Kapitel 1

 

»Willkommen an Bord, Dr. McCoy!« Dr. Angelina Mola empfing ihren zivilen Kollegen mit großer Herzlichkeit.

»Nun … äh … danke, Ma'am«, erwiderte Leonard, während er das mächtige Rettungsschiff Recovery betrat. Es war das erste Mal seit achtzehn Monaten, dass er sich in einem größeren Schiff als einem Zehn-Personen-Shuttle aufhielt, und das Gefühl dabei war ziemlich überwältigend. »Ich betrachte diese Einladung als besondere Ehre.«

»Die Ehre liegt ganz auf unserer Seite, Doktor«, erklärte die stattliche, achtzigjährige Matrone mit einem leichten spanischen Akzent. Sie war einen Kopf größer als McCoy und stand so aufrecht und gerade wie ein Baum.

Wie eine Eiche, dachte Pille bewundernd.

Die dunkelhäutige, schwarzäugige Frau kam ihm mit dem kurzgeschnittenen, wie eine Kappe anliegenden, von silbernen Fäden durchzogenen schwarzen Haar, der strengen, straff sitzenden Uniform und den schmucklosen Arbeitsschuhen wie der Inbegriff von Professionalität vor. Kein Haar am falschen Platz, keine schiefsitzende Naht, das war Dr. Mola. Sie unterschied sich in nichts von der strengen, geschäftsmäßigen Professorin, die McCoy zum ersten Mal mit der Idee, sich Starfleet anzuschließen, konfrontiert hatte, als er, damals noch ein Student im Grundstudium, ihren Kurs ›Medizin auf Messers Schneide – Praktizieren im All‹ belegt hatte. Das muss an die hundert Jahre her sein, überlegte er sarkastisch. Doch trotz ihres perfektionistischen Äußeren klang ihre Stimme voller Wärme.

»Ich hätte Sie fast nicht wiedererkannt, Leonard«, sagte Mola in einem Ton, in dem eine Art liebevoller Missbilligung mitschwang.

»Ah«, brummte McCoy grinsend und strich sich über den Bart, der die untere Hälfte seines Gesichts verdeckte. Er war schneller und auch dichter gewachsen, als er erwartet hatte, ein Umstand, der ihn mit Stolz erfüllte. Nur konnte er sich nicht so recht an die silbernen Haare darin gewöhnen, die langsam die schwarzen an Zahl übertrafen. »Nun, das gehörte zu den Dingen, die ich unbedingt ausprobieren musste, nachdem ich jetzt Zivilist bin.«

Mola zog eine schmale Augenbraue hoch, gab aber keinen weiteren Kommentar dazu ab. Während sie nebeneinander durch die leicht geschwungenen Korridore gingen, sagte sie: »Die Vorschläge, die Sie Dr. Shulman in Bezug auf die Einrichtung der Krankenstation und einige weiterentwickelte medizinische Gerätschaften gemacht haben, eröffnen uns praktisch einen ganz neuen Arbeitsbereich. Dank Ihrer Mithilfe, Leonard, verfügt die Recovery jetzt über die vollständigste – und automatisierteste – medizinische Einrichtung von Starfleet. Gerettete Personen werden dadurch in die Lage versetzt, Diagnosen zu erstellen und sich gegenseitig zu behandeln, ganz gleich, wie schwer ihre Verletzungen sind, und zwar selbst dann, wenn sich kein Arzt unter ihnen befindet.«

»Na, das ist ja eine erschreckende Vorstellung!«, knurrte McCoy und verbarg sein Lächeln unter dem Bart. »Damit werden alte Landärzte wie ich ja glatt aus dem Geschäft gedrängt!«

Mola versetzte ihm einen angedeuteten Rippenstoß. »Ich glaube nicht, dass man sich deswegen allzu große Sorgen machen müsste, Leonard. Wenn überhaupt jemand in Gefahr ist, aus dem Geschäft gedrängt zu werden, dann die Recovery selbst – jedenfalls dann, wenn es nach dem Willen Ihres alten Compañero geht.«

McCoy warf ihr einen Blick zu. »Also wirklich, Angie. Shulman hat Jim nach seiner Meinung gefragt und genau das bekommen, was er haben wollte. Sie können einem Mann nicht vorwerfen, dass er seine Ansicht geäußert hat. Davon abgesehen haben Sie mir selbst gesagt, das Schiff wäre dank seiner Vorschläge erheblich verbessert worden.«

Sie nickte ergeben. »Ja, Sie haben recht. Das Schiff ist dank Kirks und Ihrer Vorschläge verbessert worden. Hier, sehen Sie sich das mal an, Leonard.« Sie blieb neben einem Wandpaneel stehen, in das ein Computerschirm eingelassen war. »Computer, wo sind wir?«

Ein Plan des Schiffes leuchtete plötzlich auf dem Schirm auf. Der riesige, elliptisch geformte Raumer wurde zunächst in der Aufsicht dargestellt; dann drehte sich das Bild, um dem Betrachter einen Sektorenausschnitt zu zeigen.

