Mein Weg durch die Mauer

Naumburg sollte die vorläufige Endstadion meiner langen Reise sein. Sofort nach der Ankunft wurden wir im Strafvollzug auf verschiedene «Verwahrräume» verteilt, in denen viele Gefangene bereits seit Monaten ausharrten. Das Gebäude, die Räume wirkten weniger düster als in Cottbus, ich erinnere mich an die Wandfarben Grün und Gelb, vor allem war es im Gebäude wärmer als in Cottbus. Gefühlt und was die tatsächliche Temperatur anging. Die Wachen indessen waren kaum freundlicher, doch trugen sie keine Schlagstöcke, was eine zumindest optisch positivere Wirkung auf uns Insassen hatte.

Naumburg, das sollte ich erst später erfahren, war auch der Knast, in den es den Klops verschlagen hatte. Weil aber jede Etage, jedes Gebäude verschlossen war, sah man sich nur selten – beim Morgenappell einen Moment lang auf große Distanz,

Im Knast lernt man wichtige Dinge, die einen im Leben draußen um einiges souveräner machen: zum Beispiel eben die Fähigkeit, in Gegenwart anderer zu scheißen. Sich auch von Mahnungen wie «Zieh endlich ab» nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, sondern das Ganze souverän zu Ende zu bringen. Oder heimlich zu wichsen, während da 20 andere Kerle neben, unter, über einem schlafen, weinen, grübeln, im Zweifel auch wichsen – doch letzteren Gedanken verdrängt man dabei natürlich. Es gehört eine enorme Fantasie dazu, an einem solchen, von allem Schönen, Lebens- und Liebenswerten befreiten Ort an ein hübsches Mädchen zu denken, an heiße Momente aus dem Vorleben oder schlicht die eben gesehenen Filmszenen im Kopf umzuschreiben und sich neben der Schönen im Bett liegen zu sehen.

Doch auch das ist wahr: Wir vermuteten schon, sie hätten uns etwas in den Tee gemixt, weil sich solche Sehnsüchte ganz selten in unsere Gedankenwelt stahlen. Viel wichtiger war es, heimlich weinen zu lernen, lautlos, weil wir es als eine viel größere Schmach empfanden, dies vor den anderen zu tun, sich also beim Flennen erwischen zu lassen. Das war noch peinlicher, als beim Wichsen überrascht zu werden oder es beim Toilettengang richtig muffeln zu lassen.

Wir wurden zwangsbeschäftigt, und zwar im «Volkseigenen

In der Knast-Rangordnung war der «Stubenälteste», eine vom Wachpersonal autorisierte Stellung, eine Art Brigadier. Er war der Chef eines solchen Kommandos, welches die Großzellen bildeten. Unser Stubenältester hieß Bernd, er war ein Kleinkrimineller mit Gangstervisage und nackenlangem Haar, der aber eine gewisse Gelassenheit ausstrahlte. Er war der Einzige unter den 22 Zelleninsassen, der keine politische Strafe absaß und die DDR auch nicht verlassen wollte. Die Männer waren unterschiedlichen Alters, ich war der Jüngste. Der Älteste war knapp über 50. Viele litten darunter, dass ihre Ehefrauen auch im Gefängnis saßen, weil man Flucht, Ausreise oder was auch immer zusammen geplant hatte, sodass die Kinder in ein Heim zwangseingewiesen wurden, im besseren Fall bei Großeltern waren. Wie auch im Fall meines ehemaligen Zellengenossen Hans aus Leipziger Tagen hatten die hauptamtlichen Psychopathen des Geheimdienstes deshalb leichtes Spiel, Misstrauen zu säen, zu desinformieren, sodass reihenweise Ehen zerbrachen. «Zersetzung» und «Diversion», wie sie ihr zerstörerisches Tun in ihrer kalten Sprache nannten, waren legitime Maßnahmen und nahmen in der Ausbildung der «Tschekisten» an der «Juristischen Hochschule» des MfS in Potsdam-Golm einen breiten Platz ein, seit man von

