IX
Vergangener Herbst
University of Merit
Die Musik war so laut, dass die Bilder an den Wänden vibrierten. Ein Engel und ein Zauberer standen eng umschlungen auf der Treppe. Zwei kesse Miezekatzen zogen einen Vampir hinter sich her, ein Typ mit gelben Pupillen heulte wie ein Wolf, und irgendjemand verschüttete einen Plastikbecher mit billigem Bier vor Elis Füßen.
Gleich beim Eingang schnappte er sich ein paar Teufelshörner und setzte sie sich auf. Er hatte die Zielperson ins Haus gehen sehen, flankiert von einer Barbiepuppe und einem katholischen Schulmädchen, dessen Uniform gegen jede erdenkliche Regel verstieß. Seine Zielperson trug nur Jeans und ein Polohemd, das blonde Haar fiel ihr offen über die Schultern. Mit einem Mal verlor er sie aus den Augen, sah nur noch ihre Begleiterinnen, die sich, die Hände hoch über dem Kopf verschränkt, durch die Menge schoben. Dabei war sie, ohne Verkleidung auf einer Halloween-Party, eigentlich nicht zu übersehen.
Er durchkämmte das ganze Haus, wobei er den einen oder anderen Annäherungsversuch abwehren musste. Das war schmeichelhaft und wenig verwunderlich, schließlich war er in den letzten zehn Jahren um keinen Tag gealtert. Nachdem er den ersten Stock mehrmals vergeblich abgesucht hatte, fand sie ihn
. Sie fasste ihn an der Hand und zog ihn in den Schatten der Treppe.
»Hallo, Fremder«, hauchte sie. Trotz der hämmernden Musik und der lärmenden Gäste konnte er sie gut verstehen.
»Hi«, flüsterte er.
Das Mädchen führte ihn die Treppe hinauf, weg vom Partytrubel in ein Schlafzimmer. Dem prüfenden Blick nach zu urteilen, mit dem sie sich umsah, bevor sie ihn über die Schwelle zog, war es nicht ihr eigenes. Wer kann bei so einer Einladung schon nein sagen, dachte Eli. Er zog die Tür hinter sich ins Schloss, woraufhin angenehme Stille sie umgab; die Musik drang nur noch als leises Wummern herein. Die einzigen Lichtquellen waren der Schein des Mondes und die Straßenlaternen.
»Unverkleidet auf einer Halloween-Party, na so was«, neckte Eli sie.
Sie zog eine Lupe aus der Gesäßtasche und sagte: »Sherlock.«
Ihre Bewegungen waren langsam, fast träge; ihre Augen hatten die Farbe von Wasser im Winter. Er wusste noch nicht, welche Fähigkeit sie besaß. Wochenlang hatte er sie beobachtet. Bis er beschlossen hatte, sich ihr zu nähern. Was ein klarer Verstoß gegen seine eigenen Regeln war, aber nun war er hier mit ihr.
»Und wen stellst du dar?«, fragte sie. Sie war ein Stück kleiner als er, daher senkte er den Kopf und deutete auf die mit roten Pailletten besetzten Hörner, die im Halbdunkel des Zimmers glitzerten.
»Mephisto«, erklärte er, was ihr ein Lachen entlockte. Sie studierte Englisch im Hauptfach, so viel wusste er. Eine bessere Verkleidung hätte er nicht finden können – ein Teufel, der eine Teufelin in die Falle lockte.
»Wie originell«, sagte sie mit gelangweiltem Lächeln. Serena Clarke. So hieß sie laut seinen Notizen. Sie besaß eine natürliche, fast lässige Schönheit und trug nur einen Hauch
von Make-up. Eli merkte, wie sie seinen Blick gefangennahm. Er kannte jede Menge hübscher Mädchen, aber Serena war anders, verheißungsvoll. Als sie seinen Kopf zu sich herunterzog und ihn küsste, hätte er um ein Haar das Chloroformfläschchen in der Hosentasche vergessen. Ihre Hände wanderten an seinem Rücken hinunter, tiefer und tiefer. Gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Finger das Fläschchen und den gefalteten Lappen berühren konnten, fasste er sie an den Handgelenken. Er schob ihre Arme an der Wand hoch und hielt sie fest, während er sie küsste. Ihre Lippen schmeckten nach Eiswasser.
