Kate wacht auf, als die Haustür zugeschlagen wird: Rita ist auf dem Weg zum Sonntagstreffen ihres Bridge-Clubs. Kate stöhnt und fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Irgendwo muss es doch noch eine Spur von Feuchtigkeit geben. Ihr ganzer Körper fühlt sich an, als hätte man ihn mit Essig getränkt und dann an der Luft trocknen lassen wie eingelegtes Gemüse.
Sie braucht nicht erst auf ihr Handy zu sehen, um zu wissen, dass Nick ihr eine Nachricht geschickt hat. Natürlich hat er das, und zwar mehrfach:
Hoffentlich ist dein Kater nicht so groß wie bei Lebowski …
Bitte gib mit Bescheid, ob mit dir alles okay ist.
Nimm Kohlenhydrate zu dir. x
An welchen Aspekten des gestrigen Handygesprächs kann sie sich festklammern, um nicht in der Scham zu ertrinken, die sie gerade flutet? Nick hat vier Minuten nach dem Erhalt ihrer E-Mail angerufen – das ist ungemein ermutigend. Sie hat gebrabbelt und geheult, doch er hat nicht aufgelegt – das ist ebenfalls gut. Er hat ohne jeden Zweifel gesagt, dass sie ihm fehlt. Hätte er sie nicht gerettet, schliefe sie wahrscheinlich noch immer auf der Toilette und wäre bis Montag in dem Veranstaltungsort eingeschlossen.
Sie reibt sich die Stirn. Sie braucht Wasser und etwas zu essen. Damals, in jener grässlichen Woche unmittelbar nach dem Auffliegen von Toms Affären, hat sie Bailey jeden Abend bekocht. Bailey hat immer versprochen, ihr den Gefallen eines Tages zu erwidern: Nun, heute ist dieser Tag! Kate hat bereits die ersten Ziffern von Baileys Telefonnummer gewählt. Ein Bacon-Sandwich wäre fein. Doch mit plötzlichem Schrecken fällt ihr ein, dass sie den Lauderdale-Ladys heute Nachmittag eine Teemahlzeit versprochen hat. Schweren Herzens legt sie das Telefon wieder weg. Was für eine saublöde Idee von ihr, dieses Ehrenamt zu übernehmen – sie darf die alten Leute nicht enttäuschen, und das passt ihr jetzt gar nicht.
Warum ist das Tageslicht so grell? Kate erhebt sich langsam aus dem Bett, geht ins Bad und wäscht sich. Dann kocht sie sich einen Kaffee und bestreicht eine Scheibe Buttertoast mit Marmite. Es schmeckt erstaunlich lecker, vielleicht, weil sie dringend Salz und Kohlenhydrate braucht, vielleicht aber auch, weil sie jetzt, da Nick wieder ein bisschen in ihr Leben getreten ist, wieder normal essen kann.
Was soll sie jetzt tun? Sie hat das Gefühl, ein bisschen Macht zurückgewonnen zu haben, weil Nick als Letzter eine Nachricht geschickt hat und sie noch nicht geantwortet hat; sie muss so lange wie möglich an dieser Macht festhalten. Dringender ist allerdings der Einkauf für die Teemahlzeit. Sie will ins Karma Bakehouse in Hampstead und Challah-Brot besorgen. Es wird wunderbar weich sein, die verrückte Cecily Finn wird dieses Mal hoffentlich nichts zu meckern haben.
Es bleiben ihr dafür nur noch zwei Stunden, zwei volle Stunden hat sie bereits dafür gebraucht, aus dem Bett in ihren Morgenmantel zu kommen. Sie muss sich beeilen.
Als sie im Bus nach Hampstead vor sich hin döst, piepst ihr Handy: Nick. Seine vierte Nachricht an diesem Tag:
Hast du Lust auf ein Wurstsandwich, um den Alkohol aufzusaugen?