Doch da, wo Niedergeschlagenheit ist, da gibt es auch Hoffnung. Diese Hoffnung war verbunden mit einem Wochentag, dem alle Eingesperrten entgegenfieberten: dem Mittwoch. Mittwochmorgens während des Zählappells kam es vor, dass einige Namen von Gefangenen einfach nicht verlesen wurden. Diese, zumeist eine Handvoll Menschen, manchmal auch mehr, hatten nichts anderes zu tun, als stehen zu bleiben. Einfach stehen bleiben, das war das Paradies, während die Masse der Enttäuschten wieder in diesen hässlichen, betagten Ikarus-Bus mit seinem charakteristischen rundlichen Heckteil, gebaut in Ungarn, einsteigen musste. Wir, die Aufgerufenen, blickten anschließend sehnsüchtig und neidisch durch die von der Atemluft längst milchig gewordenen Scheiben, zusätzlich von Gittern gesichert, auf die im Morgengrauen Stehengebliebenen. So ungefähr, wie man jemanden ansieht, der soeben erfahren hat, dass ihm eine bislang unbekannte Tante in Amerika ein Millionenvermögen hinterlassen hat. Weil alle wussten: Diese Menschen mussten heute nicht ins Möbelwerk fahren, sie mussten überhaupt nie wieder in irgendein Möbelwerk fahren, es sei denn, sie machten das freiwillig. Vielleicht würden jene Zurückgebliebenen schon in einer Woche bei einem Beck’s im Biergarten sitzen und für den kommenden Spätsommer eine Reise nach Ibiza planen. Denn für sie war die Zeit als Gefangene des Systems, unterste Daseinsstufe im Arbeiter-und-Bauern-Paradies, definitiv vorbei.

Beinahe vorbei. Denn auch das hatte sich herumgesprochen: Der Weg in die Freiheit führte zunächst über die Stadt, die den Namen des Gottvaters trug: Karl-Marx-Stadt, das heutige Chemnitz. Im Stasi-Gefängnis dieser sächsischen Industriestadt

In der Fabrikhalle des VEB Metallwaren Naumburg wurde ich an eine Maschine gesetzt und hatte im Akkord Scharniere zu vernieten. Für monatlich 110 Mark DDR-Knastgeld. Ausgestattet mit Gehörschutz und Schutzbrille, die alle später aus Gründen der Arbeitseffizienz ablegten, lernte ich die Motorik der benötigten Handgriffe wie im Schlaf auszuführen: Linke Hand legt das eine Teil des Türenscharniers in einen Werkzeugschlitten, rechte Hand das andere Teil, dazwischen kommt eine kleine Metallspange oder -feder. Dann schnell mit beiden Händen links und rechts Knöpfe bedient, sodass ein maschineller Stanzhammer niedersauste und die Einzelteile mit drei Nieten fixierte. Es musste schnell gearbeitet werden, denn wer die Norm nicht schaffte, wurde bestraft: mit dem Entzug von Privilegien wie dem Kino-Wochenende, dem monatlichen Besuch oder Paket bis hin zu Arrest für notorische Querulanten.

Was ich damals nicht wusste: Ich half, Möbel für den schwedischen Gute-Laune-Konzern Ikea («Das unmögliche Möbelhaus») zu produzieren. Nach der Eröffnung des ersten Möbelhauses 1974 in München war Ikea in Westdeutschland schnell groß geworden, damals warb man mit dem Slogan «Nur Stehen ist billiger». Das rechnete sich, weil wir preiswert Zwangsarbeit verrichteten. «Es sind die kleinen Dinge, die einen Tag besonders

Die heimliche Währung im Knast war die «Impe», womit ein Kessel schrecklich schmeckenden, brauntrüben Schwarztees gemeint war. Dieser schwarze Tee war Alkohol- und Drogenersatz, Tauschware, Prämie, Genuss- und Bestechungsstoff. Von Kaffee durfte nur geträumt werden. Der Tee wurde in großen, metallenen Kübeln zubereitet und am Wochenende gemeinsam «genossen». Ein schäbiges Highlight, doch die Mitgefangenen fanden es gut. Ich verdiente mir manches Päckchen Schwarztee, indem ich Mitgefangenen die Haare schnitt. Das war mit einer stumpfen Schere und den klingenbewehrten Nassrasierern ein übles Gewürge, aber ich bekam allmählich Übung darin.