Eigentlich hatte er sie aus dem Fenster stoßen wollen.
Stattdessen ließ er sich von ihr auf das fremde Bett drängen. Er spürte das Fläschchen an seiner Hüfte, doch als er den Blick von ihrem lösen wollte, reichten ein Wink, ein Lächeln und ein geflüsterter Befehl, schon stand er wieder in ihrem Bann. Ein erregtes Kribbeln durchlief ihn, ein Verlangen, das er seit Jahren nicht mehr verspürt hatte.
»Küss mich«, raunte sie. Ohne Zögern gehorchte er, völlig willenlos. Und als ihre Lippen sich erneut berührten, hielt sie seine Handgelenke hinter ihm spielerisch auf das Bett gedrückt. Ihre blonden Locken kitzelten ihn im Gesicht.
»Wie heißt du?«, fragte sie. Eigentlich hatte Eli für den heutigen Abend den Namen Gill gewählt, aber zu seiner Verblüffung hörte er sich antworten: »Eli Ever.«
Teufel nochmal, was war mit ihm los?
»Nette Alliteration«, sagte Serena. »Und was macht du hier auf der Party?«
»Ich hab nach dir gesucht.« Die Worte verließen seine Lippen, bevor er sich dessen bewusst war. Er erstarrte, und eine innere Stimme warnte ihn vor ihr, drängte ihn aufzustehen. Aber als er sich zu befreien versuchte, gurrte sie: »Bleib
hier, halt still.« Sein verräterischer Körper gehorchte und entspannte sich, nur sein Herz hämmerte weiterhin wild.
»Du bist anders als die anderen«, sagte sie. »Ich hab dich schon mal gesehen. Letzte Woche.«
Eli war ihr sogar ganze zwei Wochen gefolgt, um herauszufinden, welche Fähigkeit sie besaß. Vergeblich. Und jetzt bekam er sie am eigenen Leib zu spüren. Er befahl seinen Gliedern, sich zu bewegen. Aber sein Körper wollte Serena auf sich spüren. Er
wollte sie auf sich spüren.
»Du folgst mir also?«, fragte sie wie im Scherz.
Eli antwortete prompt: »Ja.«
»Warum?« Sie ließ seine Handgelenke los, blieb aber weiter auf ihm sitzen.
Eli gelang es, sich auf die Ellbogen hochzudrücken. Er versuchte, die Antwort hinunterzuschlucken wie Galle. Sag nicht, um dich zu töten. Sag es bloß nicht.
Doch die Worte kämpften sich seine Kehle empor: »Um dich zu töten.«
Sie runzelte nachdenklich die Stirn, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Warum?«
Die Antwort sprudelte aus ihm heraus. »Du bist eine EO
. Du hast eine Fähigkeit, die widernatürlich ist und gefährlich. Du
bist gefährlich.«
Ihre Mundwinkel kräuselten sich. »Sagt mein Mörder.«
»Du würdest nie verstehen, warum …«
»Da täuschst du dich. Aber heute Abend wirst du mich nicht umbringen, Eli«, sagte sie beiläufig. Er musste wohl die Stirn gerunzelt haben, denn sie fügte hinzu: »Schau nicht so enttäuscht drein. Du kannst es ja morgen wieder versuchen.«
Im Zimmer herrschte Dämmerlicht, der Partylärm drang noch immer gedämpft durch die Wände herein. Sie zog ihm die rotglitzernden Hörner aus dem Haar und setzte sie sich auf die blonden Locken. Wie schön sie war! Er versuchte, klar
zu denken, sich in Erinnerung zu rufen, warum sie sterben musste.
Dann hörte er sie sagen: »Du hast natürlich recht.«
»Womit?«, fragte Eli. Seine Gedanken gehorchten ihm nicht.
»Ich bin gefährlich. Es sollte mich überhaupt nicht geben. Aber woher nimmst du das Recht, mich zu töten?«
»Weil ich es kann.«
»Schlechte Antwort«, sagte sie und ließ ihre Finger an seiner Wange entlanggleiten. Dann legte sie sich auf ihn, Hüfte an Hüfte, Wange an Wange, Haut an Haut.
»Küss mich«, befahl sie. Und Eli gehorchte.
Die eine Hälfte der Zeit wünschte sich Serena Clarke, sie wäre tot. Die andere verbrachte sie damit, den Menschen um sich herum Befehle zu geben, während sie sich gleichzeitig wünschte, einer von ihnen würde sich ihr widersetzen.
