Martin hat Kate die ganze Woche Nachrichten geschickt. Er wollte sie schon am Montag sehen, aber da hatte sie Bailey bereits versprochen, auf die Kinder aufzupassen. Seitdem hat sie jeden Abend bis Mitternacht an ihrem Text für Devron gearbeitet. Schließlich verabreden Martin und sie sich für Samstag, und Kate vergleicht unwillkürlich, wie lange Nick gebraucht hat, um sie zum ersten Mal einzuladen, und wie rasch und beharrlich Martin sich ins Zeug legt.
Es ist ein wunderschöner Frühherbstnachmittag, die Sonne am wolkenlosen Himmel scheint noch kräftig. Sie treffen sich vor der Tate Modern. Statt Blumen hat Martin ihr die Hochglanzbeilagen einiger Zeitungen mitgebracht und sie zu einer schmal zulaufenden Tüte zusammengerollt. Kate ihrerseits hat für ihn ein mit einem Autogramm versehenes Paket von Fletchers’ Schweinefleisch-Pies dabei.
Er hält es ans Herz: «Ich werde sie immer hochhalten.»
«Das würde ich dir nicht raten – du isst sie am besten bis Montag.»
Er hat eine Art zu lächeln, die sein attraktives Gesicht einfach hinreißend aussehen lässt. Es bereitet Kate immer noch Schuldgefühle, dass sie diesem Date zugestimmt hat, und ihr schlechtes Gewissen wächst, weil sie ihn so attraktiv findet.
Im Museum geht Martin auf direktem Weg zu den amerikanischen Klassikern, mit raschem Schritt und ohne irgendwo länger zu verweilen. So ungeduldig Kate in der letzten Zeit geworden ist, so sehr gefällt ihr Martins Verhalten jetzt. In einem Raum bleibt er vor einem Porträt stehen, das Warhol von Debbie Harry gemalt hat, und nickt anerkennend. «Diese Wangenknochen … und der Lidschatten. Eine solche Unbekümmertheit», sagt er.
«Letzten Monat habe ich sie auf der Hochzeit eines Freundes gesehen.»
«Wirklich? Dann hast du hoffentlich ein Selfie mit ihr geschossen?»
«Aber nein, ich würde niemals einen Promi in der Öffentlichkeit belästigen.»
«Aber das musst du, es ist schließlich Debbie Harry. Okay, hör mal», er zieht Kate näher und flüstert ihr ins Ohr: «Lenk diesen Wächter da drüben ab, am besten tanzt du eine kleine Mazurka. Ich nehme unterdessen dieses Bild von der Wand, und wenn ich dir zunicke, gibst du Fersengeld. Nein? Na schön, dann lass es uns wenigstens fotografieren.» Er lenkt sie sanft zur Leinwand und legt den Arm um sie. «Sag Cheese.»
Er zeigt ihr die Aufnahme und lächelt. «Wir sehen phantastisch aus zusammen. Du hast diese winzige Sommersprosse – genau … da.» Er zieht die Augenbrauen zusammen und drückt sanft gegen ihre Wange. «Sie ist total sexy.»
Kate errötet und tritt hastig zur nächsten Leinwand, ein wenig überwältigt von seiner Aufmerksamkeit.
«Vorsitzender Mao», sagt Martin. «Der perfekte Name für ein Kätzchen, vor allem für eines, das ständig vor einem sitzt.»
Im Juli hatten Nick und Kate sich darüber unterhalten, dass sie sich eine Katze anschaffen wollten, und über Namen nachgedacht. Schließlich hatten sie sich für Sir-Mix-A-Lot entschieden, weil es ein absurder Name für eine Katze war. Die Erinnerung lässt plötzlich einen dumpfen Schmerz in Kates Brust aufsteigen.
«Ich wette, du stehst auf Katzen», sagt Martin.
«Das stimmt.»
«So ist das bei Schützen, meine liebe Sternzeichengenossin.» Er schnippt mit den Fingern und zwinkert ihr zu. «Okay – das war genug Kultur für einen einzigen Tag – hauen wir ab.»