Am Wochenende, wir mussten nicht ins Möbelwerk, war Großreinemachen angesagt. Und weil ich nicht wirklich eine Idee hatte, wo die Grenze verlief, bis zu der man sich als guter Teamplayer zeigte und ab der man ausgenutzt wurde, eckte ich schnell an. «Stutte, du machst die Toiletten sauber», wurde mir aufgetragen.

Ich war der Jüngste, gerade 20. Ich machte diesen Toilettendienst ein Wochenende, ich machte ihn an zwei und drei Wochenenden, am vierten Wochenende wehrte ich mich. Mir fiel die Lebensweisheit meiner Knacki-Freunde ein: «Lass dich nur

Was waren das für Menschen, unter die ich hier geraten war – von denen ich hier für Monate umgeben war, auf engstem Raum einander ausgeliefert, dieselbe schlechte Luft atmend, vor deren Gesprächsbedarf man nicht fliehen konnte, deren Launen man ausgesetzt war? Auf jeden Fall war es kein Querschnitt der ostdeutschen Gesellschaft, der mit solchen Gleichsetzungen Unrecht widerfahren wäre. Es gab eine Gruppe, die tatsächlich aus «Normalbürgern» bestand, Familienväter, junge Auszubildende, Mechaniker oder Berufskraftfahrer, zwischen 24 und 55 Jahre alt. Viele von ihnen, oft waren es Familienväter, waren eher fahrlässig zwischen die Zahnräder des Systems geraten: zu laut geäußerte Unzufriedenheit, ein nachdrücklicher Ausreisewunsch, Kontaktaufnahmen zu diplomatischen Vertretungen des Westens, aktive oder passive Fluchtabsichten, zumeist ohne reale Aussicht auf Erfolg. Sie bildeten mit etwa einem Drittel den angenehmsten Teil der Mithäftlinge.

Dann gab es noch ein zweites Drittel, das bestand aus Gescheiterten, zerschellt an Schule, Ausbildung und ostdeutscher Realität. Das waren politisch desinteressierte Menschen, die das System dennoch ausgestoßen hatte, weil sie sich mit den engen Grenzen schwertaten, die es ihnen in Sachen Arbeitspflicht und Gesinnung setzte. Sobald sie registriert hatten, dass es da einen einfachen Weg raus gab und zudem im Westen höherer

Auch diese hatten, wenn sich die Straftat «politisch» vernebeln ließ, gute Aussichten, in den Westen zu gelangen. Und ich malte mir aus, welches Bild diese Freigekauften bei jenen abgaben, die das mit ihren Steuergeldern ermöglicht haben.

Das letzte Drittel waren die Berufskriminellen, die sich auch im Knast, ihrem artgerechten Biotop, anders als die zweite Gruppe, durchaus «professionell» benahmen – also interne Knastregeln beachteten, ein eigenes Knast-Ethos vertraten, Arbeitsnormen erfüllten, um an Privilegien zu gelangen, Hierarchien nicht infrage stellten.

In diesem komplizierten Kosmos suchte ich mir ein Umfeld, in dem es sich aushalten ließ. Mein «Spanni», also der Gefangene, mit dem ich im selben Kommando ein Zweckbündnis einging, hieß Bernd und kam aus Halle. Er war ein Familienvater jenseits der 40, der eine gewisse Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte. Auch seine Frau saß im Gefängnis, die drei Kinder waren bei den Großeltern.