Sie bat darum, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, und schon packte das Personal ihr die Sachen, obwohl sie noch auf der Intensivstation lag. Zunächst hatte sie es genossen, dass man ihr jeden Wunsch sofort erfüllte. Zwar hatte sie es auch früher schon verstanden, ihren eigenen Kopf durchzusetzen. Doch nun brauchte sie nicht mehr zu kämpfen, da alle fügsam waren wie Lämmer. Dieser Mangel an Widerstand und Kampfgeist war zum Verrücktwerden! Als sie den Wunsch äußerte, wieder auf die Uni zu gehen, nickten ihre Eltern nur. Die Professoren fraßen ihr aus der Hand. Ihre Freunde lasen ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Männer verwandelten sich in ergebene Sklaven, die alles taten, was sie wollte, auch Dinge, die sie ihnen aus reiner Langeweile befahl.
Früher hatte Serena der Welt ihren Willen aufzwingen müssen; nun unterwarf sich die Welt ihr freiwillig. Sie brauchte kaum ein Wort zu sagen, keinen Finger zu krümmen.
Sie war ein Geist.
Andererseits versetzte die Leichtigkeit, mit der ihr alles in den Schoß fiel, sie in einen Rausch, dem unweigerlich der Kater folgte. Nach jedem Versuch, andere zum Widerstand gegen sie selbst anzustacheln, genoss sie das Gefühl völliger Kontrolle. Ihr blieb ohnehin keine andere Wahl. Sogar, wenn sie nicht befahl, sondern nur leise um etwas bat, gehorchte man ihr.
Sie war eine Göttin. Sie wünschte sich jemanden, der gegen sie aufbegehrte, der willensstark genug war, sich ihr zu widersetzen.
Eines Abends befiel sie ohnmächtige Wut, als ihr damaliger Liebhaber sie mit dem dümmlich-ergebenen Blick ansah und sich weigerte, gegen sie aufzubegehren. Da es aus einem unerfindlichen Grund nicht in ihrer Macht lag, ihn zum Widerstand anzustacheln, seine Willenlosigkeit zu brechen, befahl sie ihm, von einer Brücke zu springen.
Und er gehorchte.
Immer wieder erinnerte Serena sich daran, wie sie im Schneidersitz auf ihrem Bett gesessen hatte, ihre Freunde um sie geschart. Aber niemand berührte sie, als trenne alle eine unsichtbare Wand von ihr. Eine Wand der Angst. Und sie begriff, dass sie kein Geist und auch keine Göttin war.
Sie war ein Monster.
Eli musterte das blaue Kärtchen, das Serena ihm gestern Nacht in die Tasche gesteckt hatte. Auf der einen Seite stand 14
Uhr Light Post
– so hieß das Café gleich bei der Zentralbibliothek – auf der anderen Scheherazade
; sie hatte den Namen sogar richtig geschrieben. Scheherazade, das war die Frau aus Tausendundeiner Nacht
, die dem Sultan jede Nacht eine Geschichte erzählte, ohne diese zu beenden, damit er sie aus Neugier auf die Fortsetzung der Geschichte nicht tötete.
Bei seinem Weg über den Campus fühlte Eli sich zum ersten Mal seit zehn Jahren verkatert, ihm dröhnte der Kopf, und seine Gedanken waren träge. Er hatte fast den ganzen Morgen gebraucht, um den Bann des Mädchens abzuschütteln und sie wieder als Zielperson zu sehen.
Er steckte die Karte zurück in die Tasche. Bestimmt würde sie nicht kommen. Sie konnte unmöglich so dumm sein, sich wieder in seine Nähe zu wagen. Nicht, nachdem er sich ihr gestern offenbart hatte. Doch dann sah er sie mit einer Sonnenbrille und einem dunkelblauen Pullover, das Gesicht von blonden Locken umspielt, auf der Terrasse des Cafés sitzen.
»Willst
du sterben?«, fragte Eli, während er an ihren Tisch trat.
Sie zuckte mit den Achseln. »Man gewöhnt sich dran.« Sie wies auf den Stuhl ihr gegenüber. Da er sie nicht mitten auf dem Campus umbringen konnte, setzte sich Eli zu ihr.
