückkommen, weil wir doch so wenig von der Welt kennen …»
Der Militär schüttelte den Kopf und brabbelte etwas vor sich hin, was wie ein Fluch klang. Meine Aussage wurde mit einer Schreibmaschine getippt, inzwischen war es draußen dunkel. Abwechselnd wurden wir zu weiteren Verhören in diesen Raum geschafft. Irgendwann in der Nacht war es vorbei, und wir bekamen etwas zu essen. Soldaten brachten uns einen Teller mit Tomaten, dazu ein Stück Brot und Leitungswasser, das stark nach Chlor schmeckte. Spät in derselben Nacht wurden wir mit einem Kleinbus der Polizei in die nächste Bezirksstadt gefahren, nach Burgas. Ich wurde in eine Zelle geschlossen, vielleicht drei mal vier Meter groß. Die Hälfte von ihr füllte ein Holzpodest aus, auf dem zwei schmierige Wolldecken lagen. Das war wohl das Bett. In einer Ecke neben der Tür stand ein Plastikeimer, der mit einem Deckel verschlossen war. Die ansonsten weiß gekalkte Wand war in dieser Ecke mit braunen Punkten beschmutzt, ein untrügliches Zeichen, welchen Zweck dieser Eimer erfüllte. Oben über dem Holzpodest war ein Metallgitter in die Decke eingelassen, ein Fenster gab es nicht.
Weil es stockdunkel war, konnte ich das alles erst am nächsten Morgen sehen. Sehr früh am Morgen, mit dem ersten Tageslicht, setzte ein Röhren über mir ein, als lande da gerade ein Hubschrauber. Ein riesiger Propeller in der Decke setzte sich in Bewegung und blies mit ohrenbetäubendem Lärm frische Luft in den Raum. Das war meine erste Nacht als Gefangener. Ich hatte nur kurz geschlafen und nach dem Aufstehen sofort verstanden, dass ich dies alles keineswegs geträumt hatte. Das war das wirkliche Leben.
Ich trug noch immer meine Adidas-Schuhe, meine Jeans und ein Camouflage-T-Shirt. Die Zellentür wurde aufgeschlossen, ein Polizist bellte mich an, unterstützt von eindeutigen Gesten, mir den Fäkalien-Eimer zu schnappen und vor die Zelle zu treten. Da standen bereits andere Gefangene, den Klops entdeckte ich weiter hinten. Wir grinsten uns kurz an, es wirkte gequält, wir hatten keinen Grund mehr zu lachen. Auf Befehl setzte sich die Kolonne in Bewegung. Es ging in einen absurd heruntergekommen Sanitärbereich, wo sich einige der Männer beeilten, kalt zu duschen, über Löchern im Boden ihr Geschäft verrichteten und den Eimer entleerten. Das beachtliche Tempo, welches sie dabei vorlegten, war das Ergebnis von Erfahrung, denn fünf Minuten später mussten wir schon wieder antreten, und es ging zurück in die Zellen. Ich tat nichts – und beobachtete fünf Minuten dieses Treiben. Dann begann ein endlos sich hinziehender Tag – Tage, ich habe vergessen, wie viele es waren.
Weil ich nicht wusste, was uns drohte, es hätten ja auch Jahre in bulgarischen Gefängnissen sein können, verschanzte ich mich in meinem «Inner-Ich», zog mich in eine Art imaginären Panikraum zurück, für alle anderen unerreichbar. Egal was sie mit mir machen, diese letzte Bastion gehört nur mir und ist uneinnehmbar, redete ich mir ein. Und das tat gut. Ich überlasse euch mein physisches Ich und bin dann mal weg … Ist ja nur ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Australien. Und als hätte ich meinen Walkman nie abgesetzt, dudelte in meinem Inner-Ich die Musik weiter. Weil mein Englisch so schlecht war, legte ich vor allem deutsche Lieder auf, von Udo Lindenberg bis zu den Fehlfarben, von DAF über Ton Steine Scherben und Slime bis zu Arbeiterliedern, die wir im Musikunterricht gelernt hatten.
Ich sang still vor mich hin, es war wie Meditation. Das half mir in diesen Tagen, nicht verrückt zu werden. Jeden Tag bekamen wir morgens einen halben Laib Brot, ein Teil davon war zusammen mit einem Becher Tee als Frühstück gedacht. Der Teil des Brotes, der übrig blieb, wurde in einem Fach außerhalb der Zelle aufbewahrt und zum Mittag mit einem Teller Kraut erneut gereicht. Das letzte Stück gab es abends, mit Fisch oder etwas Suppe. Ich knetete mir aus dem weichen Innenleben des Brots einen Ball, warf ihn gegen die Zellenwand und fing ihn wieder auf. So ein Ball hielt zwei, drei Tage, dann wurde er trocken und brach auseinander. Aber frisch geknetet hatte er etwas von einem Flummi.
