Zehn
Anscheinend war es mir nicht bestimmt, an der Hecke zu sterben. Waormund wollte Ansehen. Er wollte als Waormund Uhtredtöter bekannt werden, und mich an einer Hecke zu töten, würde die Dichter nicht dazu anregen, Lieder über seinen Heldenmut zu schreiben. Er wollte mich im Siegeszug zu seinem Herrn bringen, zu Æthelhelm, meinem Gegner, und er wollte, dass sich die Nachricht von meinem Tod über die Römerstraßen verbreitete, bis ganz Britannien davon wusste und den Namen Waormund Uhtredtöter fürchtete.
Doch auch wenn mir nicht der sofortige Tod bestimmt war, so stand mir dennoch Demütigung bevor. Waormund ging langsam auf mich zu, genoss jeden Moment. Er sagte nichts, nickte nur grimmig einem Mann zu, der dicht hinter mir stand. Ich dachte einen Augenblick lang, dies wäre mein Ende, dass mir ein Messer die Kehle durchschneiden würde, doch stattdessen hob mir der Mann nur den Helm vom Kopf, und Waormund schlug mich ins Gesicht.
Das war die Rache für den Schlag, den ich ihm Jahre zuvor versetzt hatte, doch dieser Schlag war nicht bloß eine Beleidigung, wie es meiner gewesen war. Es war ein furchterregender Hieb, der mich seitlich umwarf, mich so heftig und schmerzhaft traf wie der Stein, der von der hohen Umwallung Heahburhs geschleudert worden war, um meinen Helm zu spalten und mich niederzustrecken. Mir wurde schwarz vor Augen, mein Kopf wurde herumgerissen, während sich mein Schädel mit einem schrillen Ton, Dunkelheit und Schmerz füllte. Und das war vielleicht ein Segen, denn ich nahm kaum wahr, wie sie mir das Hammeramulett vom Hals rissen, meinen Schwertgürtel aufschnallten, mir Wespenstachel nahmen, mir das Kettenhemd auszogen, mir die Stiefel von den Füßen zerrten, mein Hemd aufschlitzten und dann begannen, auf meinen nackten Körper einzutreten. Ich hörte Männerlachen, spürte die Wärme, als sie auf mich pissten, und dann wurde ich auf die Füße gezwungen, immer noch den schrillen Ton im Kopf, und sie fesselten mir die Handgelenke vor dem Körper und banden den Strick an den Schweif von Waormunds Pferd. Dazu flochten sie den Schweif des Hengstes ein Stück weit zu zwei Zöpfen, zogen einen davon durch eine Schlaufe des Stricks, führten ihn wieder mit dem übrigen Schweif zusammen und verflochten auch den Rest, um sicherzustellen, dass ich den Strick nicht herausziehen konnte.
Waormund, der sich vor mir aufgebaut hatte, spuckte mir ins Gesicht. «Der Herr Æthelhelm will mit Euch reden», sagte er, «und sein Neffe will Euch zum Schreien bringen.»
Ich sagte nichts. Ich hatte Blut im Mund, ein Ohr war nur noch Schmerz, ich taumelte vor Benommenheit. Ich nehme an, dass ich ihn angesehen haben muss, während eines meiner Augen schon halb zugeschwollen war, weil ich noch weiß, dass er mich erneut anspuckte und lachte. «König Ælfweard will Euch zum Schreien bringen. Darin ist er gut.» Ich sagte noch immer nichts, was ihn so erzürnte, dass er mir mit hassverzerrtem Gesicht die Faust in den Bauch stieß. Mir blieb die Luft weg, und ich krümmte mich, doch er packte mich am Haar und zog meinen Kopf hoch. «Der König wird Euch töten wollen, aber zuerst sorge ich dafür, dass er es leicht hat.» Er streckte den Arm aus, zwang meine Kiefer auseinander, hielt einen Moment inne, und dann spuckte er mir in den Mund. Das belustigte ihn.
Er hatte Wespenstachel und dessen Scheide einem seiner Männer zugeworfen, meinen Schwertgürtel mit Schlangenhauchs Scheide jedoch für sich selbst behalten. Er nahm den eigenen Schwertgürtel mit seinem Schwert ab, reichte ihn einem großgewachsenen Krieger und schnallte sich meinen Gürtel um die Mitte. Dann ließ er sich Schlangenhauch von dem Mann geben, der mich entwaffnet hatte, und fuhr mit dem Zeigefinger über die Blutrinne in der Klinge. «Meins», sagte er, beinahe gurrend vor Freude, «meins.» Und ich hätte weinen können. Schlangenhauch! Ich hatte dieses Schwert beinahe mein gesamtes Leben lang besessen, und ein besseres gab es nicht auf der Welt, es war ein Schwert, das Ealdwulf der Schmied angefertigt hatte und das von einem Krieger und einer Frau mit magischen Zauberformeln bedacht worden war, und nun hatte ich es verloren. Ich schaute auf seinen hellen Knauf, in dem das Silberkreuz von Hild schimmerte, und empfand nur noch Verzweiflung und ohnmächtigen Hass.
Waormund legte mir die Klinge meines eigenen Schwertes an den Hals, und einen kurzen Moment lang dachte ich, seine Wut würde ihn dazu bringen, die Klinge durchzuziehen, doch stattdessen spuckte er nur wieder aus und steckte Schlangenhauch in die Scheide. «Zurück zur Straße!», rief er seinen Männern zu. «Aufsitzen!»
Sie würden nach Osten reiten, bis sie auf die große Straße trafen, an deren südlichem Ende Lundene lag, die Römerstraße, die ich an diesem Vormittag überquert hatte. Waormund führte seine Männer durch eine Lücke in der Hecke, obgleich dort dichtes Brombeergestrüpp wucherte, dessen Dornen mir die Haut zerkratzten, als ich seinem Pferd nachstolperte. «Lauf im Kot meines Pferdes, Earsling!», rief Waormund zu mir zurück.
Die Stoppeln der gemähten Wiese bohrten sich in meine Füße, als ich hügelabwärts wankte. Zwanzig Mann ritten voraus, gefolgt von Waormund, und weitere zwanzig ritten hinter uns. Zwei Reiter, beide mit Speeren, ritten zu meinen Seiten. Es musste wohl beinahe Mittag sein, die Sonne stand hoch und strahlend am Himmel, und auf der Straße trockneten die Karrenfurchen. Ich hatte Durst, doch alles, was ich zu schlucken hatte, war Blut. Ich stolperte, und das Pferd zog mich ein Dutzend Schritt nach. Mein Körper scheuerte über den hartgebackenen Schlamm und Steine, bis Waormund anhielt, sich im Sattel umdrehte und lachte, während ich mich auf die Füße kämpfte. «Aufrecht bleiben, Earsling», sagte er und drückte dem Hengst die Fersen in die Flanken, sodass er einen Satz vorwärts machte und ich beinahe erneut stürzte. Durch den unvermittelten Ruck begann die Wunde an meiner linken Schulter zu bluten.
Die Straße verlief durch den Buchenniederwald. Irgendwo in diesem Wald versteckte sich Finan, und in mir keimte die Hoffnung, dass er mich retten würde, aber er hatte nur sechs Mann, und Waormund hatte mehr als vierzig. Waormund musste gewusst haben, dass ich nicht allein war, und ich fürchtete, er würde nach meinen Gefährten suchen lassen, doch er schien zufrieden mit meiner Gefangennahme, sein Ansehen war gesichert, und er würde im Siegeszug nach Lundene einreiten, wo mich meine Gegner elend und qualvoll sterben sehen würden.
Wir kamen an zwei Priestern und ihren beiden Dienern vorbei, die westwärts Richtung Werlameceaster unterwegs waren. Sie blieben am Straßenrand stehen und beobachteten, wie ich an ihnen vorüberstolperte. «Uhtred von Bebbanburg!», verkündete ihnen Waormund prahlerisch. «Uhtred der Heide! Auf dem Weg zu seinem Tod!» Einer der Priester bekreuzigte sich, aber keiner von ihnen sagte etwas.
Ich taumelte wieder, fiel wieder, wurde wieder über die Straße gezogen. Und das wiederholte ich noch zwei weitere Male. Halte sie auf, dachte ich mir, halte sie auf, doch wozu das dienen sollte, außer meinen Tod hinauszuzögern, wusste ich nicht. Waormund wurde wütend auf mich, dann jedoch befahl er einem seiner Männer abzusitzen, und ich wurde über den leeren Sattel gelegt, war aber immer noch an den Schweif seines Pferdes gebunden. Der Mann, der aus dem Sattel gestiegen war, ging neben mir und machte sich einen Spaß daraus, mir aufs nackte Hinterteil zu schlagen und bei jedem Schlag hämisch zu lachen.