»Sie befinden sich auf Deck fünfundsiebzig, im zentralen Kern«, sagte eine weibliche Computerstimme, während gleichzeitig eine rote Standortmarkierung auf dem Plan erschien. »Sie sind siebzig Meter vom Eingang zur primären Krankenstation entfernt.« Ein blaues Blinklicht zeigte den genannten Ort und die Richtung an. »Sie sind acht Meter vom nächstgelegenen Lebensmittel- und Getränkespender entfernt.« Eine grüne Markierung leuchtete an der entsprechenden Stelle auf. »Sie sind zwölf Meter vom nächstgelegenen Toilettenraum entfernt.« McCoy zog eine Augenbraue hoch, als diese Markierung gelb aufschimmerte. »Benötigen Sie irgendwelche Dienste?«

»Im Moment nicht, Computer«, sagte Dr. Mola, worauf der Schirm wieder erlosch.

»Nette Version eines ›Sie befinden sich hier‹-Zeichens, Angie«, spottete McCoy.

»Es steckt noch mehr dahinter«, meinte Dr. Mola. »Wenn jemand einen dieser Schirme erreicht, dann aber ohnmächtig wird und nicht mehr um Hilfe rufen kann, beamt der Computer das Opfer automatisch in ein freies Bett in der Krankenstation und beginnt mit der Diagnose.« Sie interpretierte McCoys fragenden Gesichtsausdruck richtig und fuhr fort: »Und ja, der Computer kann eindeutig zwischen Bewusstlosigkeit und normalem Schlaf unterscheiden.«

»Aber … Beamen innerhalb des Schiffes! Das ist ungeheuer gefährlich …«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem leisen Lächeln. »Nicht an Bord der Recovery. Shulman hat die Transporter perfektioniert; sie arbeiten punktgenau und verfügen über diverse Sicherheitsvorkehrungen. Seine Weiterentwicklungen werden die Weltraumfahrt revolutionieren.«

»Ja? Na schön, dann soll aber jemand anderer sie ausprobieren. Diese Dinger jagen mir auch so schon genug Angst ein, da will ich nicht auch noch befürchten müssen, in einer Wand zu materialisieren.«

»Sie sind unzählige Male getestet worden, Leonard – tatsächlich sehr viel öfter als jedes andere System auf dem Schiff. Ich selbst habe sie auch benutzt, und zwar ohne die geringsten Bedenken.« Mola ignorierte McCoys ungläubigen Blick und deutete auf den jetzt wieder dunklen Wandbildschirm. »Diese Schirme befinden sich überall auf dem ganzen Schiff, jeweils in dreißig Metern Abstand. Jeder an Bord hat darauf Zugriff. Ich glaube, eines Tages werden derartige Terminals überall innerhalb der Flotte zum Standard gehören. Sie werden den Leuten erklären, wo sie sich befinden, ihre Fragen beantworten, ihnen zeigen, wie sie zu ihrem Quartier kommen oder von den Replikatoren Nahrung und andere Dinge bekommen können. Dieser Computer hier kann den Leuten an Bord sogar erklären, wie bestimmte Reparaturen durchzuführen sind, sollten sich innerhalb des Schiffes Probleme ergeben. Außerdem schlägt er verschiedene Bergungsmethoden vor und entwickelt darüber hinaus Verteidigungspläne, sofern das Schiff angegriffen wird. Sobald sich die Geretteten erst einmal an Bord der Recovery befinden, erhalten sie somit die Möglichkeit, mit allem fertig zu werden, was immer auch geschehen mag.«

»Wenn Sie es sagen«, meinte der Doktor höflich.

»Sie klingen skeptisch.« Mola zog eine ihrer pechschwarzen Augenbrauen hoch.

»Nun, ich habe schon mehr als eine dieser ›Wir haben die Antwort auf all Ihre Probleme‹-Maschinen gesehen«, erklärte McCoy. »Nach meiner Erfahrung sieht die Realität dann aber in den seltensten Fällen auch nur annähernd so beeindruckend aus wie die Wunschvorstellung.«

»Genau deshalb gibt es ja Tests und Simulationen, mi amigo. Und darum habe ich auch darauf bestanden, Sie als hochgeehrten zivilen Beobachter dabeizuhaben. Ich weiß, dass ich Sie vom Wert der Recovery überzeugen kann, wenn Sie das Schiff in Aktion sehen. Und wenn ich Sie überzeugen kann, dann kann ich jeden überzeugen. Sogar Kirk.«

»Tja, nun, mich zu überzeugen, ist eine Sache. Aber den Admiral …« In McCoys Stimme schwang sowohl Stolz wie auch eine gewisse Verärgerung mit. Die Erwähnung von Jims Namen löste bei ihm Heimweh nach dem alten Freund und der Enterprise aus. Während der letzten anderthalb Jahre hatte sich der Doktor in Forschungen über die Fabrini und deren medizinische Expertisen ferner Planeten vergraben. Dass er sich jetzt wieder auf einem großen Schiff befand, weckte Erinnerungen an ein anderes Schiff, eine andere Zeit … »Ich meine, für ihn ist das nur ein weiterer Bericht, der über seinen Schreibtisch geht. Es ist ja nicht so, als würde er die Arbeitsweise des Schiffes tatsächlich sehen.«

Mola lächelte, als hätte sie diesen Einwand vorausgeahnt. »Oh, das wird er aber. Nogura schickt ihn her. Der Druck auf die Admiralität war zu groß; Kirk musste kommen.«

McCoy runzelte die Stirn. »Zu einer Simulation? Das scheint kaum wichtig genug, um …«

Mola schaute sich um, als wolle sie sich vergewissern, dass niemand mithörte. »Nein, nicht nur wegen der Simulation. Die Recovery hat die üblichen Tests bereits hinter sich. Das hier … ist etwas anderes. Hier sind auch andere Faktoren involviert.«

McCoy betrachtete sie forschend. Irgend etwas hielt sie zurück.