O ja, und wie! Sie könnte jetzt aus dem Bus steigen, ein Taxi zu seiner Wohnung nehmen, das Sandwich mit Ketchup und Senf essen, sich auf sein Sofa legen und sich von ihm das Haar streicheln lassen, bis sie einschläft. Dort findet sie alles, was sie sich je im Leben gewünscht hat – aber nein, sie wird den Omas ihre Teemahlzeit zubereiten, weil sie es versprochen hat, und außerdem: Wie kommt Nick auf den Gedanken, er könnte ohne jede Buße einfach so wieder Teil ihres Lebens werden?
Im Empfangsbereich des Lauderdale House wartet Kate mit jungen und älteren Paaren und dem einen oder anderen Baby, das mitgenommen wurde, um seine Urgroßmutter kennenzulernen. Die meisten Besucher haben Blumen oder Kuchen dabei, und es geht lebhaft zu, da die Leute vertraut miteinander plaudern.
Infolge der Familienbesuche ist Kates Publikum heute sogar noch kleiner, nur sieben Damen – was angesichts ihrer angegriffenen Verfassung vielleicht ganz gut ist. Bessie ist wieder dabei und strahlt sie aus der ersten Reihe an, und auch Maud ist gekommen, diesmal mit fliederfarbenem Lidschatten, mit dem sie aussieht wie ein Paradiesvogel.
Kate hat gehofft, Cecily würde ihre Familie empfangen, aber da hat sie Pech gehabt – die Lady sitzt wieder in der letzten Reihe, diesmal in einer weißen Bluse, so schneeweiß wie ihr Haar, und in einer marineblauen Hose. Sie hebt Kate das Kinn entgegen und runzelt die Stirn, was ihrem Gesicht, das bereits mehr Falten als Haut hat, die hundertste Runzel hinzufügt.
Kate und Nick haben einmal in einem schicken Pub gegessen, wo man Minitoastschnitten aus Challah-Brot gekrönt mit einem Wachtel-Spiegelei servierte. Kates feinmotorische Fähigkeiten wären dem Aufschlagen eines Wachteleis im Moment definitiv nicht gewachsen, aber sie kann mit einem Sandwichtoaster umgehen. Das Challah hat sie bekommen und bei Sainsbury’s guten Schinken und Käse. Sie legt ihre Vorräte auf dem Tisch ab. Nun muss sie nur noch das Brot aufschneiden, beide Seiten mit Butter bestreichen, es mit Schinken und Käse belegen, zwei Minuten toasten und dabei einmal wenden und es dann in leckere Quadrate schneiden – diese fünf Schritte würde selbst Rita schaffen.
«Bekommen wir keine Mochi?», fragt Maud, bevor Kate auch nur ausgepackt hat. «Sie haben es versprochen, Sie böses Mädchen.»
Kate lächelt verlegen. «Heute gibt es etwas Würziges. Ich habe nach einem Mochi-Rezept gesucht, aber man braucht dafür eine bestimmte japanische Rote-Bohnen-Paste, die schwer zu bekommen ist. Wahrscheinlich wäre es einfacher, Ihren Enkel zu bitten, Ihnen welche zu kaufen.»
«Dafür hat er viel zu viel zu tun! Er ist sehr erfolgreich – seine Firma beliefert die feinsten Hotels mit Wein. Und da er jetzt die Hälfte der Zeit die Kinder hat, würde mir im Traum nicht einfallen, ihn um so etwas zu bitten.»
Kate bemerkt, dass Cecily sich demonstrativ der Wand zugekehrt hat.
«Es war einfach nur ein Gedanke», sagt Kate und legt das Brot auf den Tisch.
«Meine älteste Urenkelin hat ein Stipendium für das Mayhew bekommen», fährt Maud fort. «Außerdem spielt sie Tennis auf Bezirksebene. Sie ist in allem phantastisch.»
«Außer darin, dich zu besuchen», sagt Cecily mit glucksendem Lachen. Vielleicht amüsiert sie sich, weil das Mayhew ein Tierheim und keine Uni ist.
«Das liegt daran, dass ihre Mutter es ihr so schwermacht», blafft Maud. «Ich habe meinem Sohn gesagt, dass genau so etwas passiert, wenn man unter Niveau heiratet.»