Er greift nach ihrer Hand. Nick und sie hatten sich daran gewöhnt, die Finger beim Händchenhalten eng miteinander zu verflechten, sodass sie wie verschmolzen wirkten, während Martin ihre Hand als Ganzes umfängt. Es erinnert Kate daran, wie Kinder bei Schulausflügen in Zweierpaaren gehen, und kommt ihr nicht richtig vor. Sie muss aufhören, die Männer zu vergleichen, doch dass Martin ihre Hand hält, fühlt sich irgendwie zu intim an.
Martin führt sie an der South Bank entlang, über die Waterloo Bridge und dann durch die schmalen Gassen Sohos. «Ich treffe mich um 20.30 Uhr mit meinem Bruder im Groucho Club, aber möchtest du nicht vorher etwas essen? Nehmen wir doch einen Happen.»
Zehn Minuten später sitzen sie an einem Ecktisch bei Kettner’s, Martin so eng an sie gedrängt, dass sein Bein das ihre wärmt.
«Was möchtest du trinken?», fragt er. «Einen Cocktail? Oder Wein?»
«Wein vielleicht?»
«Ich trinke keinen Alkohol, aber bestell, worauf du Lust hast.»
«Oh, wenn du nichts trinkst, will ich auch nichts.»
«Aber du musst, mein Herz, bitte. Ich genieße im Geist mit.» Er besteht darauf, Kate ein Glas zu bestellen, und legt ihr dann lässig die Hand aufs Knie, während sie die Speisekarte überfliegen. «Ich nehme das Steak. Das Würstchen mit Kartoffelbrei soll auch sehr lecker sein.»
«Hast du es probiert?»
«Ich esse keine Kohlenhydrate.»
«Was denn, nie?»
Er zuckt mit den Schultern. «Sie machen dick, oder?»
«Ich esse immer Kohlenhydrate», sagt Kate und bestellt Brathähnchen mit Fritten. «Du isst also niemals Pasta? Oder Pizza? Oder Kartoffelchips?»
«Spricht das gegen mich?», fragt er lachend.
«Sag mir wenigstens, dass du Butter isst.»
«Keine Butter, kein Zucker.»
«Gibt es dann überhaupt noch etwas, was man essen kann?»
«Proteine?»
Kate lächelt, aber eine Stimme in ihrem Kopf schreit: Was für ein mäkeliger Esser. Sie schilt sich. Ich esse keine Kohlenhydrate ist wahrscheinlich besser als ich liebe meinen Fernseher genauso sehr wie dich …
«Erzählst du mir von dieser alten Dame, die du besuchst?», fragt er, legt den Kopf in die Hand und sieht Kate tief in die Augen.
«Mrs. Finn? Sie ist siebenundneunzig. Auch wenn ihr Gesicht unglaublich faltig ist, ist sie hellwach und wirkt manchmal sehr viel jünger. Wenn sie müde ist, sieht sie allerdings uralt aus. Sie liebt Bücher. Und ihr Gedächtnis, du meine Güte, sie kann mehr Gedichte zitieren, als ich je gelesen habe.»
«Ich erinnere mich ja kaum, was ich zum Frühstück gegessen habe.»
«Proteine», sagt Kate, und Martin lacht. «Mrs. Finn kann manchmal ein bisschen widersprüchlich sein. – Wir unterhalten uns zum Beispiel gerade nett, da keilt sie plötzlich gegen mich aus.» Kate macht ein verwirrtes Gesicht. «Ich glaube, sie hat Depressionen.»
«Aber siebenundneunzig – ein langes Leben. Ich bin bereit, mit siebzig abzugehen.»
Kate zuckt mit den Schultern. «Ich denke, es hängt von der Lebensqualität ab; ob man Kinder hat, Enkel, einen Sinn im Leben. Sie langweilt sich – und sie kann nicht mehr richtig schmecken und sieht nicht genug, um zu lesen. Sie hat also ihre beiden Lieblingsbeschäftigungen verloren. Außerdem war sie mehr als sechzig Jahre verheiratet. Ihr Mann fehlt ihr.»