»Por favor, Leonard, verzeihen Sie mir«, sagte sie leise, »aber ich kann Ihnen nicht erzählen, um welche Faktoren es sich handelt. Es fällt mir schwer, Ihnen diese Information zu verweigern, aber … immerhin sind Sie jetzt Zivilist.«

Zu ihrer Überraschung reagierte McCoy darauf mit einem Grinsen. »Oh, entschuldigen Sie sich bitte nicht, meine Liebe. Ich bin schließlich nur ein einfacher, alter Raumfahrer im Ruhestand, und sehr froh darüber. Meinen Anteil an geheimen Informationen habe ich gehabt, als ich noch eine Uniform trug. Behalten Sie Ihre dunklen, beunruhigenden Geheimnisse ruhig für sich. Heutzutage schlafe ich nachts weitaus besser als jemals, während ich noch zur Flotte gehörte.«

»Vielen Dank für Ihr Verständnis«, meinte Dr. Mola. »Aber Sie waren ja schon immer der perfekte caballero

McCoy vermied, sie anzusehen, während er so beiläufig wie möglich fragte: »Dann kommt Jim also her, um sich die Show anzusehen, hm?«

»Ja. Wir werden natürlich vor ihm da sein. Ich bin sicher, uns bleibt etwas freie Zeit, bevor die Evakuierung tatsächlich beginnt. Gewisse … Dinge, die zum Szenario gehören, müssen vorher noch in die Wege geleitet werden. Ich kann ihn gerne anrufen und ihn wissen lassen, dass Sie hier sind.«

»Nein!«, sagte McCoy etwas zu rasch. »Wir … haben uns nicht mehr gesehen, seit wir die Enterprise verlassen haben. Wenn Jim jetzt zur Recovery herüberbeamt, dann haben wir hier im Handumdrehen ein Veteranentreffen. Von uns beiden wird erwartet, dass wir Berichte über den Test schreiben. Wenn die Leute uns zusammen sehen und unsere Berichte in wesentlichen Punkten übereinstimmen …« Er führte den Satz nicht zu Ende; Mola würde die Gefahr auch so erkennen. Tatsache war allerdings, dass ihn der Gedanke an ein Treffen mit Jim nervös machte. Er war sich gar nicht so sicher, ob sein alter Freund ihn überhaupt sehen wollte. Vielleicht nicht, nachdem McCoy in Noguras Büro geplatzt war und dem Admiral vorgeworfen hatte, Jim die Beförderung praktisch aufgezwungen zu haben. Erreicht hatte er damit freilich nichts. Nogura hatte über McCoys Kopf hinweg gehandelt, seine Empfehlung, Kirk sein altes Kommando behalten zu lassen, ignoriert und Jim die Treppe hinaufgestoßen.

Er überlegte flüchtig, ob Jim wohl glücklich sein mochte, richtete seine Aufmerksamkeit dann aber wieder auf Dr. Mola.

»… könnte dies den Test in ein falsches Licht rücken«, nickte die Ärztin. »Sie haben vollkommen recht. Wir dürfen nicht einmal den Anschein einer Interessenskollision erwecken. Das ist sehr anständig von Ihnen, Leonard. Sie hätten Ihren Freund gewiss gern gesehen. Ich werde dafür Sorge tragen, dass Ihr Name nicht erwähnt wird. Allerdings wird er nach dem Test zweifellos eine Führung durch das Schiff wünschen …«

»Es ist ein großes Schiff, Angie. Ich werde es schon schaffen, ihm aus dem Weg zu gehen.«

Sie warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, doch bevor sie einen Kommentar abgeben konnte, kam ein großgewachsener, asketisch schlanker Mann auf sie zu. Dr. Molas Gesicht leuchtete auf. »Dr. Shulman! Sind wir bereit zum Abflug nach Zotos Vier?«

»Ja, Dr. Mola«, erwiderte der Mann mit leiser, sanft klingender Stimme. »Wir starten innerhalb der nächsten zehn Minuten. Ich werde die Computermeldungen von meinem Quartier aus überwachen. Haben Sie die Gästeliste überprüft? Sind alle an Bord und startklar?«

McCoy betrachtete den Mann mit professionellem Interesse. Seine Haut war olivfarben, doch darunter lag ein Anflug von Röte, als hätte er etwas Fieber. Auf seiner Stirn war eine hauchdünne Schweißschicht zu erkennen. Nun, dachte der Doktor, immerhin ist dieses Schiff sein Lebenswerk. Er wäre kein Mensch, wenn ihn diese Reise nicht in höchste Anspannung versetzte.

»Selbstverständlich, Dr. Shulman«, versicherte Angelina. »Alle vierundsechzig geladenen Gäste befinden sich an Bord. Die planetaren Delegationen der FDRA sind vor einer Stunde eingetroffen, und Dr. McCoy, unser ziviler Beobachter, hat den Abschluss gemacht.«

»Ausgezeichnet«, murmelte Shulman. »Dann werde ich jetzt sofort das Programm starten, das uns von hier fortbringt. Guten Abend, meine Dame, mein Herr.«

Der hochgewachsene Mann hatte es so eilig, dass er beinahe lief. McCoy starrte unwillkürlich hinter ihm her.

