An der Wand über dem Bett hat Kate ein DIN-A4-Blatt befestigt. Jeden Abend malt sie ein weiteres rotes Kreuz darauf, um sich selbst zu zeigen, dass sie wieder einen Tag überstanden hat. Es fühlt sich an, als zählte sie die Tage wie im Gefängnis – einem ziemlich luxuriösen Gefängnis mit einer weichen fliederfarbenen Tagesdecke auf dem Bett. Heute ist der fünfzehnte Tag, und jeder der vergangenen vierzehn kam ihr so vor, als machte sie einen Drogenentzug. Doch sie hatte noch keinen Rückfall. Und zu Nick hat sie keinen Kontakt aufgenommen, worauf sie sehr stolz ist.
In den meisten Nächten träumt Kate, dass sie mit Nick glücklich zusammenlebt. Dieses schöne Gefühl bleibt nach dem Erwachen noch einige Augenblicke erhalten, bevor die Wirklichkeit sie wieder einholt und sich wie ein schmerzhaftes Band um ihre Brust legt.
Wenn sie früher an Nicks Seite aufgewacht ist und er noch schlief, betrachtete sie unbeobachtet sein lächelndes Gesicht und fühlte sich sicher. Wenn er dann ebenfalls aufwachte und die Augen aufschlug, wurde sein Lächeln breiter, sobald er sie sah, und sie empfand eine tiefe Freude, dass sie beinahe jede Nacht neben dieser sanften Seele einschlafen durfte.
Jetzt liegt Kate an den Wochenenden im Bett und umarmt die Bettdecke. Sie legt eine Hand auf die andere und verflicht die Finger. Dabei stellt sie sich vor, sie hielte nicht ihre eigene Hand.
Komm schon: raus aus dem Bett. Sie zieht die Vorhänge auf, wird von hellem Sonnenlicht empfangen und ist entmutigt. Ein weiterer schmerzhaft schöner Sommersonntag. Drinnen zu bleiben und die Sonne nicht auszunutzen, käme ihr wie eine Kapitulation vor. Sie könnte zum Bauernmarkt gehen; nichts hindert sie daran, nur dass alles, was sie dort sehen oder riechen würde, an Nicks Abwesenheit erinnern wird. Sie hatte nicht gewusst, dass sie beim Kauf eines Apfels aus voller Kehle lachen konnte, bis sie damals im Herbst ein Dutzend Sorten kosteten und Nick jedem Apfel eine alberne Stimme gab; es war zum Schreien. Nick, Nick, Nick, Nick, Nick … Sie hat es satt, über ihn nachzudenken.
Handy und Fluppen sind zu ihren Krücken geworden. Sie verabscheut sich dafür, dass sie beiden verfallen ist. Jedes Mal, wenn sie ihr Handy hochfährt, kommt es ihr so vor, als legte sie den Finger auf die Pulsader einer Leiche, in der verzweifelten Hoffnung, dass sie wieder zum Leben erwacht.
Sie steckt fest und hat ihr Leben auf Eis gelegt, weil sie auf eine weitere Nachricht von Nick wartet. Natürlich könnte sie sich damit abfinden, dass er ein Scheißkerl ist und dass es zu Ende ist – aber das passt nicht zu dem Nick, den sie kennt. Warum sollte sie das also tun?
Sie ist fest entschlossen, nicht den ganzen Sommer mit Grübeleien über Nick zu verschwenden – was in etwa so ist, als würde sie beschließen, sich dem Sog der Schwerkraft zu widersetzen.
Ein Dutzend Briefe hat sie Nick geschrieben – im Kopf in ihrer Lunch-Pause, in der Bahn, im Bett. Manche sind nett, andere voller Wut; zum Glück hat sie keinen von ihnen abgeschickt.
Der August schleppt sich über einen endlos langen gesetzlichen Feiertag in den September hinein. Noch bleiben weitere dreißig Tage, bis die Frist verstrichen ist, die sie Nick gesetzt hat.
Sie wünscht sich verzweifelt etwas Ablenkung, aber Nick besetzt alle ihre Gedanken so gründlich, dass er wie ein weißes Rauschen alles andere aus ihrem Kopf verdrängt. Rita erklärt ihr immer wieder, sie sei selbst Herrin ihrer Gedanken, aber das ist absurd. Es ist, als versicherte sie Kate, diese habe ihren Appetit in der Gewalt – so als könnte Kate sich nach einem einzigen Bissen von einem köstlichen Stück Kuchen abwenden und es stehenlassen. Das geht einfach nicht.
Sie würde eine Niere dafür hergeben, sie braucht ja wirklich nicht zwei. Er soll anrufen, bitte, einfach nur anrufen.