Ein paar Tage verbrachte ich allein in der Zelle, dann bekam ich Gesellschaft. Ein schätzungsweise 25 Jahre alter Bulgare mit türkischen Wurzeln, Angehöriger der Minderheit, teilte sich fortan mit mir das Holzpodest. Er hatte schwarzes Haar und einen mächtigen Oberlippenbart. Wir unterhielten uns mit Händen, Füßen und russischen Sprachbrocken. Ich hörte heraus, dass ihm Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen wurde. Erst später erfuhr ich, dass die türkische Minderheit in Bulgarien einer strengen «Bulgarisierung» ausgesetzt war, was für viel Ärger sorgte. Bulgarien unter dem paranoiden Parteichef Todor Schiwkow, «Bai Tosho» genannt, Onkel Tosho, hatte der türkischen Minderheit den Krieg erklärt. 160 Menschen sollen bei Polizeieinsätzen gegen Demonstranten ums Leben gekommen sein. Doch davon hatte ich damals natürlich keine Ahnung.
Es war stickig heiß im Raum, nur morgens wurde der laut heulende Ventilator angestellt, tagsüber stand die Luft. Wir brüteten die überwiegende Zeit wortlos vor uns hin, und ich warf meinen Brotball gegen die Wand. Der Türke blickte traurig auf den Boden. Wenn sich unsere Blicke mal trafen, nickte er mir kurz aufmunternd zu, dann versank er wieder in stille Grübelei.
Nach zehn Tagen brachte man den Klops und mich in Handschellen und in Begleitung eines bewaffneten Polizisten von Burgas in die bulgarische Hauptstadt. Im überfüllten Zug nach Sofia wurde sogar ein Abteil für uns geräumt. Wir durften nicht sprechen. Der dicke Polizist setzte sich in die Nähe der Abteiltür, packte eine Brotdose aus und verschlang gierig und schmatzend seine Stullen. Als der Zug durch einen dunklen Tunnel fuhr, stellte er seinen Fuß auf meinen. Dachte er wirklich, ich hätte die Absicht zu fliehen?
In Sofia landeten wir im berüchtigten Untersuchungsgefängnis des bulgarischen Geheimdienstes Durschawna Sigurnost (DS) nahe der «Löwenbrücke» am Dimitrov Boulevard. Auch das weiß ich erst heute, damals wurden wir natürlich über nichts informiert. Ich hielt das für Polizei. Vom Durschawna Sigurnost, einem Ableger des russischen KGB, der mit einem Heer von Beratern das eigentliche Rückgrat dieses Geheimdienstes bildete, hatte ich noch nie gehört. Auch nicht, dass er sich in jener Zeit auf internationalem Parkett als Handlanger der Russen für schmutzige Aufträge profilierte, was gerüchteweise das Attentat auf Papst Johannes Paul II. betraf oder den legendären «Schirmmord» an einem bulgarischen Dissidenten in London 1978.
Kurzum: Wir hatten glücklicherweise keine Ahnung, dass wir uns in den Fängen eines absolut grausamen, gnadenlosen und unberechenbaren Ostblock-Geheimdienstes befanden. Hätte ich es damals gewusst, so hätte ich mich aber kaum schlechter gefühlt, weil es mir an Vorstellungskraft mangelte, was solche monströsen Geheimdienste für eine Macht haben.
Das Einzige, was mich damals wirklich beunruhigte, war die Tatsache, dass ich hier in Sofia meine Zivilklamotten gegen Häftlingskleidung aus grau-blau gefärbten ehemaligen Uniformen eintauschen musste. Das konnte bedeuten, eventuell für Jahre in Bulgariens Gefängnissen bleiben zu müssen.
Ich wurde in eine Zelle gesperrt, in der schon ein Mithäftling saß. Ich schätzte den Mann auf 50 bis 55 Jahre. Er hatte das typische Gesicht eines kommunistischen Apparatschiks, trug eine dieser unmodischen Funktionärs-Brillen mit dicken Gläsern, war klein und untersetzt, hatte gar einen Wohlstandsbauch und volles, gelocktes, aber kurzes Haar.
Der Mann wirkte eingeschüchtert, unsicher, verängstigt und war sehr höflich. Er sprach ein sehr gutes Russisch, weit über meinem Sprachniveau. Doch wir hatten ja Zeit, sodass ich irgendwann begriff, dass der Mann ein hohes Tier im Staatsapparat gewesen sein musste, stellvertretender Sportminister oder etwas in der Art. Man warf ihm schlimmste Verbrechen vor, deren Begrifflichkeit sich mir nicht erschloss. Ich verstand lediglich, dass es um Kontakte zu «Feinden» und um «Devisen», also ausländisches Geld, ging. Als ich fragte, welche Strafe ihm wohl drohe, machte er mit der rechten Hand eine Bewegung, die «Hals ab» bedeuten musste – die Todesstrafe also. «Bai Tosho» wollte ihn aus dem Weg räumen.
Als der Mann sah, welcher Schrecken sich über mein Gesicht legte, beeilte er sich mitzuteilen: «Aber du wirst bestimmt nach drei, vier Jahren freigelassen. Der Fluchtversuch ist in Bulgarien kein so schlimmes Delikt.» Was seine Wirkung aber komplett verfehlte: Drei bis vier Jahre in einem bulgarischen Knast? Das überlebe ich nicht, dachte ich bei mir.