»Betrachten Sie Myron mit Nachsicht«, meinte Angelina. »Seit er gehört hat, dass Kirk dabei sein wird, ist er nur noch ein Nervenbündel. Aber wenn das Schiff erst einmal auf dem Weg ist, wird er sich schon wieder beruhigen.«

»Ja, sicher«, brummte McCoy geistesabwesend. »Habe ich nicht irgendwo gelesen, dass Shulman Langstreckenläufer ist?«

»Das stimmt. Hat vor fünf Jahren bei der Föderations-Olympiade Bronze geholt.«

McCoy nickte und wandte sich wieder seiner Begleiterin zu. »Das erklärt alles. Diese Marathonläufer kommen mir immer so überdreht wie Windhunde vor.«

Dr. Mola lachte. »Wenn ich bedenke, wie lethargisch Sie sich normalerweise verhalten, wundert mich Ihre Reaktion nicht.« Sie blieben vor einer Doppeltür stehen, neben der an der Wand ein medizinisches Symbol prangte. Als sich die Türen zischend öffneten, bedeutete sie ihm hineinzugehen. »Ah, hier sind wir endlich in der Krankenstation. Ich kann es kaum erwarten, Ihnen meine Lieblingsspielsachen vorzuführen.«

 

Mit einem knappen Nicken entließ Sarek seine weiß gekleidete Führerin, eine junge Vulkanierin, die den Blick gesenkt hielt, und trat auf den Balkon hinaus, von dem aus man bis zum fernen Horizont schauen konnte. Im Osten bohrte sich der Mount Seleya schwarz, zerklüftet und undurchdringlich in den dunkelroten Himmel. Die letzten Strahlen des flammenden Sonnenuntergangs waren verblichen, und schon kühlte sich die dünne Luft ab; innerhalb weniger Minuten würde die Temperatur um dreißig bis vierzig Grad sinken und die glühende Wüste in eine kalte Ödnis verwandeln. Sarek hatte seine Reise absichtlich auf diese Zeit gelegt, um die Ebene von Gol nicht während der größten Hitze überqueren zu müssen.

Für einen Moment stand er reglos da und betrachtete die Berge, während eine leichte Brise sein silbernes Haar aus der Stirn wehte.

Ringsum herrschte Stille. Selbst die junge Postulantin, die ihn zu dem Balkon geführt hatte, war lautlos über die schwarzen Stufen geglitten, wodurch Sarek das Echo, das die Absätze seiner Stiefel auf dem Stein hervorriefen, besonders intensiv bewusst wurde. Der vor Jahrtausenden aus dem dunklen Berg herausgehauene Unterschlupf beherbergte ein paar hundert Studenten des Kolinahr, des Weges der Emotionslosigkeit, doch außer der Studentin, die ihn an dem großen steinernen Torbogen in Empfang genommen hatte, hatte Sarek niemanden gesehen, und in der tiefen Stille auf dem Balkon fiel die Vorstellung leicht, er sei ganz allein in der Einöde.

Für Sarek stellte dieser Ort die Quintessenz des Planeten Vulkan dar. Der Unterschlupf bei der Ebene von Gol hatte sogar schon vor Suraks friedlicher Revolution existiert, als die Adepten des Kolinahr noch die vielgefürchteten Meister der Kunst der Bewusstseinskontrolle waren: die Gedankenlords, die durch Terror und Manipulation herrschten. Nach Surak hatten die Adepten ihre Kräfte nach innen gerichtet und sich bemüht, ihre eigenen Emotionen zu beherrschen.

Heutzutage begegnete man den Adepten mit Ehrerbietung, und vulkanische Familien waren insgeheim stolz, wenn sie einen Studenten des Kolinahr zu ihren Mitgliedern zählen konnten.

Doch hier, an diesem stillen, geheiligten Platz, stellte Sarek fest, dass es nicht etwa Stolz war, den er zu unterdrücken versuchte (obwohl er durchaus bei dem Gedanken, dass sein Sohn sich für ein so vollkommen vulkanisches Leben entschieden hatte, einen Anflug dieses Gefühls verspürte), sondern Besorgnis.

Vor mehr als einem terranischen Standardjahr, als James Kirk zum Admiral befördert worden war und das Kommando über die Enterprise niedergelegt hatte, hatte Spock den Dienst bei Starfleet quittiert und war nach Vulkan zurückgekehrt, um eine Stelle als Dozent an der Wissenschaftsakademie zu übernehmen. Sarek war darüber erfreut gewesen, insbesondere als Spock seine Verlobung mit T'Sura, einer hochangesehenen vulkanischen Wissenschaftlerin, bekanntgab. Sarek war überzeugt, dass sich sein Sohn nun endlich bei seinem eigenen Volk wohl fühlen würde.