Martin legt mitfühlend den Kopf schief. «Du heiterst sie offensichtlich auf.»
«Das bezweifle ich. Sie ärgert sich praktisch jedes Mal über mich, wenn ich den Mund aufmache.»
«Was machst du mit ihr?»
«Machen?»
«Schiebst du sie im Rollstuhl durch Museen? Gehst du mit ihr spazieren? Oder ist sie eine dieser hippen Neunzigjährigen, wie man sie im Netz sieht, mit großen Plänen?»
«Absolut nicht. Cecily bewegt sich keinen Zentimeter aus ihrem Sessel. Wir unterhalten uns einfach nur. Sie erzählt mir aus ihrem Leben und kritisiert dann das meine. Ich glaube, ich bin für sie so eine Art Projekt. Fairerweise muss ich zugeben, dass dieser andere Blickwinkel mir guttut, wenn ich mich die ganze Woche mit Annalex darüber gestritten habe, wer die Aufgabe hat, den Verpackungstext des Yorkshire Puddings zu entwerfen. Natürlich muss man die Worte ‹Prima Pudding› verwenden, aber im Prinzip gehört es in ihren Bereich.» Kate verdreht die Augen, weil das ein so kleinliches Hickhack ist.
«Und wie lange arbeitest du schon bei Fletchers?»
«Seit einer Ewigkeit. Falls ich die derzeitige Restrukturierung überstehe, werden es im nächsten Frühjahr zwanzig Jahre sein», antwortet Kate, und beim Gedanken daran, dass sie vielleiht den einzigen Arbeitsplatz verlieren könnte, den sie je hatte, kehrt das Gefühl ängstlichen Unbehagens zurück.
«Du hast dein ganzes Berufsleben im selben Job verbracht? Machen Leute, die keine Hypothek am Bein haben oder Schulgebühren bezahlen müssen, das heutzutage noch?»
«Leute wie ich schon …», antwortet Kate und greift nach ihrem Weinglas.
«Was bedeutet das: Leute wie ich?»
«Ich habe kein Studium und keine Ausbildung», antwortet Kate und wird rot. «Ich bin nicht ehrgeizig. Ich habe keine Superkräfte.»
«Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt», sagt Martin und streichelt sein Kinn. «Du hast Angst vor Risiken. Und das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass du nie geheiratet hast.»
Nein – der Grund dafür ist, dass sie eine Folge von ungewöhnlich schlechten Entscheidungen getroffen hat.
«Es gibt keine andere Erklärung», fährt Martin fort und wirft die Hände in die Luft. «Du bist attraktiv, du bist witzig, du lachst über meine Scherze – warum sonst sollte eine so phantastische Frau noch auf dem Markt sein?»
«Auf dem Markt», sagt sie und versetzt ihm einen Knuff. «Das klingt so, als wäre ich ein Stück Vieh. Warum bist du denn nicht verheiratet?»
«Ach», sagt er, krümmt sich und führt in einer entschuldigenden Geste beide Fäuste zum Mund. «Hatte ich das nicht erwähnt. Ich bin es …»
«Soll das ein Scherz sein?»
«Ich bin nur noch im gesetzlichen Sinne verheiratet. Wir haben uns schon vor Monaten getrennt und warten nur noch auf die Scheidungspapiere.»
«Oh. Bist du dir sicher?»
Er winkt mit den Fingern der linken Hand. «Ja, ziemlich sicher. Also, Kate – wer ist deine beste Freundin?»
«Bailey, wir sind seit unserem vierten Lebensjahr befreundet.»
«Und wie lautete dein Spitzname in der Schule?»
«Stammt das von einer BuzzFeed-Liste: Acht Fragen, die man beim ersten Date stellen sollte?»