Nun, da ich nicht mehr stolpern konnte, waren wir schneller, und bald kam die Römerstraße in Sicht. Sie verlief in Nord-Süd-Richtung durch ein ausgedehntes, flaches Tal, und weit dahinter konnte ich die silbrige Linie des Flusses Ligan erkennen. Das Land hier war gut und fruchtbar, mit fetten Weiden und üppigen Feldern, mit Obstgärten, in denen sich die Äste unter reifenden Früchten bogen, und Wäldern mit wertvollem Holzbestand. Waormund befahl seinen Männern, die Pferde zum Trab anzutreiben, sodass sich mein hinternklopfender Wächter an dem leeren Steigbügel festhalten musste, während er neben dem Pferd herrannte. «Wir schaffen es bis zum Anbruch der Dunkelheit nach Lundene!», rief Waormund seinen Männern zu.
«Sollen wir den Fluss nehmen, Herr?», schlug ein Mann vor. Ich lachte heiser auf, als Waormund mit ‹Herr› angeredet wurde. Er hörte es nicht, aber der Mann, auf dessen Pferd ich lag, bekam es mit, und er schlug mich erneut.
«Ich hasse Boote», knurrte Waormund.
«Könnten wir auf einem Schiff nicht schneller sein, Herr?», erwiderte der Mann. «Und sicherer?»
«Sicherer?», erwiderte Waormund spöttisch. «Wir sind nicht in Gefahr! Die einzigen Truppen, die der schöne Knabe hier in der Nähe hat, sind in Werlameceaster, und dort nützen sie nichts.» Er drehte sich zu mir um, genoss meinen Anblick. «Davon abgesehen», fuhr er fort, «was tun wir dann mit den Pferden?»
Ich fragte mich, wie er an die Tiere gekommen war. Er war mir den Fluss hinauf gefolgt, und es waren keine Pferde auf seinem großen Schiff gewesen, und doch verfügte er nun über vierzig oder mehr. War er die ganze Strecke bis nach Lundene zurückgekehrt, um die Pferde zu besorgen? Das schien unwahrscheinlich. «Wir könnten die Pferde nach Toteham zurückbringen, Herr», antwortete der Mann. «Dann könntet ihr den Earsling über den Fluss nach Lundene bringen.»
«Die faulen Bastarde in Toteham können in den Wind pissen», knurrte Waormund, «und wir behalten ihre verdammten Pferde.»
Ich hatte keine Ahnung, wo Toteham lag, doch offenkundig war es nicht weit entfernt. Ich wusste, dass Merewalh in Werlameceaster war, und ich nahm an, dass Æthelhelm Einheiten zu seiner Beobachtung und zur Störung seiner Versorgungstruppen geschickt hatte. Vielleicht waren diese Truppen in Toteham, wo Waormund seine Pferde gefunden hatte, doch was spielte all das für eine Rolle? Ich war blutverschmiert, mit Prellungen übersät und nackt, ein Gefangener meines Widersachers und dem Tode geweiht.
Ich schloss die Augen, damit keiner von meinen Gegnern Tränen sah. Ich hörte Hufgeklapper auf Stein, als der Reiter an der Spitze die Römerstraße erreichte, und dort wandten wir uns nach Süden, Richtung Lundene. In diesem Bereich gab es keine Hecken an der Straße. Rechts stieg der langgestreckte Hang einer abgemähten Heuwiese zu einer bewaldeten Kuppe an, und auch links lag ein Stoppelfeld, hinter dem sich der niedrige bewaldete Hügel befand, bei dem wir in der mondbeschienenen Scheune mit den Sklaven gekämpft hatten. Wieder schlug mir der Mann aufs Hinterteil, wieder lachte er, und wieder presste ich die Lider zu, als könnte ich den Schmerz durch Dunkelheit auslöschen. Doch ich wusste, dass noch viel größere Schmerzen auf mich warteten, nichts als Schmerz und Tod in Lundene, wo Urðr, Verðandi und Skuld, die drei erbarmungslosen Nornen, die am Fuße Yggdrasils unsere Leben spinnen, meinen Lebensfaden schließlich abschneiden würden.
Dann kam Finan.
Waormund nahm an, dass Æthelstan keine Einheiten näher bei Lundene hatte als die Garnison in Werlameceaster, und aus diesem Grund ritt er südwärts, ohne seine Späher die Weiden und niedrigen Waldhügel auf beiden Seiten der Römerstraße durchstreifen zu lassen. Soweit er wusste, war dies ein sicheres Gebiet, und das Einzige, an das er denken konnte, war das freudige Hochgefühl über seinen Erfolg und die süße Rache, die mein Tod bedeuten würde.
Doch Rædwalhs zwei Bedienstete hatten während der Nacht Werlameceaster erreicht, und Merewalh, der in Æthelflæds Diensten an meiner Seite in den Kampf gezogen war, hatte sechzig Mann zu meiner Rettung entsandt, und diese Reiter hatten Späher vorausgeschickt. Sie hatten Waormunds Männer entdeckt, waren jedoch unsicher gewesen, wie viele Krieger der Westsachse anführte, und waren ihm vorsichtig gefolgt. Sie hatten meine Gefangennahme gesehen, aber nicht gewusst, dass ich es war, und so waren sie Waormund weiter ostwärts gefolgt und in dem Buchenniederwald auf Finan und meine übrige Begleitung gestoßen.
Nun schlugen sie alle Zurückhaltung in den Wind und kamen aus dem Wald westlich der Römerstraße. Sie kamen im Galopp, das Sonnenlicht funkelte auf ihren Speerspitzen und Schwertklingen und ließ die Farben strahlen, in denen Æthelstans Zeichen des Drachen mit einem Blitz in der Klaue auf ihre Schilde gemalt war. Die Hufe ihrer Pferde schleuderten mächtige Erdbrocken empor, während das Dröhnen ihres Galopps laut über die Weide hallte. Waormunds Männer waren erschöpft, ihre Pferde mit weißem Schweiß überzogen. Ein paar Herzschläge lang rissen sie nur ungläubig die Augen auf, dann zogen sie ihre Schwerter und wandten sich den Angreifern zu, Waormund jedoch starrte einfach nur weiter auf das Geschehen. Ich hörte Rufe, ob es aber überraschte Schreie der Westsachsen waren oder Kampfgebrüll der Mercier, konnte ich nicht unterscheiden. Dennoch schienen die Rufe Waormund aus seiner Erstarrung zu wecken, denn er lenkte sein Pferd unvermittelt von den Angreifern weg und galoppierte auf das Stoppelfeld zu, das zwischen der Straße und dem bewaldeten Hügel lag. Aber sein Hengst wurde von meinem Gewicht behindert und bäumte sich auf. Schonungslos rammte ihm Waormund die Sporen in die Flanken, das Pferd schrie und ging durch. Mein Pferd folgte ihm, und dann war ich es, der schrie, weil ich aus dem Sattel gezogen wurde. Hinter mir erklangen weitere Schreie, als die mercischen Reiter auf die Westsachsen einhieben. Ich sah nichts davon, nicht das Blut auf dem römischen Straßenpflaster und nicht die Männer in ihrem Todeskampf. Ich wurde holpernd und schluchzend hinter dem flüchtenden Pferd über das trockene Stoppelfeld geschleift, die kurzen, scharfen Halme rissen mir die Haut auf, ich klammerte mich an den Strick, um zu verhindern, dass mir die Arme ausgerenkt wurden, und während ich schluchzte, sah ich aus dem Augenwinkel ein Pferd neben mir auftauchen, sah die Erdbrocken unter den gewaltigen Hufen auffliegen und sah das Schwert, das über mir gehoben wurde.
Dann fuhr das Schwert nieder. Ich schrie. Und ich sah nichts mehr.
Nicht weit von Bebbanburg ist eine Höhle, von der die Christen behaupten, dass darin Sankt Cuthberts Leichnam versteckt wurde, als die Dänen Lindisfarena plünderten und die Mönche mit der Leiche des Heiligen flohen. Andere erzählen, Sankt Cuthbert habe eine Weile in dieser Höhle gelebt, doch welche Geschichte auch wahr ist, ob Sankt Cuthbert lebte oder tot war, die Christen verehren die Höhle. Zuweilen, wenn ich auf der Jagd nach Rotwild oder einem Eber bin, komme ich an der Höhle vorbei und sehe Kreuze aus geflochtenem Gras oder Schilf, die von Leuten hinterlassen werden, die um die Hilfe des Heiligen beten. Es ist ein heiliger Ort, und ich hasse ihn. Wir sagen Höhle dazu, doch in Wahrheit ist es ein enormer Felsvorsprung, der aus einer Hügelflanke ragt und von einem einzigen schmalen Gesteinspfosten gestützt wird. Wenn ein Sturm aufzieht, bietet der Felsvorsprung Schutz, und vielleicht hat Sankt Cuthbert diesen Schutz gesucht, doch das ist nicht der Grund, aus dem ich den Ort hasse.