Und dann hatte Spock zwei menschliche Freunde zu einem Besuch nach Gol mitgenommen. Dergleichen war nicht ungewöhnlich; die Kolinahru hießen Besucher willkommen, die einen ruhigen Zufluchtsort suchten. Doch einer dieser Freunde, Dr. Leonard McCoy, war unter bizarren Umständen entführt worden, und die andere, Keridwen Llewellyn, begleitete Spock und T'Sai, den Hohemeister des Kolinahr, auf der Rettungsaktion und fand dabei den Tod.

Sarek kannte nur wenige der Einzelheiten; Spock zeigte sich in diesem Punkt ausgesprochen verschlossen. Doch als er von der Rettungsmission zurückkehrte, sagte er die Hochzeit mit T'Sura ab und zog sich nach Gol zurück.

Zuerst hatte Sarek angenommen, Spocks plötzliches Interesse am Kolinahr gehe auf jenen kurzen Besuch bei den Studenten und das nachfolgende Unternehmen mit dem Hohemeister zurück. Doch Amanda, Spocks Mutter, beharrte darauf, die Entscheidung ihres Sohnes müsse in irgendeinem Zusammenhang mit dem Tod der Menschenfrau stehen. Und nun fragte sich Sarek, ob die nur allzumenschlichen Instinkte seiner Frau nicht doch recht hatten.

Er hatte die bevorstehende Konfrontation fast ein Jahr lang vor sich hergeschoben, bis sie schließlich aufgrund seiner wachsenden Überzeugung, Kolinahr sei der falsche Weg für Spock, unvermeidbar geworden war. Vor vielen Jahren hätte er Spocks Entscheidung vielleicht begrüßt – so, wie er den Entschluss seines Sohnes, sich Starfleet anzuschließen und unter Menschen zu leben, abgelehnt hatte. Doch mit der Zeit hatte er sich gezwungen gesehen, seine ursprüngliche Einschätzung zu ändern; immerhin war Spock zur Hälfte menschlich, und diese Tatsache zu leugnen hieße zugleich, Spock selbst und das Erbteil seiner Mutter zu leugnen.

Doch das Kolinahr würde von Spock verlangen, genau diesen Teil seiner selbst abzulehnen.

Trotzdem war Sarek bis zu diesem Moment, als er hier in der kühlen, den Geruch der Wüste mit sich tragenden Brise stand, nicht klar geworden, wie sehr er die ganze Idee ablehnte. Und im gleichen Augenblick wurde ihm auch klar, was er zu tun hatte – auch wenn es ihm nicht gefiel.

Er drehte sich um, als er das leise Geräusch von Schritten auf dem Stein wahrnahm, und sah sich seinem Sohn gegenüber.

»Vater«, sagte Spock in perfekt neutralem Ton, während er die Kapuze seiner weißen Postulantenrobe zurückschob.

Unwillkürlich musste Sarek an eine zwanzig Jahre zurückliegende Begegnung denken, als er und sein Sohn völlig gegensätzlicher Ansicht über Spocks Entscheidung waren, sich Starfleet anzuschließen.

Doch dieser Spock hatte nur wenig Ähnlichkeit mit dem vor zwanzig Jahren. Dieser Spock war kein dickköpfiger, leidenschaftlicher Junge, sondern ein hagerer, ernster Adept des Kolinahr. Dank einer spartanischen Diät war er abgemagert, so dass die scharfen Linien seines Gesichts noch stärker hervortraten, und in dem schwächer werdenden Licht sammelten sich Schatten in den Höhlungen unter seinen Wangenknochen. Das schwarze, glatte Haar fiel bis auf die Schultern herab – genau wie bei seiner Mutter, dachte Sarek. Die Spitzen wiesen einen leicht rötlichen Schimmer auf, der von derselben, gnadenlos herabbrennenden Sonne stammte, die auch seine Haut gebräunt hatte. Die früher kurzgeschnittenen Haare am Stirnansatz trug er jetzt ebenfalls länger und zur Seite gebürstet.

Und unter den geschwungenen Brauen waren Augen zu sehen, die statt der früheren Sanftheit nun eine unergründliche, verstörende Kälte zeigten.

Die gleiche Kühle vernahm Sarek auch in der leisen Stimme seines Sohnes.

»Du bist gekommen, um Abschied zu nehmen?«

Im Zusammenhang mit Gol hatte diese Frage eine tiefere Bedeutung. Vor dem großen Ritual, bei dem der Geist des Studenten mit dem des Hohemeisters verschmolz und alle Emotionen ausgelöscht wurden, legte man dem Postulanten nahe, seine emotionalen Bindungen an Familie und Freunde abzulegen. Am leichtesten wurde das durch eine Bewusstseinsberührung erreicht. Geteilte Erinnerungen wurden bestätigt, alle Verbindungen und Verpflichtungen gelöst.

Amanda hatte bereits widerstrebend eingewilligt und vor mehreren Monaten Abschied genommen – allerdings nicht, ohne ihrem Mann, wenn schon nicht ihrem Sohn, ihre Missbilligung deutlich zu machen. Und nun war Sarek an der Reihe, denn Spock würde sich in wenigen Wochen dem Ritual unterziehen. Sarek wusste das, allerdings nicht, weil er mit seinem Sohn in Kontakt gestanden hätte – Gol erlaubte keinerlei Kommunikation mit der Außenwelt –, sondern weil das Ritual traditionellerweise nach einem Jahr der Studien und der Vorbereitung durchgeführt wurde. Und Spocks Jahr war fast vorüber.