»Serena«, stellte sie sich vor und schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn. Bei Tageslicht wirkten ihre Augen noch heller. »Aber das weißt du ja bereits.« Sie nahm einen Schluck Kaffee. Da Eli schwieg, fuhr sie fort: »Warum willst du mich töten? Und sag jetzt bloß nicht, weil du es kannst.«
Bevor er seine Gedanken ordnen konnte, drängten sie bereits über seine Lippen. Er runzelte die Stirn, während die Worte aus ihm heraussprudelten: »EO
s sind widernatürlich.«
»Das hast du gestern schon gesagt.«
»Mein bester Freund hat sich in einen verwandelt. Danach war er nicht mehr derselbe, wie vom Teufel besessen. Erst hat er meine Freundin umgebracht, und dann hatte er es auf mich abgesehen.« Er biss sich auf die Zunge, um seinen Wortschwall zu bremsen. War es ihr Blick oder ihre Stimme, was ihn willenlos machte?
»Und jetzt suchst du die Schuld bei allen anderen EO
s und bestrafst sie an seiner Stelle?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte er. »Ich versuche, die Menschen zu beschützen
.«
Sie lächelte mit der Kaffeetasse in der Hand. Ihre Augen aber blieben ernst. »Welche Menschen?«
»Die normalen.«
Ihre roten Lippen verzogen sich spöttisch.
»Die gewöhnlichen«, fuhr Eli fort. »ExtraOrdinäre dürfte es überhaupt nicht geben. Mit ihrem zweiten Leben haben sie eine Waffe an die Hand bekommen. Die sie ohne Einschränkungen oder Regeln benutzen können. Schon ihre Existenz ist ein Verbrechen. Außerdem sind sie unvollständig.«
Serenas Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Wie meinst du das?«
»Wenn sie als EO
s ins Leben zurückkehren, fehlt ihnen etwas.« Sogar Eli, der Gott auf seiner Seite wusste, spürte, dass es auch bei ihm so war. »Wichtige Dinge wie Empathie, Ausgeglichenheit, Angst und Besonnenheit. Alles, was ihnen Halt geben könnte, fehlt. Sag mir, dass ich mich täusche. Dass es bei dir anders ist.«
Serena beugte sich vor und setzte ihren Becher auf einem Bücherstapel ab. Anstatt ihm zu widersprechen, fragte sie: »Und welche Fähigkeit hast du, Eli Ever?«
»Wie kommst du darauf, dass ich eine habe?« Er stieß die Worte hervor, um nicht auf ihre Frage antworten zu müssen. Es fühlte sich an wie ein kleiner Sieg. Was ihr nicht entging.
Ihr Lächeln wurde eine Spur schärfer. »Welche Fähigkeit besitzt du?«
Diesmal antwortete er: »Ich kann mich heilen.«
Sie lachte so laut, dass ein paar Studenten an Nachbartischen verwunderte Blicke in ihre Richtung warfen. »Kein Wunder, dass du glaubst, auserwählt zu sein.«
»Wie meinst du das?«
»Deine Gabe betrifft nur dich selbst. Sie fügt niemandem Schaden zu. Also glaubst du, dass du keine Bedrohung darstellst. Im Gegensatz zu uns anderen.« Serena tippte auf den Bücherstapel, auf dem, wie Eli jetzt sah, neben englischer Literatur auch ein paar psychologische Fachbücher lagen. »Stimmt’s, oder habe ich recht?«
Eli war sich nicht sicher, ob er Serena mochte. Er widerstand dem Impuls, ihr von seinem Bündnis mit Gott zu erzählen, und fragte stattdessen: »Wie wusstest du, dass ich ein EO
bin?«
»Wegen der Selbstverachtung, die dir aus jeder Pore dringt«, antwortete sie und klappte die Sonnenbrille wieder herunter. »Das meine ich nicht abfällig. Ich kenne das Gefühl.« Ihre Uhr piepste, woraufhin sie aufsprang. Ihre Bewegungen waren anmutig und fließend wie Wasser. »Vielleicht sollte ich mich einfach von dir umbringen lassen. Du hast nämlich recht. Obwohl wir ins Leben zurückkehren, bleibt ein Teil von uns tot. Für immer verloren. Und wir erinnern uns nicht mehr an unser altes Selbst. Das ist erschreckend, wunderbar und abstoßend zugleich.«
Umstrahlt von der Nachmittagssonne, sah sie so traurig aus, dass Eli sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Er verspürte ein Flattern in der Brust. Serena erinnerte ihn an Angie. Oder vielmehr daran, wie er sich gefühlt hatte, wenn er mit Angie zusammen war. Bevor er sich verändert hatte. Bevor er ein anderer geworden war. Zehn Jahre lang hatte er über einen Abgrund in die Vergangenheit gestarrt. Und jetzt, beim Anblick dieses Mädchens, war ihm, als könnte er fast – aber nur fast – mit seinen Fingerspitzen die andere Seite berühren. Er wollte ihr nah sein, sie glücklich machen, die Hand ausstrecken und sich erinnern. Er biss sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte, um den Bann abzuschütteln. Diese Gefühle stammten nicht von ihm, zumindest nicht ganz, nicht
ursprünglich. Denn es gab kein Zurück. Er war nicht ohne Grund zum EO
geworden. Und er hatte eine Mission. Dieses Monster in Mädchengestalt besaß eine gefährliche, komplexe Gabe. Sie unterwarf andere ihrem Willen, machte sie gefügig. Es waren ihre Gefühle, die ihn durchflossen, nicht seine eigenen.