Als ich ein Kind war, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, hatte mich mein Vater zu Sankt Cuthberts Höhle gebracht und mich gezwungen, unter den gewaltigen Felsvorsprung zu kriechen. Er hatte fünf Mann bei sich, allesamt Krieger. «Du rührst dich nicht vom Fleck, Junge», hatte er gesagt. Dann hatte er eine Kampfaxt von einem seiner Männer genommen und sie mit einem lauten, klingenden Ton gegen den Pfosten geschwungen.
Ich hatte vor Entsetzen schreien wollen, mir vorgestellt, wie mich der Felsen zerschmetterte, aber ich wusste, dass mir die Seele aus dem Leib geprügelt werden würde, wenn ich den geringsten Laut von mir gab. Ich krümmte mich zusammen, doch ich blieb still. «Du rührst dich nicht, Junge», hatte mein Vater erneut gesagt und mit aller Kraft ein zweites Mal gegen den Pfosten geschlagen. «Eines Tages, Junge», hatte er weitergesprochen, «wird dieser Pfosten zusammenbrechen, und der Fels wird herabstürzen. Mag sein, dass dieser Tag heute ist.» Er hämmerte erneut dagegen, und erneut blieb ich still. «Du rührst dich nicht, Junge», hatte er ein drittes Mal gesagt, dann war er auf sein Pferd gestiegen und davongeritten, aber er ließ zwei Mann zu meiner Bewachung zurück. «Ihr redet nicht mit dem Jungen», hatte er ihnen befohlen, «und ihr lasst ihn nicht raus.» Und das hatten sie auch nicht getan.
Pater Beocca, mein Lehrmeister, wurde bei Anbruch der Dunkelheit ausgeschickt, um mich zu holen, und fand mich zitternd vor Angst. «Dein Vater tut das», hatte mir Beocca erklärt, «damit du lernst, deine Furcht zu besiegen. Aber du warst nicht in Gefahr, denn ich habe zu dem seligen Sankt Cuthbert gebetet.»
In dieser Nacht, und noch viele Nächte danach, träumte ich davon, wie mich dieser gewaltige Felsbrocken erdrückte. Er stürzte nicht schnell herab in meinen Träumen, sondern er senkte sich langsam, Zoll um Zoll, und der schwere Fels ächzte, während er unausweichlich herabkam, und in meinem Traum war ich ohnmächtig, unfähig mich zu bewegen. Ich sah den Felsen kommen, wusste, dass ich allmählich zu Tode gequetscht werden würde, und wachte schreiend auf.
Diesen Albtraum hatte ich seit Jahren nicht mehr gehabt, doch er suchte mich an diesem Tag heim, und wieder erwachte ich schreiend, nur dass ich jetzt in einem Bauernkarren lag, gebettet auf Stroh und Umhänge, zugedeckt mit einem dunkelroten Umhang. «Alles ist gut, Herr», sagte eine Frau. Sie fuhr mit mir auf dem Karren, der sich ruckend über die holprige Straße nach Werlameceaster bewegte.
«Finan», sagte ich. Die Sonne stach in meine Augen, zu grell. «Finan.»
«Ja, ich bin es», antwortete Finan. Er ritt neben dem Karren.
Die Frau beugte sich über mich, sodass mein Gesicht im Schatten lag. «Benedetta», sagte ich.
«Ich bin hier, Herr, mit den Kindern. Wir sind alle hier.»
Ich schloss die Augen. «Nicht Schlangenhauch», sagte ich.
«Ich verstehe nicht», sagte Benedetta.
«Mein Schwert!»
«Du wirst es wiederbekommen», rief Finan.
«Waormund?»
«Der Riesenbastard ist entkommen. Ist geradewegs in den Fluss geritten. Aber ich werde ihn finden.»
«Ich werde ihn finden», krächzte ich.
«Ihr werdet jetzt schlafen, Herr», sagte Benedetta und legte mir sanft die Hand auf die Stirn. «Ihr müsst schlafen, Herr, Ihr müsst schlafen.»
Ich schlief, und so entkam ich zumindest den Schmerzen. Ich habe nur wenige Erinnerungen an den Tag, nachdem ich Finans blitzendes Schwert niederfahren sah, um den Strick zu durchtrennen, mit dem ich an Waormunds Hengst gebunden worden war.
Ich wurde nach Werlameceaster gebracht. Woran ich mich erinnere, ist, dass ich die Augen öffnete und den römischen Bogen des östlichen Stadttors über mir sah, doch dann muss ich wieder eingeschlafen sein, oder vielleicht trieb mich einfach der Schmerz in die Bewusstlosigkeit. Ich wurde in ein Bett gelegt, ich wurde gewaschen, und auf meine zahlreichen Wunden wurde Honig gestrichen. Wieder träumte ich von der Höhle, sah den Felsen herabsinken, um mich zu zerquetschen, doch statt zu schreien, erwachte ich nur am ganzen Leib zitternd und fand mich in einem Raum mit gemauerten Wänden und stinkenden Binsenlichtern wieder. Ich war verwirrt. Einen Moment lang konnte ich nur an Binsenlichter denken und daran, wie übel sie rochen, wenn sie mit ranzigem Fett geschmiert wurden, und dann überkam mich der Schmerz, die Erinnerung an meine Demütigung, und ich stöhnte. Ich wünschte mir die Segnung des Schlafs, doch jemand legte mir ein feuchtes Tuch auf die Stirn. «Euch bringt man nicht so leicht um», sagte eine Frau.
«Benedetta?»
«Ja, Benedetta», sagte sie. Dann gab sie mir verdünntes Ale zu trinken. Ich kämpfte mich zum Sitzen hoch, und sie legte mir zwei strohgefüllte Beutel hinter den Rücken.
«Ich schäme mich», sagte ich.
«Weswegen?»
«Ich bin Uhtred von Bebbanburg. Sie haben mich gedemütigt.»
«Und ich bin Benedetta von Nirgendwo», sagte sie, «und ich wurde mein Leben lang gedemütigt, mein Leben lang geschändet, mein Leben lang versklavt, aber ich schäme mich nicht.» Ich schloss die Augen, um meine Tränen aufzuhalten, und sie nahm meine Hand. «Wenn man machtlos ist, Herr», fuhr sie fort, «warum sollte man sich dann für das schämen, was einem die Stärkeren antun? Es ist an ihnen, sich zu schämen.»
«Waormund.» Ich sprach den Namen leise aus, wie zur Probe.
«Ihr werdet ihn töten, Herr», sagte Benedetta, «so wie ich Gunnald Gunnaldson getötet habe.»
Ich ließ sie meine Hand halten, aber ich wandte mich von ihr ab, damit sie meine Tränen nicht sah.
Ich schämte mich.
Am nächsten Tag brachte mir Finan mein Kettenhemd, er brachte mir Wespenstachel mit einem Schwertgürtel, an den er Wespenstachels Scheide geschnallt hatte, und er brachte mir meine Stiefel und meinen alten, schäbigen Helm. Was fehlte, waren das Hammeramulett und Schlangenhauch. «Das alles haben wir den Toten abgenommen, Herr», erklärte Finan und legte Wespenstachel und den Helm auf das Bett, und ich war froh, dass es nicht mein guter Kampfhelm war, der Helm mit dem silbernen Wolf auf dem Scheitel, denn der Wolf von Bebbanburg war gedemütigt worden. «Sechs oder sieben von den Bastarden sind entkommen», sagte der Ire.
«Mit Schlangenhauch.»
«Ja, mit Schlangenhauch, aber wir holen dein Schwert zurück.»
Dazu sagte ich nichts. Das Bewusstsein meines Scheiterns war zu schmerzlich, zu überwältigend. Was hatte ich nur gedacht, als ich von Bebbanburg losgesegelt war? Dass ich in das westsächsische Königreich eindringen und die faule Stelle herausschneiden könnte, die in seinem Kern wucherte? Meine Gegner aber waren stark. Æthelhelm führte ein ganzes Heer, er hatte Verbündete, sein Neffe war König von Wessex, ich konnte mich glücklich schätzen, mit dem Leben davongekommen zu sein, und doch erfüllte mich bittere Scham über mein Versagen. «Wie viel Mann sind tot?», fragte ich Finan.
«Wir haben sechzehn von den Bastarden erledigt», sagte er freudig, «und wir haben neunzehn Gefangene. Zwei von den Merciern sind umgekommen, und ein paar haben üble Verletzungen.»
«Waormund», sagte ich, «er hat Schlangenhauch.»
«Wir holen das Schwert zurück», wiederholte Finan.
«Schlangenhauch», sagte ich leise. «Seine Klinge ist auf Odins Amboss gehämmert, in Thors Feuer geglüht, und sein Stahl ist im Blut seiner Gegner gekühlt worden.»
Finan sah Benedetta an, die mit den Schultern zuckte, als redete ich irr. Vielleicht war es auch so. «Er muss schlafen», sagte sie.