«Verzeihung! Ich vergesse immer wieder, dass du königliches Blut hast», sagt Cecily.
Oh nein, nicht schon wieder. «Äh, Bessie, haben Sie Kinder?», fragt Kate schnell.
«Aber natürlich», antwortet Bessie und setzt sich auf. «Mein Sohn wohnt mit seiner zweiten Frau in Kalifornien und hat Zwillinge, die beide studieren. Meine Tochter lebt in London und hat mich gestern besucht. Sie und ihr Mann haben keine Kinder. Sind Sie verheiratet, mein Herz?»
«Nein», sagt Kate. Sie greift nach dem Cheddar-Cheese und stellt genervt fest, dass sie hochrot anläuft. «Ich … bin derzeit mit niemandem zusammen.» So. Jetzt ist es heraus.
«Sie gehören doch nicht zu diesen streitsüchtigen Feministinnen, oder?», fragt Maud. «Oder sind Sie eine dieser Frauen, die andere Frauen verachten, weil sie sich für die Mutterschaft entschieden haben?» Maud wirf Cecily einen eindringlichen Blick zu.
«Du unerträgliche Schreckschraube», sagt Cecily kopfschüttelnd. «Fürchterlich!»
«Himmel, nein, ich wünsche mir nichts mehr als einen Partner», wirft sich Kate dazwischen. «Ich hätte sehr gern wieder eine Beziehung, ich war … na ja, es ist ein bisschen … es ist nichts, womit ich Sie alle hier belasten sollte.»
Während Kate die Ecke zum Öffnen der Folienverpackung sucht, um den Cheddar-Cheese auszupacken, spürt sie, dass Cecily sie aufmerksam ansieht. Kate wird heiß, während sie mit dieser einfachen Aufgabe kämpft, bis sie schließlich die Verpackung mit einem Messer aufschneidet.
«Ach, mein Herz, Sie haben noch Zeit. Heutzutage machen die jungen Frauen alles so viel später.»
«Bestimmt nimmt es noch eine erfreuliche Wendung», sagt Kate und schluckt die Traurigkeit herunter, die plötzlich in ihr aufsteigt.
«Die Hoffnung, von der ich träumte, war ein Traum, war nur ein Traum …», summt Cecily in der hinteren Reihe in einer Art Singsang. «Und jetzt wach ich auf, ohn’ Trost, verbraucht und alt.»
Ziemlich genau so fühlt Kate sich gerade – das Zitat ist ein Zufallstreffer, den sie wirklich nicht braucht.
«‹Mirage› … Rossetti …», sagt Cecily.
Die Alte plappert wild und unzusammenhängend drauflos; es bringt nichts, irgendeinen Sinn heraushören zu wollen. Stattdessen verwendet Kate ihre Aufmerksamkeit darauf, das Brot mit Butter zu bestreichen. «Ich habe mich also für Challah-Brot …»
«Es reicht bei weitem nicht an das von Großvater heran», sagt Cecily.
«Es ist aus einer Art Brioche-Teig gemacht und sehr …» Kate nimmt sich ein Glas Wasser; ihr Kopf arbeitet heute schrecklich langsam. Kopfschmerzen machen sich breit. «Vielseitig. Jawohl. Los geht’s, ab damit in den Sandwichtoaster. Ladys, Mrs. Gaffney sagte, einige von Ihnen kochen auch manchmal selbst?»
«Gelegentlich mache ich mir eine Suppe in der Mikrowelle warm», sagt Bessie. «Oder ein Ei, wenn ich etwas Leichtes möchte.»
«Mrs. Finn?», fragt Kate beklommen.
«Warum die Mühe? Ein Bissen ist so gut wie jeder andere, wenn man im Mund nichts schmeckt. Kennen Sie Eliot?»
«Eliot … Ich glaube kaum, dass ich ihn kenne», sagt Kate und bemüht sich, den Käse daran zu hindern, zwischen den Brotscheiben herauszuquellen. «Arbeitet er in der Küche?»
«George Eliot.»
«George Eliot, nein, den habe ich noch nicht getroffen.»