»Wir sind alle Monster«, sagte sie und nahm ihre Bücher. »Und du bist keine Ausnahme.«
Eli hatte nur mit halbem Ohr zugehört, dennoch spürte er, wie die Worte in ihn einsickerten. Heftig stieß er sie von sich, bevor sie sich festsetzen konnten, und stand auf. Serena hatte ihm bereits den Rücken zugedreht.
»Heute kannst du mich nicht töten«, rief sie über die Schulter. »Ich bin spät dran für meinen nächsten Kurs.«
Eli saß auf einer Bank vor dem Psychologiegebäude und hatte den Kopf zurückgelehnt. Es war ein schöner Tag, wolkig, aber nicht grau; kalt, aber nicht eisig. Die leichte Brise, die an seinem Kragen zerrte und ihm das Haar zerzauste, belebte seine Sinne. Nun, da Serena nicht in seiner Nähe war, konnte er wieder klar denken. Und war sich des Problems bewusst: Er musste sie töten, ohne sie sehen oder hören zu können. Wäre sie bewusstlos, dachte er, könnte er vielleicht …
»Was für ein wundervolles Wetter.« Ihre Stimme klang warm und kalt zugleich. Sie stand vor ihm, ein paar Bücher an die Brust gedrückt, und sah auf ihn hinunter. »Woran hast du gerade gedacht?«, fragte sie.
»Wie ich dich töten kann«, antwortete er. Es war geradezu befreiend, die Wahrheit sagen zu müssen. Langsam schüttelte sie den Kopf und seufzte. »Begleite mich zu meinem nächsten Kurs.«
Eli stand auf.
»Erzähl mir doch mal«, fuhr sie fort und hakte sich bei ihm
ein, »wie du mich gestern auf der Party umbringen wolltest.«
Eli sah den Wolken nach. »Dich betäuben und anschließend aus dem Fenster stoßen.«
»Wie kaltherzig«, meinte sie.
Eli zuckte mit den Achseln. »Dafür glaubhaft. Studenten betrinken sich ständig auf Partys. Verlieren erst jede Zurückhaltung und dann das Gleichgewicht. Am Ende stürzen sie, manchmal aus dem Fenster.«
»Sag mal«, meinte sie und schmiegte sich an ihn. Ihre Locken kitzelten ihn an der Wange. »Hast du ein Cape?«
»Machst du dich über mich lustig?«
»Du stehst wohl eher auf Masken.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte er, als sie vor ihrem Gebäude standen.
»Jedenfalls bist du der Held«, sie suchte seinen Blick, »deiner eigenen Geschichte.« Bereits von der Treppe aus fragte sie: »Wann sehen wir uns wieder? Willst du es irgendwann diese Woche noch mal versuchen? Ich frage nur, damit ich meinen Morgenstern mitbringen kann. Wenn ich mich wehre, sieht das Ganze sicher realistischer aus.«
Sie war die seltsamste Frau, die ihm je begegnet war. Als er ihr das sagte, lächelte sie nur und betrat das Gebäude.
Serenas Augen strahlten, als sie Eli am nächsten Tag wiedersah.