«Verdammt.» Er zieht einen Zettel aus der Hosentasche und sieht kurz darauf, bevor er ihn zerreißt und über die Schulter wegwirft. «Aufgeflogen.»
«Das war nicht …?»
«Ich bin mir ziemlich sicher, dass das meine Quittung von der Reinigung war. Oder das Heilmittel gegen Ebola», antwortet er, was Kate wieder für ihn einnimmt.
Ihr Essen kommt, und während sie essen, reden und flirten sie weiter. Martin stellt ihr dabei mehr Fragen als Nick in ihrem ersten Vierteljahr. Er versucht, sie kennenzulernen, aber es strengt sie ein bisschen an, und sie sehnt sich nach der Vertrautheit mit Nick, der manchmal ihre Sätze für sie beendet, weil sie sich so gut kennen.
Nach dem Essen besteht Martin darauf zu zahlen. Und jetzt stehen sie auf der Straße, um sich voneinander zu verabschieden.
«Ich hatte einen tollen Abend», sagt Martin und strahlt sie an.
«Ich auch», antwortet Kate und lächelt bei der Erkenntnis, dass es stimmt.
«Also … soll ich dich anrufen, wenn ich fertig bin? Ich kann auf dem Heimweg bei dir vorbeischauen.»
«Heute Nacht? Ich wohne bei meiner Mum – vorübergehend. Und außerdem werde ich wahrscheinlich schlafen.»
«Ah ja, nein, natürlich. Ist deine Mum abends meistens zu Hause?»
«Ich komme mir so vor, als wäre ich wieder vierzehn», sagt Kate und bedeckt peinlich berührt das Gesicht.
Martin verzieht den Mund. Er wirkt enttäuscht. «Ich würde dich nächste Woche gern zum Dinner einladen, aber meine WG-Partnerin ist … na ja, sie hat es nicht so gern, wenn ich Gäste mitbringe.»
Kate nickt mitfühlend. «Meine alte WG-Partnerin war genauso.»
«Okay, dann sagen wir also nächsten Samstagnachmittag? Wie wäre es mit einem Picknick, falls das Wetter gut bleibt?»
«Ich könnte etwas zu essen machen …», bietet Kate an, die an Cecilys Anweisungen denkt. «Würdest du Kohlenhydrate essen, wenn ich Sandwiches mache, oder leckst du dann nur den Belag ab und lässt das Brot liegen wie so ein Supermodel bei Bikini-Aufnahmen?»
«Ich esse mit Vergnügen alles, was du zubereitest. Weißt du was?» Er beugt sich vor. «Ich finde dich wirklich phantastisch.»
Er beugt sich noch weiter vor und küsst sie zärtlich. Ihr Herz schlägt rasend schnell, aber sie ist so durcheinander, dass sie nicht spürt, ob ihr Körper für oder gegen diesen Kuss ist.
«Ah.» Er seufzt. «Du bist wirklich verdammt sexy. Okay, ich muss jetzt los. Samstag sehen wir uns zum Sandwich-Ablecken.» Er zwinkert ihr zu und verschwindet.
Im Bus nach Hause lehnt Kate den Kopf gegen das Fenster und beobachtet, wie die Lichter der Tottenham Court Road vorbeihuschen. Bei ihrem ersten Date trafen Nick und sie sich um 19 Uhr und waren schließlich die Letzten, die um Mitternacht vom Wirt hinausgeworfen wurden. Danach hatten sie auf der Straße gestanden, Nick hatte sich verabschiedet und war davongeeilt, ohne ihr auch nur ein Küsschen auf die Wange zu geben. Sie hatte in jener Nacht nicht schlafen können, weil sie so verwirrt war – war das gerade ein großartiges Date oder ein totaler Reinfall?
Sie sollte sich wahrscheinlich erneut mit Martin treffen, denn solange Nick sich nicht mit einem überzeugenden Ergebnis zurückmeldet, ist sie single. Martin mag ein bisschen viel Gas geben, aber er ist witzig, charmant und interessant – und, wichtiger als alles, er interessiert sich für sie.