«Du meine Güte, Sie sind ein Schwachkopf. Schlimmer noch, ein Schlappkopf!», sagt Cecily, und der Gedanke scheint sie enorm zu belustigen.
«Na wunderbar, okay, es ist Zeit, die Sandwiches zu wenden», sagt Kate. Ihr Kopf fühlt sich an, als würde er gleich zerplatzen. Sie könnte jetzt auf Nicks Sofa sitzen, statt der Punchingball für diese verrückte alte Kuh zu sein. Sie ist ins Lauderdale House gekommen, um Gedanken an einen schwierigen Mann zu verdrängen – und nicht, um diesen schwierigen Mann gegen eine schwierige Frau einzutauschen.
Die Toastsandwiches sind überraschend gut geraten. Bessie Burbridge erklärt, es seien die besten, die sie je gekostet habe. Maud Rappapot isst zwei davon und spricht nicht mehr von Mochi. Olive Paisner beißt winzige Häppchen ab und mümmelt wie eine Maus. Am Ende isst sie vier Stück. Cecily sitzt schweigend am Tisch.
«Wollen Sie nicht wenigstens eines probieren, Mrs. Finn?», fragt Kate. «Das Essen soll doch nicht verderben.»
«Sie sind nicht salzig genug.»
«Warum kosten Sie das Essen nicht erst, bevor Sie sich eine Meinung bilden?»
«Meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher, aber ich weiß: Challah enthält im Verhältnis weniger Salz als andere Brotsorten – nicht so wenig wie das Brot, das wir in der Toskana gegessen haben, aber trotzdem … Und billiger Schinken und Käse aus dem Supermarkt bieten keine angemessene kristalline salzige Grundstruktur. Ich bin siebenundneunzig und habe bei Tausenden von Anlässen Sandwiches gegessen, auf jedem Kontinent dieser elenden Erde. Daher brauche ich Ihre Sandwiches nicht zu probieren, um mir eine Meinung zu bilden, da meine Meinung auf Beobachtung und siebenundneunzigjähriger Erfahrung beruht.»
«Schön. Dann salzen Sie doch einfach nach.»
«Jetzt sind sie lauwarm.»
«Mrs. Finn …»
«Ein Käsetoast de luxe hätte genug Salz. Vom Bacon. Seite zweihundertachtundvierzig, glaube ich.»
«Welchen Buches?»
«Auf jedem Kontinent der Erde?», unterbricht Maud sie, deren scharlachroter Lippenstift sich zu einem boshaften Lächeln kräuselt. «Du warst noch nicht in der Antarktis, du Lügnerin, Cecily Finn.»
Cecily holt tief Atem, als wäre ihre Geduld noch nie so strapaziert worden. «Wir haben im Frühjahr 1973 King George Island besucht, das zu den Südlichen Shetlandinseln gehört. Dort hat man uns eigenartiges Essen serviert, möglicherweise ein Pinguin-Sandwich, aber wir fanden es unhöflich, unsere Gastgeber danach zu fragen. Wir waren nicht wie gewisse andere Leute, die nicht begreifen, was unverschämte und vulgäre Fragen sind.»
«Aber, Cecily, gehören die Shetlandinseln denn nicht zu Schottland?», fragt Bessie, die verwirrt die Stirn runzelt.
Cecily blickt durch Bessie hindurch, als wäre sie unsichtbar.
«Natürlich gehören die Shetlandinseln zu Schottland», erklärt Maud. «Harold und ich hatten einen Freund, der dort ein Schloss besaß.»
«Die Südlichen Shetlandinseln», zischt Cecily. «Du bist ein unintelligentes Geschöpf, Maud. Grrau-en-haft», sagt sie und rollt das Wort im Mund herum wie ein Minzbonbon.
«Ladys, bitte!» Kate hebt die Hand in dem Versuch, die Gruppe zu beruhigen. «Bitte, seien wir höflich zueinander. Mrs. Finn», fährt sie fort und wendet sich mit einem bittenden Blick an Cecily. «Ich würde wirklich gern etwas für Sie zubereiten, das Sie nächstes Mal tatsächlich essen.»