«Nein», gab Finan zurück. «Er muss kämpfen. Er ist Uhtred von Bebbanburg. Er liegt nicht im Bett und suhlt sich in Selbstmitleid. Uhtred von Bebbanburg legt sein Kettenhemd an, gürtet sich mit einem Schwert und trägt den Tod zu seinem Gegner.» Er stand am Eingang des Raumes, hinter ihm strahlte die helle Sonne. «Merewalh hat fünfhundert Mann hier, und sie tun nichts. Sie sitzen einfach da wie Kackhaufen in einem Kübel. Es ist Zeit zum Kämpfen.»
Ich sagte nichts. Mein Körper schmerzte. Mir tat das Herz weh. Ich schloss die Augen.
«Wir kämpfen», sagte Finan, «und dann gehen wir nach Hause.»
«Vielleicht hätte ich sterben sollen», sagte ich, «vielleicht war es an der Zeit.»
«Sei kein so jämmerlicher Narr», knurrte er. «Die Götter wollten deinen verrotteten Kadaver nicht in Walhall, noch nicht. Sie sind noch nicht fertig mit dir. Was erzählst du uns immer so gern? Wyrd bið ful āræd?» Durch seine irische Aussprache wurden die Worte verstümmelt. «Nun, das Schicksal hat noch etwas mit dir vor, die Götter haben dich nicht umsonst am Leben gelassen, und du bist ein Herr, also komm auf deine verdammten Füße, schnall dir ein Schwert um und führe uns nach Süden.»
«Süden?»
«Weil dort deine Gegner sind. In Lundene.»
«Waormund», sagte ich und zuckte zusammen bei der Erinnerung an das, was bei der Hecke auf dem Gerstenfeld geschehen war. Der Erinnerung an Waormund und seine lachenden Männer, die auf meinen geschundenen, nackten Körper gepisst hatten.
«Ganz recht, und er wird in Lundene sein», sagte Finan grimmig. «Er wird mit eingezogenem Schwanz zu seinem Herrn geflüchtet sein.»
«Æthelhelm», zählte ich einen weiteren meiner Gegner auf.
«Wir haben gehört, dass auch er dort ist. Mit seinem Neffen.»
«Ælfweard.»
«Das macht drei Männer, die du zu töten hast, und das gelingt dir nicht, wenn du deinen Arsch nicht aus dem Bett schaffst.»
Ich schlug die Augen wieder auf. «Welche Nachrichten kommen aus dem Norden?»
«Keine», sagte Finan knapp. «König Æthelstan hat die große Straße bei Lindcolne gesperrt, damit sich die Pest nicht in den Süden ausbreitet. Und alle anderen Straßen auch.»
«Die Pest», wiederholte ich.
«Ja, die Pest, und je eher wir zu Hause sind, um herauszufinden, wer tot ist und wer lebt, desto besser, aber ich lasse dich nicht nach Hause schleichen wie einen besiegten Mann. Du holst dir Schlangenhauch zurück, du tötest deine Gegner, und dann führst du uns nach Hause.»
«Schlangenhauch», sagte ich, und die Vorstellung von dieser großartigen Klinge in den Händen meines Gegners brachte mich dazu, mich aufzusetzen. Schmerz durchfuhr mich. Jeder Muskel und jeder Knochen schmerzte, aber ich setzte mich auf. Benedetta streckte die Hand aus, um mir zu helfen, doch ich ergriff sie nicht. Ich schwang meine Füße auf die Binsenstreu auf dem Boden und stand mit einem qualvollen Ruck auf. «Hilf mir, mich anzuziehen», sagte ich, «und such mir ein Schwert.»
Denn wir würden nach Lundene gehen.
«Nein!», sagte Merewalh am nächsten Tag. «Nein! Wir gehen nicht nach Lundene.»
Ein Dutzend von uns saßen vor dem großen Palas von Werlameceaster, der beinahe genauso aussah wie der Palas von Ceaster, und das war keine Überraschung, denn beide waren von den Römern erbaut worden. Merewalhs Männer hatten Bänke in die Sonne getragen, auf die wir zwölf uns setzten, doch im Umkreis hockten beinahe einhundert Mann im Staub des großen Platzes vor dem Palas und hörten uns zu. Bedienstete brachten uns Ale. Bei der Tür zum Palas scharrten ein paar Hühner und wurden dabei von einem trägen Hund beobachtet. Finan saß auf meiner rechten Seite, Pater Oda links. Zwei Priester und die Anführer von Merewalhs Truppen bildeten den Rest der Versammlung. Ich hatte noch immer Schmerzen. Ich wusste, dass ich noch tagelang Schmerzen haben würde. Mein linkes Auge war immer noch halb zugeschwollen und mein linkes Ohr mit verschorftem Blut verstopft.
«Wie groß ist die Garnisonsmannschaft von Lundene?», fragte Pater Oda.
«Wenigstens eintausend Mann», sagte Merewalh.
«Sie brauchen zweitausend», erklärte ich.
«Und ich habe nur fünfhundert Mann», sagte Merewalh, «und einige von ihnen sind krank.»
Ich mochte Merewalh. Er war ein sachlicher, vernünftiger Mann. Ich kannte ihn schon, als er noch jung gewesen war, nun aber waren sein Haar und sein Bart grau geworden, und um seine klugen Augen hatten sich tiefe Falten gebildet. Er wirkte besorgt, doch er hatte selbst als junger Mann stets sorgenvoll gewirkt. Er war ein guter und treuer Krieger, hatte Æthelflæds Haustruppen befehligt und sie mit unerschütterlicher Gefolgschaftstreue und bewundernswürdiger Vorsicht geführt. Er ging keine Wagnisse ein, und das war gut bei einem Mann, der Verteidigung für seine größte Pflicht hielt. Æthelstan vertraute ihm ganz offensichtlich und hatte Merewalh deshalb den Befehl über die guten Truppen gegeben, die Lundene eingenommen hatten, doch dann hatte Merewalh die Stadt verloren, hinters Licht geführt von dem falschen Bericht, dass eine Streitmacht durch Werlameceaster anrücke.
Nun hielt er diese Stadt anstelle von Lundenes gewaltigen Befestigungsanlagen. «Wie lauten Eure Befehle jetzt?», fragte ich ihn.
«Dafür zu sorgen, dass Lundene nicht von Verstärkungstruppen erreicht wird.»
«Diese Verstärkungstruppen kommen nicht über die Straße», sagte ich, «sie nehmen Schiffe, und wir haben sie eintreffen sehen. Schiff um Schiff voller Männer.»
Darüber runzelte Merewalh die Stirn, doch es war gewiss keine Überraschung für ihn, dass Æthelhelm Schiffe einsetzte, um die Garnison von Lundene zu verstärken. «Mercien hat keine Schiffe», sagte er, als wäre das eine Entschuldigung dafür, dass er die Verstärkung nicht hatte aufhalten können.
«Also bewacht Ihr nur die Straßen aus Richtung Ostanglien?», fragte ich.
«Ohne Schiffe? Da ist das alles, was wir tun können. Und wir schicken Spähtrupps zur Beobachtung von Lundene.»
«Und zur Beobachtung von Toteham?», hakte ich nach. Ich wusste nicht genau, wo Toteham war, aber nach dem, was ich gehört hatte, musste es zwischen Lundene und Werlameceaster liegen.
Meine Vermutung erwies sich als richtig, denn die Frage löste unbehagliches Schweigen aus. «Toteham hat nur eine kleine Garnison», sagte ein Mann namens Heorstan schließlich. Er war mittleren Alters und diente als Merewalhs Stellvertreter. «Es sind zu wenige, um uns Ärger zu machen.»
«Klein?»
«Vielleicht fünfundsiebzig Mann?»
«Die fünfundsiebzig Mann in Toteham machen Euch also keinen Ärger», sagte ich bissig, «und was tun sie stattdessen?»
«Sie beobachten uns bloß», antwortete einer von Merewalhs Kriegern. Er klang mürrisch.
«Und Ihr lasst sie das einfach tun?» Ich sah Merewalh an.
Wieder stellte sich unbehagliches Schweigen ein, und einige der Männer, die in der Sonne saßen, bewegten sich unruhig und starrten auf den staubigen Boden, was mich zu dem Schluss brachte, dass sie schon einen Angriff auf Toteham vorgeschlagen hatten und der Vorschlag von Merewalh abgelehnt worden war.
«Wenn Æthelhelm einen Kampfverband aus Lundene zum Angriff auf König Æthelstan schickt», meldete sich einer der Priester zu Wort, in dem offenkundigen Bemühen, Merewalh aus seiner Verlegenheit zu befreien, «dann müssen wir ihn verfolgen. Wir sollen ihnen in den Rücken fallen, während der König die Vorhut angreift.»