Schließlich war da noch Horst Günter, ein Schauspieler. Ein sensibler Mensch, der am Eingesperrtsein ebenso krankte wie am raubtierhaften Umgang der Menschen miteinander. Ich erlebte ihn einmal, wie er explodierte, mit einem Stuhl warf und all das herausschrie, was sich in ihm aufgestaut hatte. Den meisten Gefangenen war dieser Künstler, einer der wenigen, die sich syntaktisch und grammatikalisch korrekt auszudrücken verstanden, suspekt, ja geradezu verhasst. Er führte ein isoliertes Dasein, und das machte ihn mir sympathisch. Heute sehe ich ihn gelegentlich, wenn ich den Fernseher einschalte.

 

Als Städte werden Cottbus und Naumburg mir wohl ewig verhasst sein. Das mag unfair sein. Doch nicht nur mir ging es so, an Naumburg litt wohl auch schon Nietzsche. Das Wohnhaus seiner Mutter befand sich nur einen halben Kilometer östlich des Gefängnistores Am Weingarten 18, er zählte Naumburg zu den «Unglücksorten für meine Physiologie». Ich war nach meiner Freilassung nur einmal wieder dort und fand es beklemmend.

Doch zu den seltsamen Wendungen meiner letzten Tage im Honecker-Staat gehört auch, dass ich ausgerechnet kurz vor meinem Abschied Seiten der DDR kennenlernen sollte, die ich bis heute schätze und vorher nicht kannte, weil ich mich ihnen beharrlich verweigert hatte: Filme, Musik, kulturelle Errungenschaften insgesamt.

 

Filme wie «Und nächstes Jahr am Balaton», «Solo Sunny», vor allem «Die Legende von Paul und Paula», ein Anfang der 70er-Jahre von den SED-Kulturwächtern abgesetzter DEFA-Blockbuster über die Liebe zweier Jugendlicher, die sich Karriere- und Systemdruck widersetzen und am Ende daran zerbrechen, gruben sich tief in meine Erinnerung ein. Zudem las ich Bücher von ostdeutschen Autorinnen wie Christa Wolf und Maxi Wander, Gedichte von Sarah Kirsch und Eva Strittmatter. Kurz vor meinem Abschied schien mich die kreative Seite dieser DDR, der ich nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte, beinahe umarmen zu wollen. Es war nicht zu spät. Ich weiß, dass dieses Land nicht nur aus Mauer, Militär und ideologischen Phrasen bestand, es brachte Menschen hervor, die kreativ, erfinderisch, liebenswürdig, kurzum: Alltagshelden waren.

 

Es wurde Sommer, es näherte sich der Herbst, ich war fast 14 Monate inhaftiert und verzweifelte schon, weil mein «Mittäter», der Klops, an einem Morgen im August stehen bleiben durfte und dann aus unserem Wahrnehmungs-Kosmos verschwand. War ich also einer der wenigen mysteriösen Fälle, bei denen der Freikauf, der Menschenhandel, nicht zustande kam? Was war das Problem, was machte ich falsch? Es sind diese Situationen, in

Es waren vielleicht sechs Männer, die stehen blieben – darunter auch André aus Rostock, den ich erstmals im Keller der Katakomben von Cottbus getroffen hatte. Ich taumelte vor Aufregung und Angst, dass dieses kurze Hochgefühl sogleich in eine krachende, umso schmerzvollere Enttäuschung umkippen könnte. Es war wie die Erlösung aus einem Wachkoma, die Wieder-Menschwerdung nach der Verwandlung in eine Mumie durch einen bösen Zauber. Alles muss demnächst wieder durchdacht werden, schoss es mir durch den Kopf – was mache ich morgen, was ziehe ich an, was esse ich?

«Leeren Sie Ihre Schränke, hinterlassen Sie nichts und machen Sie schnell», wurde uns befohlen. Schnell legte ich die wenigen Dinge, die für andere von Wert sein könnten, den ein, zwei Freunden, die bleiben mussten, in den Schrank: die Tafel Schokolade aus dem letzten Paket, die halbe Tüte «Nimm 2», von der man sich tatsächlich erhofft hatte, sie behebe den notorischen Vitaminmangel, dem wir im Gefängnis ausgesetzt waren, den Kugelschreiber mit der Micky Maus, die sich im mit einer Flüssigkeit gefüllten Sjpgtkörper auf und ab bewegte – alles kleine

