XX
Vier Stunden bis Mitternacht
Merit, Innenstadt
Victor ging zurück zum Hotel, eine Tüte mit Lebensmitteln unter dem Arm. Im Grunde hatte er nur der Enge des Hotelzimmers entkommen wollen, um draußen freier atmen und denken zu können. Bewusst langsam und mit entspannter Miene spazierte er den Gehweg entlang. Seit der Unterredung mit Officer Dane und dem Telefonat mit Eli wimmelte es auf den Straßen von Merit nur so vor Polizisten. Nicht alle in Uniform, aber sämtlich in Alarmbereitschaft. Mitch hatte alle Fotos von Victor im Netz gelöscht, angefangen von den offiziellen Bildern auf der Seite der Lockland University bis zu den Verbrecherfotos der Wrightoner Strafanstalt. Die einzigen Hinweise zu Victors Aussehen, die der Meriter Polizei zur Verfügung standen, waren die Strichzeichnung, Elis Erinnerung (die zwangsläufig ungenau war, da Victor sich, im Gegensatz zu ihm, in den letzten Jahren durchaus verändert hatte) und Beschreibungen des Wrightoner Wachpersonals. Trotzdem durfte man die Polizei keinesfalls unterschätzen. Mitch stach schon allein wegen seiner Körpergröße heraus, und Sydney fiel auf, weil sie ein Kind war. Nur er selbst besaß einen eigenen Schutzmechanismus. Er lächelte versonnen, während er an einem Polizisten vorbeiging. Dieser beachtete ihn überhaupt nicht. Im Laufe der Zeit hatte Victor festgestellt, dass Schmerz eine große Bandbreite von Nuancen aufwies. Ein Übermaß davon konnte einen Menschen zum
Krüppel machen. Aber Victors Talent war vielfältiger. Er war nämlich in der Lage, bei allen Menschen, die sich ihm bis zu einer bestimmten Entfernung näherten, mittels einer winzigen Schmerzdosis eine unbewusste Abneigung gegen sich zu erzeugen. Ohne den Schmerz bewusst wahrzunehmen, gingen sie Victor aus dem Weg. Auch war er dadurch vor neugierigen Blicken geschützt, ein wenig so, als wäre er unsichtbar. Das hatte ihm bereits im Gefängnis gute Dienste geleistet und nützte ihm auch hier.
Als er an der Ruine des Falcon-Price-Hochhauses vorbeiging, sah er einmal mehr auf die Uhr. Seine Rache folgte einem höchst merkwürdigen Prinzip. Jahre des ungeduldigen Wartens und der Planung gipfelten in wenigen Stunden – manchmal nur Minuten – der Ausführung. Auf den letzten Metern zum Hotel schlug sein Herz vor Aufregung schneller.
Eli hatte Serena vor dem Esquire abgesetzt und sie angewiesen, die Augen offen zu halten und ihn sofort zu informieren, falls ihr etwas Ungewöhnliches auffiel. Bis Victor ihm eine weitere Botschaft schicken würde, war es nur eine Frage der Zeit. Die Uhr tickte, und Mitternacht rückte immer näher. Je früher Victor wieder von sich hören ließ, desto besser konnte Eli sich auf das Treffen vorbereiten und umso leichter die Kontrolle behalten. Bestimmt ließ Victor ihn deshalb so lange wie möglich im Unklaren.
Einstweilen saß Eli im Auto, das er in der farblich markierten Kurzparkzone vor dem Hotel abgestellt hatte. Er nahm die Maske ab, warf sie auf den Beifahrersitz und griff nach dem Profil von Dominic Rusher. Der mutmaßliche EO
hielt sich erst seit wenigen Monaten in Merit auf, war aber bereits polizeibekannt, hauptsächlich wegen Trunkenheit und einigen Ordnungswidrigkeiten. Die meisten Beschwerden bezogen sich nicht auf Rushers Wohnung, ein Dreckloch im
Süden der Stadt, sondern auf eine Bar. Das Three Crows
. Eli, der die Adresse kannte, startete das Auto und fuhr los, kurz bevor Victor das Hotel erreichte.