Cecily zuckt mit den Schultern. «Für mich ist das von wenig Belang – aber wenn Sie darauf bestehen, könnten Sie es mit einem dunklen Schokoladensoufflé versuchen.»
Kate nickt. «Ein Schokoladensoufflé. Mit einer kristallinen salzigen Grundstruktur?»
Cecily zieht eine Augenbraue hoch.
«Sind alle damit zufrieden?», fragt Kate.
Die anderen nicken begeistert. Kate wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr – ah, Gott sei Dank.
Sie packt ihre Sachen zusammen, während die Damen den Speisesaal verlassen. Da Kate jetzt nicht mehr abgelenkt ist, kehren ihre Gedanken sofort zu der Frage zurück, wie sie Nick antworten soll. Sie wendet sich zum Gehen, doch Cecily hat ihre Hände auf den Tisch gelegt und macht keine Anstalten aufzustehen – den intensiven Blick ihrer braunen Augen hat sie auf Kate gerichtet.
«Er liegt natürlich hier ganz in der Nähe begraben», sagt Cecily. «Auf dem Highgate Cemetery.»
«Entschuldigung, Mrs. Finn, wer?»
«George – der gute, kluge George.»
«Ah, richtig. War George Ihr Ehemann?»
«Junge Dame, haben Sie Alzheimer?»
«Ich?»
«Sind Sie geistig minderbemittelt? Ich rede von George Eliot!»
«Tut mir leid, ich war abgelenkt. Sie hatten ihn schon einmal erwähnt.»
«Herrr im Himmel!», blafft Cecily.
Am besten, sie stimmt die alte Schachtel milde. «Das ist schön. Der Highgate Cemetery liegt ganz in meiner Nähe.»
«Ich hoffe, mich selbst in ein oder zwei Wochen dort zu befinden.»
«Oh, nehmen Sie an einer Friedhofstour teil?»
«Nein. Tot. In der Erde. Die sterbliche Hülle: abgeworfen.»
«Bis dann also», sagt Kate und schwingt sich die Handtasche über die Schulter. «Bis nächste Woche, Mrs. Finn.»
«Nicht, wenn ich tot bin», sagt Cecily.
«In diesem Fall komme ich zum Highgate und erweise Ihnen die letzte Ehre.»
«Touché», sagt Cecily, und obgleich Kate sich nicht zu ihr umwendet, könnte sie schwören, dass Cecily lächelt.
Kate möchte jetzt nichts wie weg, doch als sie an Mrs. Gaffneys Büro vorbeigeht, ruft diese ihren Namen. Kate hofft, dass sie nicht mehr nach Alkohol riecht, umso mehr, als es bei dem Vorstellungsgespräch dieses peinliche Missverständnis gab.
«Wie war das zweite Mal?», fragt Mrs. Gaffney mit kraus gezogener Nase. «Sie sehen … müde aus.»
«Ich bin gestern spät ins Bett gekommen …»
«Oh. Aber Sie genießen Ihr ehrenamtliches Engagement?»
«Genießen?», fragt Kate, bevor sie sich auf die Zunge beißen kann.
«Nein?»
«Es ist ein wenig herausfordernder, als ich erwartet hatte. Das ist alles.»
«Falls Sie mit dem Gedanken spielen, uns im Stich zu lassen, muss ich Sie doch sehr bitten, Ihrer Zusage bis Ende September treu zu bleiben», sagt Mrs. Gaffney streng.
«Ich hatte nicht vor zu gehen.» Einfach Weggehen war nie Kates Stil.
«Na gut.» Mrs. Gaffney gibt mit einem angedeuteten Nicken das Zeichen, dass das Gespräch zu Ende ist.
«Die Sache ist die, Mrs. Gaffney, eine der Dame verhält sich ein wenig … störend.»
«Aha, eine Gegnerin! Und so bald schon. Vermutlich ist es Mrs. Rappapot, die mal wieder die Rassistin heraushängen lässt?»