«Und wo ist König Æthelstan?», fragte ich.
«Er hält an der Temes Wache», sagte Merewalh, «mit zwölfhundert Kriegern.»
«Hält Wache!», kam es betont von dem Priester, der weiter versuchte, Merewalhs Untätigkeit zu verteidigen. «Der König überwacht die Temes, so wie wir die Straßen nach Lundene überwachen. König Æthelstan besteht darauf, dass wir keinen Krieg heraufbeschwören.»
«Es ist schon Krieg», warf ich schroff ein. «Vor zwei Tagen sind Männer gestorben.»
Der Priester, ein dicklicher Mann mit einem braunen Haarkranz, winkte ab, als wären diese Tode belanglos. «Es gibt kleinere Auseinandersetzungen, Herr, das stimmt, aber König Æthelstan wird nicht in Wessex eindringen, und bisher sind die Einheiten von Herrn Æthelhelm nicht in Mercien eingedrungen.»
«Lundene ist mercisch», beharrte ich.
«Das mag sein», sagte der Priester gereizt, «aber seit den Tagen König Alfreds wird die Garnison dort von Westsachsen gestellt.»
«Habt Ihr die Stadt deshalb verlassen?», fragte ich Merewalh. Es war eine schonungslose Frage, die ihn daran erinnerte, welche Torheit es gewesen war, die Stadt aufzugeben.
Er zuckte zusammen, war sich all der Männer bewusst, die unserer Unterhaltung zuhörten. «Habt Ihr noch niemals eine falsche Entscheidung getroffen, Herr Uhtred?»
«Ihr wisst, dass ich das getan habe. Ihr habt mich gerade selbst nach einer meiner schlechtesten gerettet.»
Er lächelte. «Das war Brihtwulf», sagte er und nickte zu einem jungen Mann hinüber, der links von ihm saß.
«Und er hat es gut gemacht», gab ich inbrünstig zurück, was mir ein Lächeln Brihtwulfs eintrug, der auf Merewalhs Befehl die Männer zu meiner Rettung angeführt hatte. Er war der jüngste von Merewalhs Anführern und hatte die größte Truppeneinheit mitgebracht, gut über hundert Mann, weshalb es sich angeboten hätte, ihn zum Stellvertreter Merewalhs zu ernennen, doch seine Jugend und Unerfahrenheit hatten gegen ihn gesprochen. Er war groß, dunkelhaarig, kräftig gebaut und neuerdings wohlhabend, nachdem er zwei Monate zuvor die Ländereien seines Vaters geerbt hatte. Finan schätzte ihn. «Er hat mehr Silber als Verstand», hatte mir der Ire erklärt, «aber er ist ein angriffslustiger Bastard. Erpicht auf den Kampf.»
«Brihtwulf hat Euch gerettet», fuhr Merewalh fort, «und versucht Ihr nun, auch mich nach einer falschen Einschätzung zu retten?»
«Es war keine falsche Einschätzung», sagte Heorstan nachdrücklich. Es war offenkundig, dass Merewalhs Stellvertreter das achtsame Verhalten seines Befehlshabers unterstützte. «Wir hatten keine Wahl.»
«Nur dass es diese vorrückende Streitmacht gar nicht gegeben hat!», bemerkte Brihtwulf hitzig.
«Meine Späher waren sicher über das, was sie gesehen hatten», gab Heorstan wütend zurück. «Es waren Männer auf der Straße von…»
«Genug!», unterbrach ich ihn ruppig. Es war nicht an mir, diese Versammlung zu führen, doch wenn sie anfangen würden, über Fehler der Vergangenheit zu streiten, würden wir uns niemals über die Zukunft einig werden. «Sagt mir», wandte ich mich an Merewalh, «wenn kein Krieg ist, was geht stattdessen vor?»
«Unterredungen», sagte Merewalh.
«In Elentone», ergänzte der dickliche Priester.
Elentone war eine Stadt an der Temes, dem Fluss, der die Grenze zwischen Wessex und Mercien bildete. «Ist Æthelstan in Elentone?», fragte ich.
«Nein, Herr», antwortete der Priester. «Der König hielt es für unklug, selbst hinzugehen, also hat er Gesandte geschickt, die für ihn sprechen. Er ist in Wicumun.»
«Also ganz in der Nähe», sagte ich. Wicumun war eine Siedlung in den Hügeln nördlich der Temes, während sich Elenton am südlichen Ufer des Flusses befand, beide Städte waren nur einen bequemen Fußmarsch von Lundene entfernt. Bemühte sich Æthelstan wirklich um ein Abkommen mit seinem Halbbruder Ælfweard? Das war durchaus möglich. Zudem hatte er die Klugheit besessen, der Gefahr seiner Gefangennahme auszuweichen, indem er nicht über die Temes auf das Gebiet seines Bruders hinübergewechselt war. «Und über was reden diese Gesandten?», fragte ich.
«Über einen Frieden, natürlich», sagte der Priester.
«Pater Edwyn ist gerade aus Elentone eingetroffen», erklärte Merewalh mit einem Nicken zu dem Priester.
«Wir haben nach einer Übereinkunft gesucht», sagte Pater Edwyn, «und darum gebetet, dass es keinen Krieg geben wird.»
«König Edward», erwiderte ich schroff, «hat eine Torheit begangen. Er hat Wessex an Ælfweard vererbt und Mercien an Æthelstan, und beide wollen das Land des anderen. Wie kann es da Frieden ohne Krieg geben?» Ich wartete auf Antwort, doch niemand sagte etwas. «Wird Ælfweard Wessex aufgeben?» Wieder nur Schweigen. «Oder wird Æthelstan damit einverstanden sein, dass Ælfweard Mercien regiert?» Ich wusste, dass auch darauf niemand eine Antwort hatte. «Also kann es keinen Frieden geben», sagte ich rundheraus, «und sie können so viel reden, wie sie wollen, aber über Edwards Torheit kann nur das Schwert entscheiden.»
«Männer guten Willens bemühen sich, ein Abkommen zu erreichen», wandte Pater Edwyn schwach ein.
Ich ließ seine Worte unbeachtet verhallen. Diese Männer wussten auch ohne mich, dass Æthelhelms guter Wille nicht weiter als bis zu seiner Familie reichte. Die Krieger um Merewalh starrten weiter zu Boden, offenkundig nicht bereit, eine alte Auseinandersetzung über das, was Merewalh mit seinen Kampfeinheiten tun sollte, wiederaufzunehmen. Doch für mich, und für Merewalh selbst wahrscheinlich auch, war klar, dass er zu vorsichtig gewesen war.
«Wer hat die stärkeren Kampfeinheiten?», fragte ich. «Æthelhelm oder Æthelstan?»
Einen Moment lang sagte niemand etwas, obwohl sie alle die Antwort kannten. «Æthelhelm», räumte Merewalh schließlich ein.
«Und warum gibt sich Æthelhelm dann mit Unterredungen ab?», fragte ich. «Wenn er mehr Männer hat, warum greift er nicht an?» Erneut erhielt ich keine Antwort. «Er redet», fuhr ich fort, «weil er dadurch Zeit gewinnt. Zeit, um eine Streitmacht in Lundene zu sammeln, Zeit, um all seine Gefolgsleute aus Ostanglien hierherzuholen. Und er wird so lange weiterreden, bis seine Streitmacht so groß ist, dass Æthelstan keine Aussicht mehr hat, sie zu schlagen. Ihr sagt, König Æthelstan überwacht die Temes?»
«So ist es», kam es von Merewalh.
«Mit zwölfhundert Mann? Die alle am Fluss entlang verteilt sind?»
«Sie müssen sämtliche Brücken und Furten bewachen», erklärte Merewalh.
«Und wie viele Westsachsen überwachen das südliche Ufer der Temes?»
«Zweitausend? Dreitausend?», vermutete Merewalh, ohne sicher zu sein. Dann forderte er mich heraus. «Und was sollte König Æthelstan Eurer Meinung nach tun?»
«Aufhören zu reden und anfangen zu kämpfen», sagte ich, und von den Männern auf den Bänken kam zustimmendes Gemurmel. Ich bemerkte, dass es die jüngeren Männer waren, die zuerst nickten, doch auch einige der älteren Krieger brummten zustimmend. «Ihr sagt, er ist in Wicumun? Dann sollte er Lundene angreifen, bevor er von Æthelhelm angegriffen wird.»
«Herr Uhtred hat recht», ergriff Brihtwulf das Wort. Seine freimütige Stellungnahme rief keine Erwiderung hervor, und ermutigt von diesem Schweigen, fuhr er fort: «Wir richten hier nichts aus! Der Gegner schickt keine Männer über die Straße, also sitzen wir nur herum und werden fett! Wir müssen kämpfen!»
«Aber wie?», fragte Merewalh. «Und wo? Wessex hat zweimal so viele Männer wie Mercien!»