Sarek holte tief Luft und erwiderte: »Nein, ich bin gekommen, um dir zu erklären, warum ich es nicht tun will.«

Spock sagte nichts darauf, sondern verharrte in absoluter Reglosigkeit und wartete auf die angekündigte Erklärung; seine Muskeln spannten sich nicht, sein Atem ging nicht schneller. Allerdings blinzelte er einmal.

»Ich kann deine Entscheidung nicht gutheißen«, fuhr Sarek fort. »Und anders als deine Mutter kann ich nicht an etwas mitwirken, das ich nicht gutheiße.« Er hielt inne und suchte nach den richtigen Worten, während Spock weiterhin so still und reglos verharrte wie der schwarze Fels um sie herum. »Du bist zur Hälfte menschlich, Spock. Ich begrüße zwar deine Entscheidung für die vulkanische Lebensweise, aber ich kann keinen Weg billigen, der die völlige Negierung deines menschlichen Erbteils erfordert.«

»Ich kann deiner Logik nicht folgen«, sagte Spock in seinem leisen, leidenschaftslosen Ton. »Starfleet hast du missbilligt; meine Rückkehr nach Vulkan fand deine Zustimmung, ebenso wie meine Verbindung mit T'Sura. Meiner Einschätzung nach hast du es also vorgezogen, wenn ich mein menschliches Erbteil ›negiere‹, wie du es ausgedrückt hast.«

»Ich …« Sarek spürte die Erregung in seiner Stimme und zwang sich zu dem gleichen, ruhigen Tonfall wie sein Sohn, »… möchte einfach nicht, dass du einen Teil deines Erbes leugnest, ganz gleich welchen. Das ist ganz einfache Logik. Und es ist auch kein Zufall, dass sowohl deine Mutter wie auch ich deine Entscheidung missbilligen. Sicher sind auch deine Freunde, Admiral Kirk und Dr. McCoy, der gleichen Ansicht.«

»Das weiß ich nicht.«

Sareks Überraschung zeigte sich nicht in seinem Gesicht. »Sie sind nicht hergekommen, um Abschied von dir zu nehmen?«

»Ich habe sie nicht darum gebeten«, sagte Spock, und Sarek glaubte eine Spur von Verachtung herauszuhören, als sein Sohn fortfuhr: »Immerhin sind es Menschen.«

»Die dir näher stehen als ich oder deine Mutter«, entgegnete Sarek. »Wenn du deine Bindungen an sie nicht löst, wird das Erreichen des wahren Kolinahr außerordentlich schwierig, wenn nicht …«

»Ich habe deine Ansicht zur Kenntnis genommen«, unterbrach ihn Spock mit einer Härte, die Sarek veranlasste, augenblicklich zu verstummen. »Aber wie auch immer …« Jetzt klang Spocks Stimme wieder ruhig. »… ich bin entschlossen, das Kolinahr zu erreichen. Mit oder ohne deine Hilfe.«

Sarek lauschte einen Moment auf das ferne Zwitschern eines Vogels. Er drehte den Kopf in Richtung des Tons, fort von seinem Sohn, und spürte die jetzt kalte, abendliche Brise auf seinen Wangen. Schließlich wandte er sich wieder Spock zu. »Dann ist eine weitere Diskussion überflüssig.«

»Dem stimme ich zu.« Spock hob die Hand und trennte Mittel- und Ringfinger zu einem V. »Glück und langes Leben, Sarek.«

Und mit diesen Worten verkündete er, dass sie nicht länger Vater und Sohn waren, sondern nur noch Sarek und Spock; obgleich Sarek nicht zugestimmt hatte, Abschied zu nehmen, erklärte Spock, dass die Verbindung, zumindest von seiner Warte aus, formell beendet war.

Sarek hob die eigene Hand zum Gruß. »Glück und langes Leben, Spock.« Für ein paar Sekunden, nicht länger, betrachtete er seinen früheren Sohn, den er, der Tradition des Kolinahr zufolge, nicht wiedersehen würde. Die hereinbrechende Dunkelheit veränderte Spocks Züge; die Haut wirkte jetzt silbergrau, Augen, Brauen und Haare verschmolzen mit dem schwarzen Stein hinter ihm, so wie die schwarzen Berge am Horizont in der beginnenden Nacht verschwanden.

Dann drehte sich Spock um und verschwand lautlos durch den Torbogen, ein Aufleuchten von Weiß, das von der Dunkelheit verschluckt wurde. Sarek verharrte noch ein paar Sekunden draußen in der Kälte, dann ging auch er, langsam und widerstrebend.

 

Wieder in seiner Zelle, hockte Spock mit gekreuzten Beinen vor einer altmodischen Öllampe.

Gol war so, wie es immer gewesen war seit der Zeit der vulkanischen Frühgeschichte – frei von jeglichem Komfort. Spocks Kammer bestand, genau wie die aller anderen Bewohner Gols, aus einem einzigen Raum, der einem großgewachsenen Vulkanier gerade genug Platz bot, um sich auszustrecken, ohne mit Kopf oder Füßen die Wände zu berühren. Die Zelle wies weder Zierrat noch Möbel auf, abgesehen von einer kleinen, in den Fels gehauenen Nische, die als Wandschrank diente. Postulanten schliefen und saßen direkt auf dem Boden, aber Spock fand die Unterbringung trotzdem recht passabel. Die Kälte der Nacht wurde durch die Wärme gemildert, die der glitzernde schwarze Fels speicherte, aus dem Boden, Wände und Decke bestanden; gegen Morgen war der Stein abgekühlt und bot Schutz vor der ärgsten Hitze des Tages.