Anschließend ging es in einem Sammeltransport mit dem halben Dutzend Mitgefangener in das Gefängnis der Staatssicherheit in Karl-Marx-Stadt. Wir raunten uns nur Stichworte zu, welche unsere augenblicklichen Empfindungen beschreiben sollten: «Wahnsinn!» Oder: «Ich glaube das nicht, kneif mich!» Das Getuschel, Gegickel und Gekicher unter uns Mithäftlingen war groß. Einerseits drohte man zu explodieren wie eine zu lange geschüttelte Schampusflasche auf einer Ofenplatte, andererseits befahl einem der Verstand, jetzt bloß nichts falsch zu machen, nicht auf den letzten Metern alles zu verspielen! Drohend waren die Mienen der schlecht gelaunten Polizisten, die uns einkleideten und die natürlich wussten, dass uns Freiheiten bevorstanden, die sie nie haben würden. Sie hassten uns und redeten sich vermutlich ein, wir würden in diesem Haifischbecken Kapitalismus ohnehin dem Untergang geweiht sein, verdammt dazu, demnächst mit Einkaufswagen voller Ramsch obdachlos durch die Fußgängerzonen zu schleichen und nachts unter Brücken zu schlafen.

Alles fühlte sich unwirklich an. Tausend Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Jetzt wird es also ernst. Wohin soll ich gehen? Was soll ich in der Bundesrepublik machen? Bin ich nach fast 14 Monaten Tiefschlaf überhaupt noch in der Lage, aktiv zu werden, etwas zu beginnen? Ich hatte nie selbstbestimmt leben müssen, ich hatte mich nie mit Behörden herumschlagen, eine Wohnung organisieren, um Arbeit kümmern müssen, meine Papiere ordnen, meine Wäsche waschen, Essen kaufen und zubereiten. Ich freute mich auf mein neues Leben – und hatte einen Heidenrespekt davor.

Die Formalitäten auf dem Karl-Marx-Städter Kaßberg dauerten eine Woche. Es ging um die Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft, um offene Rechts- oder Unterhaltsansprüche, um Eigentum und um Dinge, die uns Jugendliche nicht betrafen.

Am Mittwoch, 18. September 1985, öffneten sich für mich die Gefängnistore – erst die kleinen, als wir mit zwei Bussen, es waren tatsächlich Fahrzeuge von «Magirus-Deutz», den Stasi-Knast in Karl-Marx-Stadt verließen. Für ostdeutsche Passanten sahen wir in den bunten Bussen jetzt aus wie eine westdeutsche Besuchergruppe. Viele der Mitgefangenen sahen erstmals nach Jahren ihre Frauen wieder, die aus dem Frauengefängnis Hoheneck entlassen worden waren. Es flossen reichlich Tränen.

Wir fuhren genau die Autobahnstrecke in Richtung Erfurt, dann Gotha, die wir früher im Trabi meines Vaters allsommerlich auf dem Weg zur Oma nach Trügleben zurückgelegt hatten. Ich fühlte mich ein wenig beklommen, als wir an der Ausfahrt nach Gotha vorbeifuhren. Über Gotha hinaus waren wir damals nie auf der Autobahn gefahren, denn da kam nur noch Eisenach, dann schon die Hörselberge und dann Hessen. Hätte der Bus an jenem Mittwoch Mitte September 1985 etwa zehn Kilometer hinter der Abfahrt gehalten und wäre ich dann drei Kilometer über Wiesen und am Wäldchen Berlach nach Norden gelaufen, hätte ich meine 85-jährige Oma in ihrem zerfallenden Häuschen besuchen und in die Arme schließen können. Sie war ja immer