«Und wenn Ihr noch lange wartet», gab ich zurück, «haben sie dreimal so viele.»
«Was würdet Ihr also tun?», fragte Heorstan. Es hatte ihm nicht gefallen, wie ich ihm zuvor entschieden das Wort abgeschnitten hatte, und diese Frage klang beinahe höhnisch, war ganz gewiss eine Herausforderung.
«Ich würde Wessex die Köpfe abschlagen», antwortete ich. «Ihr sagt, Æthelhelm und sein Earsling von einem Neffen sind in Lundene?»
«So wurde es uns berichtet», gab Merewalh zurück.
«Und ich war vor kurzem selbst in Lundene», fuhr ich fort, «und die Männer aus Ostanglien wollen nicht kämpfen. Sie wollen nicht für Wessex sterben. Sie wollen zur Ernte nach Hause gehen. Wenn wir Wessex seine beiden Köpfe abschlagen, werden sie es uns danken.»
«Seine beiden Köpfe?», fragte Pater Edwyn.
«Æthelhelm und Ælfweard», sagte ich schroff. «Wir finden sie, wir töten sie.»
«Amen», sagte Brihtwulf.
«Und wie», fragte Heorstan, aus dessen Stimme immer noch die Herausforderung klang, «sollen wir das bewerkstelligen?»
Also erklärte ich es ihm.
«Ich war ein großer Säugling», verkündete mir Finan später an diesem Tag.
Ich starrte ihn an. «Groß?»
«Das hat meine Mutter gesagt! Sie meinte, es war, als würde sie ein Schwein gebären. Die arme Frau. Sie soll grauenvoll geschrien haben, als sie mich herauspresste.»
«Beeindruckend», sagte ich.
«Und trotzdem bin ich kein großer Bursche. Nicht hochgewachsen wie du!»
«Mehr wie ein Wiesel als wie ein Schwein.»
«Aber bei meiner Geburt war eine weise Frau anwesend», überging Finan meinen Spott, «und sie hat das Blut gelesen.»
«Sie hat das Blut gelesen?»
«Um in die Zukunft zu schauen, versteht sich! Sie hat das Blut auf meinem zarten Körperchen betrachtet, bevor es abgewaschen wurde.»
«Dein zartes Körperchen.» Ich musste lachen, und meine angebrochenen Rippen schmerzten. «Aber das ist Hexenwerk», fuhr ich fort, «dabei dachte ich, bei euch Iren sind alle Christen.»
«Das sind wir auch. Wir bessern das nur gern mit ein bisschen harmlosem Hexenwerk auf.» Er grinste. «Und sie sagte, ich würde ein langes Leben haben und in meinem Bett sterben.»
«War das alles, was sie gesagt hat?»
«Das war alles», erklärte Finan, «und diese weise Frau hat sich niemals geirrt! Und in Lundene werde ich mich vermutlich in kein Bett legen, oder?»
«Leg dich einfach nie in ein Bett», sagte ich, «und du lebst ewig.» Und ich hätte einen Bogen um Gerstenfelder machen sollen, dachte ich.
Ich wusste, warum mir Finan von der Prophezeiung der weisen Frau erzählte. Er versuchte, mir Mut zu machen. Er wusste, dass ich nur ungern nach Lundene zurückkehrte, dass ich Merewalh nur deshalb zum Angriff gedrängt hatte, weil die Männer von mir erwarteten, dass ich sie in die Schlacht führte. In Wahrheit aber war das Einzige, was ich wollte, nach Hause zu gehen, die breite Straße nach Northumbrien hinaufzureiten, bis ich hinter den Mauern von Bebbanburg in Sicherheit war.
Doch so sehr ich mich nach den Bequemlichkeiten und der Sicherheit meiner Heimstatt sehnte, wollte ich auch mein Ansehen wiederherstellen. Mein Stolz war verletzt und mein Schwert war gestohlen worden. Finan, der so lange nur darauf aus gewesen war, nach Hause zurückzukehren, drängte mich nun, den Kampf wiederaufzunehmen. Stand auch sein Ansehen auf dem Spiel? «Es ist ein enormes Wagnis», erklärte ich ihm.
«Selbstredend ist es ein Wagnis! Das ganze Leben ist ein Wagnis! Aber willst du diesen Bastard Waormund damit prahlen lassen, dass er dich besiegt hat?»
Ich antwortete nicht, sondern dachte daran, dass wir alle sterben müssen, und wenn wir sterben, ist das Einzige, was bleibt, unser Ansehen. Also musste ich nach Lundene gehen, ob es mir gefiel oder nicht.
Das war der Grund, aus dem einhundertachtzig von Merewalhs Männern an diesem Nachmittag ihre Schilde abschabten. Wir hatten keine Kalkfarbe und nicht annähernd genügend Teerpech, und deshalb kratzten die Männer mit Messern und Dechseln Æthelstans Drachen mit dem Blitz ab, statt die Schilde zu übermalen. Nachdem die Weidenbretter saubergeschabt waren, brannten die Männer mit rot glühenden Eisen ein dunkles Kreuz in das helle Holz. Es war ein grobschlächtiges Symbol, nicht zu vergleichen mit dem Zeichen der drei Kronen, das viele Ostanglier trugen, und auch nicht mit Æthelhelms springendem Hirsch, doch etwas Besseres fiel mir nicht ein. Sogar ich selbst würde einen Schild mit dem christlichen Kreuz tragen.
Denn wir würden unter einem falschen Zeichen nach Lundene ziehen, vorgeben, Ostanglier zu sein, die zur Verstärkung der immer größer werdenden Garnisonsbesatzung kamen. Merewalh und Heorstan hatten den Plan abgelehnt, doch ihr Widerspruch war schwächer geworden, als weitere Männer auf einen Angriff gedrängt hatten, statt nur in Werlameceaster darauf zu warten, dass andere Männer die Entscheidung in dieser Auseinandersetzung herbeiführten. Zwei Einwände hatten sie überzeugt, und sie waren beide von mir gekommen, auch wenn ich im Stillen keinem der beiden recht traute. Ich wollte nach Hause, doch mein Eid band mich, und Schlangenhauch rief mich.
Mein erster Einwand lautete, dass Æthelhelms Schlagkraft unweigerlich zunehmen würde, wenn wir weiter abwarteten, und das traf zu, allerdings waren wir auch jetzt schon in beklagenswerter Unterzahl gegenüber seiner Garnison in Lundene. Merewalh hatte mir einhundertachtzig Mann gegeben, und wir würden eine Stadt angreifen, die von wenigstens eintausend Mann, sehr wahrscheinlich aber von zweitausend Mann gehalten wurde.
Diese Aussicht hätte jeglichen Mann davon abbringen sollen, mir zu folgen, doch ich hatte einen zweiten Einwand vorgebracht, der sie überzeugte. Ich erzählte von den Ostangliern, denen wir im Toten Dänen begegnet waren, davon, wie sehr ihnen der Kampf widerstrebte. «Sie waren nur dort, weil sie ihr Herr dorthin befohlen hat», hatte ich gesagt, «und kein Einziger von ihnen wollte kämpfen.»
«Was nicht bedeutet, dass sie nicht kämpfen werden», hatte Merewalh betont.
«Aber für wen?», hatte ich zurückgegeben. «Sie hassen die Westsachsen! Welche Streitmacht ist als letzte in Ostanglien eingefallen?»
«Die westsächsische.»
«Und Ostanglien», hatte ich vorgebracht, «ist ein stolzes Land. Es hat seinen König verloren, es ist einst von Dänen regiert worden, aber jetzt hat ihnen Wessex einen ungeliebten König aufgezwungen.»
«Aber werden sie uns lieben?», hatte Merewalh gefragt.
«Sie werden dem Gegner ihres Gegners folgen», hatte ich gesagt, aber glaubte ich das?
Es war möglich, dass einige Ostanglier auf der Seite Merciens kämpfen und andere den Kampf ganz ablehnen würden, doch es ist schwer, Männer zur Auflehnung gegen ihren Herrn zu bringen. Männer erhalten Land von ihrem Herrn, um es zu bewirtschaften, sie erwarten von ihrem Herrn, dass er ihnen in Notzeiten zu essen gibt und sie in guten Zeiten mit Silber entlohnt, und auch wenn dieser Herr einem unnachsichtigen und grausamen König dient, ist er immer noch ihr Herr. Sie mochten nicht mit Begeisterung kämpfen, aber kämpfen würden die meisten. Ich kannte diese Wahrheit, und Merewalh kannte sie ebenfalls, doch schließlich ließ er sich überzeugen. Und möglicherweise hatten ihn nicht meine Einwände dazu gebracht, sondern eine leidenschaftliche Rede Pater Odas.