«Maud? Nein, es ist die Dame, die dement ist, Mrs. Finn. Ich sage das nicht gern, da ich ja weiß, dass sie nichts dafür kann, aber sie kann sich recht … unangemessen verhalten.»
«Mrs. Finn? Das weiße Haar seitlich gebürstet, große braune Augen, und sie lächelt nur, wenn sie eine der anderen Damen verbal aufgespießt hat?»
«Die meine ich. Sie setzt mir zu. Heute hat sie mich einen Schlappkopf genannt. Und, äh, geistig minderbemittelt. Letztes Mal hat sie mich als Dummkopf bezeichnet. Ich nehme es nicht persönlich, denn ich habe kürzlich einen Dokumentarfilm gesehen – ich weiß, dass die Krankheit aus ihr spricht. Demenz führt dazu, dass Leute Dinge sagen, die sie nicht meinen.»
«Cecily ist nicht dement. Sie sagt immer ganz genau das, was sie meint.»
«Oh. Aber was sie murmelt klingt unzusammenhängend und sinnlos.»
«Wahrscheinlich sind es Gedichte. Oder Zitate. Cecily ist hier die intelligenteste Bewohnerin, und gerade das ist ihr Problem. Sie langweilt sich zu Tode, ist aber zu stolz, um sich helfen zu lassen. Sie sitzt lieber in ihrem Zimmer und tut gar nichts, als ihre Abhängigkeit einzugestehen, und so beschäftigt sie sich damit, andere zu provozieren.»
«Sind Sie sicher, dass sie nicht verwirrt ist?»
«Sie ist extrem intelligent und hat ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis. Ihre größte Angst ist es, ihre Fähigkeiten zu verlieren, aber tatsächlich ist sie bestens in Form, abgesehen von den Augen und leichtem Parkinson.»
«Oh. Sollte ich ihr in diesem Fall antworten oder ihre Bemerkungen einfach übergehen?»
«Das liegt ganz bei Ihnen. Wenn sie Schwäche spürt, greift sie an. Was Sie also auch tun, seien Sie nicht schüchtern.»
Erst auf dem Heimweg wird Kate klar, dass sie natürlich weiß, wer George Eliot ist: Sie haben in der Oberstufe Middlemarch durchgenommen. Es ist unfair, Cecilys Bemerkungen waren aus dem Zusammenhang gerissen, und Kate hatte gerade versucht, sich auf ihre Sandwichtoasts zu konzentrieren. Was hat Cecily noch einmal gesagt?
Kate googelt danach und findet schließlich das Zitat aus Adam Bede – ‹ein Bissen ist so gut wie jeder andere, wenn man im Mund nichts schmeckt›. Eigenartig. Genau so hat Kate sich neulich gefühlt.
Sie googelt nach Eliots Grab. Es liegt tatsächlich auf dem Highgate Cemetery – das war nicht schwer zu erraten, dort liegen sie doch alle. Kate googelt die Grabinschrift:
Einer jener unsterblichen Toten,
die in denen weiterleben,
deren Gedanken durch sie besser wurden.
Kate bleibt unvermittelt stehen. Die Toten, die in denen weiterleben, deren Gedanken durch sie besser wurden. Diese Zeile erinnert sie an ihren Vater. Er ist seit zwanzig Jahren tot – länger, als ihre Zeit mit ihm gedauert hat. Sie hat gelernt, mit der schrecklichen Leere zu leben, die sein Tod hinterlassen hat; was blieb ihr auch für eine Wahl? Kostbaren Trost hat sie in dem gefunden, was er in ihr selbst von sich vererbt hat. Heute war ein ausgezeichnetes Beispiel: Der beste Teil ihrer selbst, der Teil, der dafür gesorgt hat, dass sie zum Lauderdale House ging, statt unter der Bettdecke zu bleiben, kommt von ihrem Vater. Sie hat seine Stimme im Ohr, wie er sie aufforderte, immer gut und großzügig zu sein.
Vielleicht weiß Cecily doch das eine oder andere. Kate würde es niemals zugeben, aber sie freut sich fast schon auf das, was Cecily ihr beim nächsten Mal an den Kopf werfen wird.