Er wartete auf der Treppe des Unigebäudes auf sie, einen Becher Kaffee in jeder Hand. Die Spätnachmittagsluft roch nach altem Laub und dem Rauch entfernter Lagerfeuer. Der Atem bildete Wolken vor seinem Mund. Sie nahm ihm den Becher ab, den er ihr hinhielt, und hakte sich wieder bei ihm unter.
»Mein Held«, sagte sie. Eli lächelte. In den letzten zehn
Jahren hatte er niemanden mehr an sich herangelassen. Schon gar keine EO
. Und nun spazierte er Seite an Seite mit einer durch die Abenddämmerung und fühlte sich wohl. Er führte sich vor Augen, dass dieses Gefühl nicht sein eigenes war, sondern Serena es ihm eingeflößt hatte; dass er sich nur mit ihr abgab, um ihre Fähigkeit zu erforschen und herauszufinden, wie er sie am besten töten konnte. Und während ihm all das durch den Kopf ging, ließ er sich von ihr die Treppe hinunterführen.
»Du beschützt also die arme, unschuldige Menschheit vor den bösen EO
s«, sagte sie. »Aber wie findest du sie eigentlich?«
»Mit einer Suchmatrix.« Während sie Arm in Arm über den Campus schlenderten, erläuterte er ihr seine Methode. Die langwierige Suche nach den Zielpersonen, die anschließende Beobachtungsphase.
»Klingt ziemlich öde«, warf sie ein.
»Ist es auch.«
»Und wenn du sie gefunden hast, dann tötest du sie einfach?« Sie verlangsamte ihre Schritte. »Ohne sie zu befragen? Ohne zu überprüfen, ob sie eine Bedrohung darstellen?«
»Früher habe ich mit ihnen gesprochen. Heute nicht mehr.«
»Wer gibt dir das Recht, Richter, Geschworener und Henker in einem zu sein?«
»Gott.« Er hatte das nicht sagen, diesem merkwürdigen Mädchen seinen Glauben nicht preisgeben wollen, damit dieser nicht zum Spielball ihres Willens werden konnte.
Serena schürzte die Lippen, während das Wort zwischen ihnen verklang, aber sie verspottete ihn nicht.
»Wie bringst du sie um?«, fragte sie nach einer Weile.
»Das hängt von ihrer Fähigkeit ab«, sagte er. »Normalerweise verwende ich eine Pistole, aber manchmal muss ich mir was anderes ausdenken. Bei dir, zum Beispiel. Du bist jung,
man würde nach dem Mörder suchen, was zu Scherereien führen könnte. Daher sollte dein Tod nicht wie ein Verbrechen aussehen, sondern wie ein Unfall.«
Sie bogen in eine Seitenstraße ein, die von kleinen Wohnblöcken und einzelnen Häusern gesäumt wurde.
»Was ist die seltsamste Methode, mit der du jemals jemanden getötet hast?«
»Eine Bärenfalle«, antwortete Eli nach kurzem Nachdenken.
Serena zuckte zusammen. »Erspar mir die Details.«
Einige Minuten gingen sie schweigend nebeneinanderher.
»Wie lang machst du das schon?«, fragte sie schließlich.
»Zehn Jahre.«
»Unmöglich«, rief sie und musterte ihn eingehend. »Wie alt bist du?«
Eli lächelte. »Wie alt sehe ich denn aus?«
Mittlerweile hatten sie Serenas Apartment erreicht und blieben stehen.
»Zwanzig. Vielleicht einundzwanzig.«
»Ich bin zweiunddreißig. Aber ich habe mich in den letzten zehn Jahren nicht verändert.«
»Ist das Teil deiner Selbstheilung?«
Eli nickte.
»Zeig es mir.«
»Wie?«
Mit einem Funkeln in den Augen fragte sie: »Hast du eine Waffe dabei?«
Eli zögerte kurz. Dann zog er seine Glock aus der Manteltasche.
»Gib sie mir«, befahl Serena. Widerstrebend reichte Eli ihr die Waffe. Serena trat ein paar Schritte zurück und richtete die Pistole auf ihn.
»Warte«, rief Eli. Er sah sich um. »Nicht hier draußen. Lass uns reingehen.«
Serena sah ihn prüfend an, lächelte und führte ihn in ihre Wohnung.