Mittlerweile war es vollständig Nacht geworden. Ohne den Schein naher Städte wirkte der Himmel genauso schwarz wie die Felsen; und nur durch die schimmernden Sterne war es möglich zu sagen, wo das Fenster – ein einfaches, in die Wand geschnittenes Loch – aufhörte und der Himmel begann.

Spock zog eine runde Scheibe aus der Tasche, in deren metallbeschichtete Oberfläche ein esoterisches, geometrisches Muster eingeätzt war. Er legte die Scheibe respektvoll vor die Öllampe und konzentrierte seinen Blick darauf. Das Meditationsmandala hatte einem früheren, inzwischen verstorbenen Adepten gehört, der dem Brauch gefolgt und das Mandala Gol vermacht hatte, damit es von einem anderen Aspiranten verwendet werden konnte, um die Erleuchtung und die Freiheit des Kolinahr zu erlangen.

Das genaue Alter des Mandala war nicht bekannt. Es musste aber zumindest mehrere Jahrhunderte alt sein, denn die ursprünglich rotgoldene Oberfläche hatte sich unter den Berührungen ganzer Generationen von Adepten in einen stumpfen, grünlich-bronzenen Farbton verwandelt.

Spock atmete langsam aus und verharrte so einen Moment, bevor er mit der Meditation zur Erforschung seiner Gedanken begann.

Nach so vielen Monaten in Gol hatte er geglaubt, sich nahezu von allen Emotionen gereinigt zu haben, doch Sareks Besuch hatte eher das Gegenteil bewiesen. Vielleicht war es in der reinen, kontrollierten Atmosphäre von Gol leicht, ein mentales Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Doch Sarek hatte Erinnerungen an das Leben außerhalb mit sich gebracht, und seine Weigerung, von seinem Sohn Abschied zu nehmen, hatte Spock eine andere, ähnlich bittere Begegnung ins Gedächtnis gerufen – die an jenen Tag, als Spock seinem Vater mitteilte, dass er die Absicht hatte, sich Starfleet anzuschließen.

Sarek hatte den Standpunkt vertreten, ein Leben unter Menschen würde Spocks Fähigkeit, seine Emotionen zu kontrollieren, beeinträchtigen.

»Jedes Mal, wenn du die Kontrolle verlierst, wird das auf alle Vulkanier zurückfallen …«

Und Spock hatte hitzig erwidert: »Ich frage mich, wie meine Mutter reagieren würde, wenn sie wüsste, dass du mich davor warnst, mich von ihrer Spezies kontaminieren zu lassen.«

Doch Sarek war mit Argumenten nicht beizukommen; er hatte Spock zum vrekasht, zum Ausgestoßenen, der nicht länger sein Sohn war, erklärt.

Spock kam nicht umhin, bemerkenswerte Parallelen zwischen der Begegnung an diesem Abend und jener vor zwanzig Jahren zu ziehen. Nur war diesmal er derjenige, der bereit war, die Beziehung zwischen Vater und Sohn zu trennen, während nun Sarek den Standpunkt vertrat, Spock solle sein menschliches Erbe nicht verleugnen.

Wäre es möglich, überlegte Spock und starrte dabei das Mandala an, als suche er dort nach einer Antwort, dass mein Bestreben, Kolinahr zu erreichen, dem Wunsch entspringt, meinem Vater zu gefallen?

Vor einem Jahr hätte er einen derart peinlichen, verstörenden Gedanken vermutlich verdrängt. Doch das Kolinahr forderte extreme Introspektion, extreme Selbstehrlichkeit. Ungeprüfte Emotionen und Erinnerungen konnten nicht geläutert werden.

Trotzdem wusste er, dass er sich dem Kolinahr aus einem anderen Grund zugewandt hatte: weil er, genau wie sein Vater ihn zwanzig Jahre zuvor gewarnt hatte, die Kontrolle verloren – und den Tod einer unschuldigen Frau verursacht hatte.

Oder zumindest hatte er das zu jenem Zeitpunkt geglaubt. Heute, nach Monaten intensiver Kontemplation, hatte er begriffen, dass sie auch ohne sein Versagen sehr wahrscheinlich gestorben wäre; genaugenommen hätten sowohl er selbst als auch Dr. McCoy und der Hohemeister T'Sai sterben können, selbst wenn ihm keine emotionale Entgleisung unterlaufen wäre. Es war unmöglich, solche Dinge zu wissen, und Schuldgefühle waren unlogisch und unproduktiv. Nach einem harten, inneren Kampf hatte er sie schließlich überwunden.

Und nun musste er den frischen Ärger über Sarek verarbeiten, der sich geweigert hatte, ihm dabei zu helfen, sich von allen Emotionen zu befreien, die mit der Erinnerung an jenen Tag verbunden waren, an dem sein Vater ihn zum vrekasht erklärt hatte. Dieser Ärger würde nicht leicht zu überwinden sein, denn der Konflikt mit seinem Vater war eines der schmerzhaftesten Geschehnisse seines Lebens gewesen.