Zwei Polizisten standen am Eingang des Esquire, augenscheinlich völlig fasziniert von einer blonden jungen Frau, deren Rücken der Drehtür zugewandt war. Victor durchquerte das Foyer unbemerkt und ging über die Treppe nach oben in ihre Suite. Dort lag Sydney auf dem Sofa und las, mit Dol zu ihren Füßen. Mitch stand am Tresen und trank Milch direkt aus dem Karton, während er mit der freien Hand irgendwelche Zahlen in seinen Laptop tippte.
»Ist alles glattgegangen?«, fragte Victor und brachte die Essenstüte in die Küche.
»Mit der Leiche? Ja, wie geschmiert.« Mitch stellte den Milchkarton ab. »Aber um ein Haar wäre ich den Cops in die Arme gelaufen. Scheiße, Vale, die sind einfach überall. Und ich bin nicht so leicht zu übersehen.«
»Dafür gibt’s Tiefgarageneingänge. Außerdem ist der ganze Spuk in ein paar Stunden vorbei«, erwiderte Victor.
»Was ich dich schon längst …«, setzte Mitch an. Aber Victor hörte nicht zu, sondern kritzelte etwas auf einen Zettel, den er ihm hinschob.
»Was soll das sein?«, fragte Mitch.
»Danes ID
und sein Zugangscode für die Datenbank. Ich will, dass du ein weiteres markiertes Profil anlegst.«
»Vom wem?«
Mit einem Lächeln deutete Victor auf sich. Mitch stöhnte. »Ich nehme an, das hat irgendwas mit deinem Date um Mitternacht zu tun?«
Victor nickte. »Falcon-Price-Hochhaus. Erdgeschoss.«
»Dort wirst du wie eine Maus in der Falle sitzen.«
»Ich hab einen Plan«, sagte Victor nur.
»Wie wär’s mit ein paar Details?«, beharrte Mitch. Als er keine Antwort bekam, knurrte er: »Aber ohne ein Foto von dir. Hab ewig gebraucht, um die alle aus dem Netz zu fischen und zu löschen.«
Victor sah sich in der Suite um. Sein Blick blieb am neuesten Selbsthilferatgeber seiner Eltern hängen, den er eigenhändig geschwärzt hatte. Er griff danach und hielt Mitch den Buchrücken unter die Nase, auf dem in glänzenden Großbuchstaben der Name VALE
prangte. »Das sollte reichen.«
Leise vor sich hin murmelnd, griff Mitch danach und machte sich an die Arbeit.
Nun richtete Victor seine Aufmerksamkeit auf Sydney. Er brachte ihr einen Karton mit Nudeln und ließ sich neben ihr aufs Ledersofa fallen. Sydney legte die Mappe mit den toten EO
s beiseite und nahm das noch heiße Essen in beide Hände. Sie machte jedoch keine Anstalten zu essen. Auch Victor starrte nur aus dem Fenster und lauschte dem Klacken von Mitchs Tastatur. Es juckte ihn in den Fingern, ein paar weitere Seiten im Buch seiner Eltern zu schwärzen. Aber da Mitch es brauchte, schloss er die Augen und versuchte, ein wenig Frieden zu finden. Vor sich sah er keine grünen Wiesen, rauschenden Bäche oder das Blau des Himmels. Er stellte sich vor, wie er mehrmals mit der Pistole abdrückte und aus drei Wunden in Elis Brust purpurnes Blut quoll – in demselben Muster wie die Narben auf seiner eigenen. Er malte sich aus, wie er Elis Haut aufschlitzte und die Schnitte sogleich wieder verschwanden. Weshalb er es immer wieder tun konnte, nach Herzenslust. Na, hast du Angst?
, hörte er sich fragen. Der Boden war mit einer rotglänzenden Lache bedeckt. Hast du endlich Angst?