«Ich bin Ostanglier», hatte er gesagt, «und Däne.» Darauf war ein Murmeln durch die Reihen gegangen, aber Oda stand aufrecht und ernst vor ihnen. Er besaß Ausstrahlung, wirkte wie eine Führungsgestalt, und deshalb war das Gemurmel verebbt. «Ich wurde als Heide aufgezogen», hatte er weitergesprochen, «aber durch die Gnade Unseres Herrn Jesus Christus haben ich zu Seinem Thron gefunden, bin einer Seiner Priester geworden und einer aus Seinem Volk. Ich gehöre zum Volk Gottes! Ich habe kein Land. Ich bin aus Ostanglien geflohen, um in Wessex zu leben, und dort habe ich im Hausstand Æthelhelms als Priester gedient.» Wieder erklang Gemurmel, doch es war leise und wurde von Oda mit erhobener Hand beendet. «Und in Æthelhelms Hausstand», hatte er seine Rede fortgesetzt und dabei laut genug gesprochen, um auf dem gesamten Platz gehört zu werden, «habe ich in das Antlitz des Bösen geblickt. Ich habe einen Herrn ohne Ehre gesehen und einen Prinzen, in den der Teufel gefahren ist. Ælfweard», er spie den Namen geradezu heraus, «ist ein grausamer Bube, ein Bube voller Arglist, ein Sündenbube! Und so bin ich erneut geflohen, dieses Mal nach Mercien, und dort bin ich auf einen Prinzen Gottes gestoßen, einen Mann der Ehre, ich bin König Æthelstan begegnet!»
Dieses Mal war das Gemurmel zustimmend, doch wieder hatte Oda die Menge mit erhobener Hand zum Verstummen gebracht.
«Die Ostanglier werden kämpfen!», hatte er gesagt. «Aber was ist Ostanglien? Ist es ein Land? Ihr letzter sächsischer König ist vor einer Generation gestorben, sie sind von den Dänen regiert worden und nun von Westsachsen! Sie sind ein Volk ohne Land, und sie sehnen sich nach einem Land, und in unserer Heiligen Schrift sagt uns Petrus, dass diejenigen, die kein Land besitzen, zum Land Gottes gehören. Und in diesem Land ist Gott unser Herr, Gott ist unser Gebieter, und Æthelstan von Mercien ist sein Werkzeug. Und die Besitzlosen Ostangliens werden uns folgen! Sie werden für unseren Gott kämpfen, weil sie in Gottes Land wohnen und Gottes Volk sein möchten! Ebenso wie wir!»
In sprachlosem Erstaunen hatte ich mit angesehen, wie Männer aufstanden und zu jubeln begannen. Ich musste nichts weiter sagen, denn das gefährliche Spiel, ein paar Männer zu einem verzweifelten Einsatz nach Lundene zu führen, war in eine heilige Pflicht verwandelt worden. Wenn die Männer ihren Willen bekommen hätten, wären sie augenblicklich nach Lundene geritten, in der Erwartung, dass Æthelhelms ostanglische Truppen ihre Gefolgschaft wechseln würden, sobald wir unsere Banner zeigten.
Selbst Merewalh war überzeugt worden, auch wenn seine angeborene Vorsicht weiter die Oberhand behielt. «Wir könnten Erfolg haben», räumte er ein, «wenn Gott mit uns ist. Aber König Æthelstan muss es erfahren.»
«Dann sagt es ihm.»
«Ich habe schon einen Boten losgeschickt.»
«Damit Æthelstan es verbieten kann?», forderte ich ihn heraus.
«Wenn er es wünscht, ja.»
«Also müssen wir seine Antwort abwarten?», fragte ich. «Und abwarten, während seine Berater über die Sache streiten?»
Ich hatte verächtlich geklungen, doch ein Teil von mir wollte fast, dass Æthelstan den Irrsinn untersagte, aber wieder war es Pater Oda, der zur Kühnheit aufforderte. «Ich glaube fest daran, dass Gott die Eroberung von uns wünscht», hatte er Merewalh erklärt, «selbst wenn uns ein Heide anführt.»
«Selbst wenn ich sie anführe?», hatte ich gefragt.
«Selbst dann.» Er hatte geklungen, als hätte er einen üblen Geruch in der Nase.
«Ihr glaubt, es ist Gottes Wille?», hatte Merewalh den Priester gefragt.
«Ich weiß, dass es Gottes Wille ist», hatte Oda leidenschaftlich erwidert, und deshalb schabten nun Männer Schilde ab und brannten Kreuze auf die Weidenbretter. Während ich ihnen zusah, fragte ich mich, ob ich erneut einen schrecklichen Fehler beging. Die Gegner in Lundene waren so zahlreich, und Merewalh hatte mir nur einhundertachtzig Mann gegeben. Die Vernunft sagte mir, dass ich mich wie ein gedankenloser Narr verhielt, doch jedes Mal, wenn mich die Versuchung überkam, diese Torheit aufzugeben, flüsterte mir eine leise Stimme ins Ohr, dass ein Erfolg möglich war.
Æthelhelm sammelte seine Truppen in Lundene, weil er dort Sicherheit hinter starken römischen Mauern fand, in einer Stadt, die groß genug war, um seine wachsende Streitmacht unterzubringen. Zudem hoffte er zweifellos, dass Æthelstan ihn dort angreifen würde, denn es gibt keine schnellere Art, um eine gegnerische Streitmacht zu vernichten, als ihre Männer zu töten, während sie gegen eine Steinmauer anrennen. Æthelstan konnte seine Männer zum Sturm gegen die römischen Befestigungsanlagen Lundenes schicken, doch sie würden zu Hunderten sterben, und die Überlebenden würden bis in den letzten Winkel Merciens verfolgt und niedergemacht werden. Ælfweard würde die Throne von Wessex, Mercien und Ostanglien einnehmen und alles Englaland nennen, und dann würde er seine neue und noch größere Streitmacht in mein Land Northumbrien führen.
Doch Zahlen bedeuteten nicht alles. Ostangliens Männer mochten Æthelhelms Einberufung folgen und seinen Neffen als ihren neuen König anerkennen, aber sie liebten weder den einen noch den anderen. Die meisten Ostanglier hatten Æthelhelms Ruf gehorcht, weil sie mit Ungehorsam eine Bestrafung herausgefordert hätten. Sie waren ein unterworfenes Land, und sie hegten eine tiefsitzende Feindseligkeit gegenüber ihren Eroberern. Wenn es mir gelang, in die Mitte Lundenes vorzustoßen und Æthelhelms Streitkräften das Herzstück herauszuschneiden, würden die Ostanglier keine Rache an mir üben wollen. Doch die Hälfte der Streitmacht in Lundene bestand aus Westsachsen, und wie würden diese sich verhalten? Ich wusste es nicht. Ich wusste zwar, dass viele westsächsische Herren über die Macht und den Einfluss von Æthelhelms Reichtum grollten, dass sie Ælfweard als unreifen und bösartigen Jüngling geringschätzten, aber würden sie deshalb Æthelstan willkommen heißen?
Also ja, es bestand tatsächlich die Möglichkeit, wenn auch eine entmutigend geringe Möglichkeit, dass ein unvermittelter Vorstoß ins Herz Lundenes den Schaden wiedergutmachen würde, den Edwards Testament angerichtet hatte. Ich aber wusste, dass ich in Wahrheit deshalb in die Stadt zurückkehren wollte, weil mein Gegner dort war. Der Gegner, der mich erniedrigt hatte, der Gegner, der zweifellos mit seinem Sieg über Uhtred von Bebbanburg prahlte, der Gegner, der mein Schwert in den Händen hielt.
Ich ging, um Rache zu nehmen.
Finan war an diesem Nachmittag, an dem wir die Schilde abschabten und mit Brandzeichen versahen, nicht bei mir. Ich hatte ihn mit zwei von unseren und ein paar von Brihtwulfs Kriegern an die Straße nach Lundene geschickt, wo sie abwarten sollten. Ich hatte sie angewiesen, sich bei der Straße zu verstecken, und nur zwei Meilen südlich von Werlameceaster hatten sie ein Schlehendickicht gefunden, das ihnen Deckung bot. Sie warteten ab und kamen erst zurück, als die Sonne tief im Westen stand und die Befestigungsmauern von Werlameceaster lange Schatten warfen.
Ich war mit Merewalh, Heorstan und Brihtwulf im Palas. Die beiden älteren Männer waren unruhig. Merewalh hatte meinem Plan nach Pater Odas feuriger Predigt zugestimmt, nun aber entdeckte er nichts als Schwierigkeiten daran. Der Gegner war zu stark, die Mauern von Lundene zu hoch, die Aussicht auf Erfolg zu gering. Heorstan war einer Meinung mit ihm, aber nicht ganz so sicher, dass wir scheitern mussten. «Der Herr Uhtred», sagte er und verbeugte sich leicht in meine Richtung, «hat den Ruf eines Siegers. Also sollten wir ihm wohl vertrauen.»