Rechtsanwalt Wolfgang Vogel hielt vor der Grenze eine kurze Rede via Mikrofon und erwartete wohl Beifall von uns. So froh ich damals über den Freikauf war, so empfinde ich doch bis heute nur Verachtung für diesen Advokaten, der nie ein Anwalt des «Rechts» war, sondern der willfährige und gewissenlose Makler eines Menschenhandels, von dem er selbst profitierte. Er schämte sich seines Vermögens auch nicht, welches er als Dealer zwischen den Systemen, wozu auch dieser Menschenhandel gehörte, angehäuft hatte. Selbstbewusst fuhr er in einem goldenen Mercedes 300 E durch seine Heimat, das Land der delfingrauen Trabants. Zu allem Überfluss diente er der Stasi auch noch als informeller Mitarbeiter. Mit einem Mikrofon stand der Mann also im Fond des Busses und hielt über die Freisprechanlage eine kleine Ansprache. Deutlich war sein Bemühen, sich uns als großer Menschenfreund zu präsentieren. «… ist es uns gelungen, Sie im Rahmen einer humanitären Übereinkunft zwischen beiden deutschen Staaten …», salbaderte Vogel im sonoren Advokaten-Sprech. Tatsächlich durfte er sich in diesem Moment in der Wärme dankbarer Blicke sonnen, auch ich sah ihn damals in milderem Licht. Mit seiner goldenen Kutsche eskortierte er uns noch bis zur Grenze, die wir dann auf einer verschlungenen Nebenspur schlagbaumfrei am Übergang Wartha kurz hinter Eisenach passierten. Es war wie ein Wunder, wie ein «Sesam öffne dich» – der Eiserne Vorhang hatte tatsächlich Löcher, durch die Busse passten.

«Hat noch jemand vergessen auszusteigen?», fragte der Fahrer jetzt über die Freisprechanlage mit unverkennbar hessischem Akzent. «Nein!», grölte die Meute.

 

Damals habe ich mir nicht so viele Gedanken darüber gemacht, was mich letztlich dazu getrieben hat, gehen zu wollen, Systemgrenzen zu überwinden, Gefahren auf mich zu nehmen, um am Ende das, was man landläufig mit Heimat verbindet, zu verlassen – im Zweifel für immer. Es gab ein Füllhorn von Gründen, die kleinen und großen Gängelungen, die Verweigerung selbst rudimentärer Freiheiten, die begrenzten Möglichkeiten, was Informationen, Rede- und Reisefreiheiten betraf. Sicher ging es auch um die Hoffnung auf mehr Wohlstand, doch allein dafür hätte ich es nicht riskiert.

Wir waren nicht besser als heutige Flüchtlinge, Asylsuchende, Migranten. Wir hatten lediglich das Glück oder Privileg, durch eine Laune der Geschichte Anspruch auf die Staatsbürgerschaft in einem mit Wohlstand gesegneten Staat Westeuropas zu haben, der uns aber ebenso vertraut wie fremd war. Wir waren getrieben von einer Motivation, die zeitlos ist, die auch heute Menschen dazu bringt, ihre angestammte Heimat zu verlassen: Perspektivlosigkeit.

Ich mochte das Land, das mich freigekauft hatte. Es war bunt, heiter und freundlich. Hätte es jedoch einzig die Möglichkeit gegeben, nach Australien, Dänemark, Israel oder Kanada entlassen zu werden – dann wäre ich mit Freuden auch dahin gegangen. Ich hatte Appetit auf alles, was hinter dieser hässlichen Mauer lag, egal ob nah oder fern. Ich wollte mir Dinge nicht mehr erklären lassen, ich wollte Erfahrung buchstäblich selbst er-fahren,

Als wir etwa eineinhalb Stunden nach der Fahrt über die Grenze im legendären Notaufnahmelager Gießen eintrafen, ließ ich im Bus absichtlich meinen letzten DDR-Einkauf liegen, diese hässliche rote Kunstledertasche samt Inhalt, den hässlichen Pullover und ein paar Kosmetikartikel. Ich wollte von allen Lasten befreit dieses neue Leben beginnen, ich besaß ja noch meine Adidas-Schuhe und die Klamotten, mit denen ich verhaftet worden war. Als der Busfahrer uns dann später nachgelaufen kam und fragte: «Hat da jemand seine Tasche vergesse?», er sprach das sehr hessisch aus, war ich der Erste, der sagte: «Ich nicht!»