Darüber hinaus musste er auch noch den nagenden Zweifel überwinden, den Sarek ausgelöst hatte, als er sagte: Wenn du deine Bindungen an deine Freunde nicht löst, wird das Erreichen des wahren Kolinahr außerordentlich schwierig …

Spock hatte seit vielen Monaten nicht mehr an Jim Kirk und Leonard McCoy gedacht. Er hatte nicht den Eindruck gehabt, es gäbe viele Probleme zu lösen, die seine früheren Schiffskameraden betrafen. Sicher, er war sich in gewisser Weise betrogen vorgekommen, als Kirk seine Entscheidung, das Kommando über die Enterprise aufzugeben und sich zur Admiralität versetzen zu lassen, verkündet hatte; doch diese Emotion hatte Spock schon vor geraumer Zeit überwunden. Statt dessen hatte er sich darauf konzentriert, sich von den emotionalen Fesseln an seine Familie zu befreien, und vor allem auch von dem Gefühl der Unsicherheit, soweit es seine Identität als Vulkanier betraf.

Trotzdem (auch wenn es schwierig war, das zuzugeben, wie Spock mit einer gewissen Selbstironie feststellte) hatte Sarek mit seiner Behauptung recht gehabt, Spock hätte James Kirk und Dr. McCoy nähergestanden als den eigenen Eltern. Vielleicht wäre es am klügsten, die Ansicht seines Vaters genauer zu untersuchen.

Spock schloss die Augen und rief sich die Bilder seiner Freunde ins Gedächtnis.

Als erster tauchte Dr. Leonard McCoy vor seinem inneren Auge auf. Spock hatte den Doktor zuletzt vor etwa einem Jahr gesehen, kurz bevor sich der Vulkanier nach Gol zurückgezogen hatte. Ihr letztes Treffen war von dem tragischen Tod von McCoys Kollegin, Dr. Keridwen Llewellyn, überschattet worden.

Eine Aura von Trauer umgab die Erinnerung; der Kummer zeigte sich in McCoys hagerem, unrasiertem Gesicht und den rot geränderten, blutunterlaufenen Augen. Doch er hatte nicht den geringsten Versuch unternommen, Spock für Llewellyns Tod verantwortlich zu machen; tatsächlich hatte er Spocks Entschluss, den Weg des Kolinahr einzuschlagen, verständnisvoll akzeptiert.

»Vielleicht haben diese Kolinahr-Typen ja die richtige Idee gehabt. Vielleicht wären wir alle ohne Emotionen besser dran.«

Zu seinem eigenen Erstaunen stellte Spock fest, dass er beim mentalen Klang der Stimme des Doktors ein liebevolles Lächeln unterdrückte. Aber das war unmöglich; er hatte diese Erinnerung bereits vor mehreren Monaten vollständig durchlebt und die Techniken zur Bewusstseinskontrolle eingesetzt, um alle Emotionen zu löschen, die mit Leonard McCoy verbunden waren.

Und doch … ein Gefühl der Zuneigung für den Doktor behauptete sich hartnäckig. Und wenn er für Dr. McCoy noch so empfand …

Spock atmete aus und rief sich das Bild von James Kirk vor Augen, so wie er ihn an seinem ersten Tag als Admiral im Starfleet-Hauptquartier in San Francisco gesehen hatte.

Für Spock, der von Vulkan aus angerufen hatte, war es so erschienen, als fühle sich der Admiral in seiner neuen Uniform und dem neuen Büro seltsam unbehaglich, obgleich Kirks Gesicht den für ihn typischen Enthusiasmus ausgestrahlt hatte, wie stets, wenn es etwas Neues, Unbekanntes zu bewältigen galt.

Doch dieses Strahlen war rasch verblasst, als Spock ihm mitteilte, dass er seinen Abschied von Starfleet genommen hatte.

»Ich werde Sie vermissen, Spock. Sie sind ein hervorragender Offizier gewesen – und ein guter Freund.«

So hatte Sarek also abermals recht gehabt. Es gab noch emotionale Bindungen, die gelöst werden mussten. Die Erinnerung hatte ein Aufflackern von Schmerz mit sich gebracht.

Und mehr: Während er über seine Freunde nachdachte, verspürte Spock eine plötzliche, unverkennbare Neugier.

Wo sind Sie jetzt, Dr. McCoy?

Und Sie, Jim – immer noch im Hauptquartier von Starfleet? Immer noch überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben?

Spock öffnete die Augen und erhob sich – eine Reflexreaktion auf das zwar schwache, aber unmissverständliche Gefühl einer Berührung, als ob ein anderes Bewusstsein versucht hätte, über den Ozean des Alls hinweg Kontakt zu ihm aufzunehmen.

Die Berührung war zu schwach gewesen, um den Ursprung zu identifizieren, doch Spock überlegte sofort, ob die wenigen Bewusstseinsverschmelzungen, die er mit Kirk und McCoy durchgeführt hatte, zu einer subtilen mentalen Verbindung geführt haben mochten.

Unmöglich.

Unmöglich, und dennoch trat Spock ans Fenster und sah zu den Sternen empor, richtete den Blick auf Sol, die Quelle für Licht und Leben auf der Erde, wo sich Jim Kirk aufhielt – und empfand dabei das Gefühl einer drohenden Gefahr …