Merewalh sah mich bedrückt an. «Aber was ist, wenn Ihr geschlagen werdet, bevor ich meine Truppen in die Stadt bringen kann?», fragte er zögernd.
«Dann sterbe ich.»
«Und Brihtwulf und seine Männer sterben mit Euch», sagte Merewalh bekümmert, «und ich bin auch für sie verantwortlich.»
«Wir überraschen den Gegner», sagte ich. «Wir planen einen nächtlichen Angriff, wenn die meisten schlafen, genauso wie sie uns bei der Einnahme der Stadt überrascht haben. Wir gehen in die Stadt und öffnen Euch und Euren Männern das Tor.»
«Wenn Ihr das Tor angreift…», begann Merewalh.
«Wir greifen das Tor nicht an», unterbrach ich ihn. «Sie werden uns für ostanglische Truppen halten, die zu ihrer Verstärkung kommen.»
«Nach Anbruch der Dunkelheit?» Merewalh war darauf aus, immer neue Einwände zu finden, und, um ehrlich zu sein, es gab viele. «Männer sind für gewöhnlich nicht in der Dunkelheit unterwegs, Herr. Was ist, wenn sie sich weigern, Euch das Tor zu öffnen?»
«Dann warten wir bis zum Morgen», sagte ich. «Tatsächlich könnte es bei Tageslicht sogar einfacher sein. Wir haben Kreuze auf unseren Schilden. Wir müssen sie nur davon überzeugen, dass wir Ostanglier sind, keine Mercier.»
In diesem Moment kam Finan mit einem von Brihtwulfs Kriegern in den Palas. Beide Männer wirkten verschwitzt und erschöpft, dennoch grinste Finan. In unserer Runde kehrte Schweigen ein, während die beiden Männer auf uns zugingen. «Sechs Mann», sagte Finan, als sie bei uns angekommen waren.
Merewalh sah ihn ratlos an, doch ich ergriff das Wort, bevor er Finan befragen konnte. «Haben sie euch gesehen?», wollte ich wissen.
«Sie sind zu schnell geritten», Finan entdeckte einen halbvollen Alekrug auf einem Tisch und trank, bevor er ihn an seinen Begleiter weiterreichte, «und haben nicht das Geringste von ihrer Umgebung wahrgenommen.»
«Sie haben uns nicht gesehen», bestätigte Brihtwulfs Krieger. Sein Name lautete Wihtgar, und er war ein schlanker Mann mit dunklem Hautton, vorspringendem Kinn und nur einem Ohr. Das fehlende Ohr war ihm bei einem unbedeutenden Kampf von einer dänischen Axt abgehackt worden, und die höckrige Narbe war halb von langem, fettigem schwarzen Haar verdeckt. Brihtwulf, den ich mochte, hatte mir erklärt, Wihtgar wäre sein bester Mann und sein hitzigster Krieger, und beim Anblick dieses Mannes glaubte ich das auch.
Merewalh runzelte die Stirn. «Sechs Mann?», fragte er, verwirrt von dem knappen Austausch.
«Vor etwa einer Stunde», erklärte Finan, «haben wir sechs Mann nach Süden reiten sehen, und alle kamen aus dieser Garnison.»
Merewalh war verärgert. «Aber ich habe keine Spähtrupps befohlen! Und so spät am Tag ganz gewiss nicht.»
«Alle sechs gehörten zu Heorstans Männern», fügte Wihtgar drohend hinzu. Wir hatten zwei von Brihtwulfs Männern mit Finan ausgeschickt, weil sie jeden Mann aus Merewalhs Einheiten erkennen würden.
«Meine Männer?» Heorstan trat einen Schritt zurück.
«Eure Männer», sagte Wihtgar. «Eure Männer», wiederholte er, bevor er die Namen der sechs nannte. Er sprach die Namen sehr langsam und sehr feindselig aus, während er Heorstan nicht aus den Augen ließ.
Heorstan sah Merewalh an, dann lächelte er schwach. «Ich habe sie losgeschickt, damit sie die Pferde bewegen, Herr.»
«Dann sind die sechs also zurückgekommen?», fragte ich.
Er öffnete den Mund, stellte fest, dass er nichts zu sagen wusste, doch dann wurde ihm klar, dass er sich mit Schweigen selbst verurteilte. «Ich bin sicher, dass sie zurückgekommen sind!», sagte er hastig.
Ich zog Wespenstachel aus der Scheide. «Dann lasst sie holen», knurrte ich.
Er wich einen weiteren Schritt zurück. «Ich bin sicher, dass sie bald zurückkommen werden…», begann er und verstummte.
«Ich zähle bis drei», sagte ich, «und wenn Ihr am Leben bleiben wollt, beantwortet Ihr meine nächste Frage, bevor ich bei drei bin. Wohin sind sie geritten? Eins», ich wartete einen Moment, «zwei.» Ich zog meinen Arm zurück, bereit, mit Wespenstachel zuzustoßen.
«Toteham!», keuchte Heorstan. «Sie sind nach Toteham!»
«Auf Euren Befehl?», fragte ich, Wespenstachel noch immer auf seinen Bauch gerichtet. «Um Æthelhelms Truppen zu warnen?», setzte ich ihm zu.
«Ich hätte es Euch gesagt!», kam es verzweifelt von Heorstan, der nun flehend Merewalh ansah. «Der Plan von Herrn Uhtred ist Irrsinn! Er kann nicht gelingen! Ich wusste nicht, wie ich verhindern sollte, dass Eure Männer in Lundene niedergemacht werden, also wollte ich Æthelhelm warnen und es Euch danach sagen. Dann hättet Ihr diesen Irrsinn aufgeben müssen!»
«Wie viel Geld hat Euch Æthelhelm gezahlt?», fragte ich.
«Kein Geld!», kam es eilig von ihm. «Kein Geld! Ich habe nur versucht, Eure Männer zu retten!» Er sah wieder Merewalh an. «Ich hätte es Euch noch gesagt!»
«Und es waren Eure Späher, mit denen Ihr die Garnison aus Lundene gelockt habt», beschuldigte ich ihn, «mit falschen Berichten über eine Streitmacht, die sich Werlameceaster nähert.»
«Nein!», widersprach er. «Nein!»
«Doch», sagte ich und setzte Wespenstachels scharfe Spitze auf seinen Bauch, «und wenn Ihr weiterleben wollt, erzählt Ihr uns, wie viel Euch Æthelhelm gezahlt hat.» Ich drückte den Sax gegen seinen Körper. «Wollt Ihr am Leben bleiben? Ihr lebt weiter, wenn Ihr es uns erzählt.»
«Er hat mich bezahlt!», sagte Heorstan, nun voll Entsetzen. «Er hat mir Gold gegeben!»
«Drei», sagte ich und stieß ihm Wespenstachel in den Bauch. Heorstan krümmte sich über dem Kurzschwert zusammen, und dann, ohne auf den heftigen Schmerz in meiner Schulter zu achten, riss ich den Sax mit beiden Händen aufwärts, und Heorstan stieß ein Wimmern aus, das sich in einen erstickten Schrei verwandelte und verebbte, als er langsam zusammenbrach und sein Blut die Spreu auf dem Boden rot färbte. Er starrte zu mir empor, sein Mund öffnete und schloss sich, und in seinen Augen standen Tränen. «Ihr habt gesagt, ich kann weiterleben!», gelang es ihm zu keuchen.
«Das habe ich», gab ich zurück, «nur habe ich nicht gesagt, wie lange Ihr weiterleben könnt.»
Er lebte noch einige qualvolle Minuten länger, bis er schließlich verblutet war.
Merewalh war fassungslos, jedoch nicht aufgrund von Heorstans Tod, er hatte genügend Männer sterben sehen, um sich von Blut und erstickten Atemzügen nicht beunruhigen zu lassen, sondern über die Enthüllung, dass Heorstan Verrat an ihm begangen hatte. «Ich habe ihn für einen Freund gehalten! Wie konntet Ihr das wissen?»
«Ich wusste es nicht», antwortete ich, «aber wenn unser Plan verraten werden sollte, mussten wir es erfahren. Deshalb habe ich Finan nach Süden geschickt.»
«Aber der Plan ist verraten worden!», brauste Merewalh auf. «Warum habt Ihr die Männer nicht aufgehalten?»
«Weil ich wollte, dass die Männer Toteham erreichen», sagte ich und wischte Wespenstachels Klinge an einem Lumpen ab, «wie sich von selbst versteht.»
«Ihr wolltet, dass sie…», begann Merewalh. «Aber warum? Warum in Gottes Namen?»
«Weil der Plan, von dem ich Euch und Heorstan erzählt habe, eine Täuschung war. Und diese Täuschung wollte ich den Gegner hören lassen.»
«Und wie machen wir es dann?», fragte Merewalh.
Also erklärte ich es ihm. Und am darauffolgenden Tag ritten wir zum Kampf.