«Ist das Geburtstagskind da?», fragt Kate und steckt den Kopf durch die Tür. Zusammengesunken sitzt Cecily in ihrem Sessel. Sie sieht gebrechlicher aus als vor einem Monat, ihre Wangenknochen zeichnen sich stärker ab, und die Haut an ihren Schläfen ist so dünn, dass Kate jede Ader sehen kann.
«Sie sind wer …?», fragt Cecily hoheitsvoll.
«Ich bin da, und der Tee kommt gleich – das ist das Einzige, was zählt. Ich habe Sie vermisst. Wie geht es Ihnen, Mrs. Finn?»
«Noch nicht tot», antwortet Cecily mit zusammengekniffenen Lippen, aber sie muss sich Mühe geben, um nicht zu lächeln.
«Tut mir leid, dass Sie ins Krankenhaus mussten.»
«Mit mir ist alles in Ordnung, nur ein kleiner Husten», sagt Cecily und schaut auf die Tupperdose in Kates Hand. «Was ist da drin?»
«Ein Geburtstagsgeschenk.»
«Ein bisschen verfrüht, oder? Mein Geburtstag ist im Mai.»
Kate stockt und lacht dann. «Ich Dumme. Na, dann spare ich mir die Karte. Ich wollte gerade sagen, dass Ihr Geburtstag zwei Wochen vor meinem liegt, aber anscheinend hat Mrs. Gaffney sich im Datum geirrt», erwidert sie, zeigt Cecily den Inhalt der Dose, nimmt eine Packung Cracker aus ihrer Handtasche und legt ein paar von ihnen großzügig aus.
Cecily schaut auf den fiskepudding, dann auf Kate und dann wieder auf den fiskepudding.
«Mit Hecht gemacht und mit viel Salz, Mrs. Finn – keine Makrele weit und breit.»
«Oh», sagt Cecily und schluckt kräftig. «Das ist … ja, ich vermute, das ist irgendwelchem ekligen Zeug vorzuziehen, das diese Frau geplant hat.»
«Und ich habe Ihnen einen Toffee-Sahne-Kuchen mitgebracht – ich weiß, dass Sie gern Toffees naschen. Ich arbeite inzwischen in einem Café, das köstliche Kuchen anbietet.»
«Was haben Sie gemacht?»
«Tja, in diesem Monat ist viel passiert.»
«Statt der Karotten oder zusätzlich zu den Karotten?»
«Nein – mit den Karotten ist Schluss. Ich muss zugeben, dass Sie mit diesem Job recht hatten.»
«In anderer Hinsicht hatte ich auch recht.»
«Mrs. Finn», sagt Kate, ohne auf den Kommentar einzugehen. «Ich möchte Sie um einen kleinen Gefallen bitten.»
«Mich?»
«Würden Sie mit der Geschichte fortfahren, wie Sie zur Schriftstellerin geworden sind? Bei unserer letzten Begegnung hatten Sie mir von Ihren europäischen Abenteuern mit Samuel erzählt.»
«War ich schon im Krankenhaus?»
«Wegen Ihres Hustens?»
«Nein, in den dreißiger Jahren.»
«Sie hatten keinen Krankenhausbesuch erwähnt, nein.»
«Lassen Sie uns ein Stück davon essen», sagt Cecily und deutet auf den Kuchen. Kate bedient sie, während Cecily sich in ihrem Sessel zurücklehnt und sanft die Fingerspitzen zusammenführt. «Nun – also, Samuel und ich waren in Franzensbad gewesen, da das dortige Wasser der Fruchtbarkeit zuträglich sein sollte. Wir waren schon seit beinahe drei Jahren verheiratet, aber nichts geschah. Schließlich suchten wir einen Arzt auf, der ein Myom von der Größe einer Mango entdeckte», erzählt sie und berührt sanft ihren Bauch. «Um ein Kind empfangen zu können, musste ich sofort operiert werden.»
«Hatten Sie sich denn Kinder gewünscht?», fragt Kate überrascht.
«Ich war ambivalent – aber damals waren Kinder die Norm. Und Samuel liebte sie über alles, er war viel geduldiger als ich», erzählt sie und greift nach ihrem Teller. «Wir sind für die Operation nach England zurückgekehrt, aber sie ging schief. Ich erinnere mich, wie ich nach dem Eingriff die Karteikarte am Fußende des Bettes gelesen habe. Darauf stand: Schwangerschaftschance: null. Mir wurde elend zumute. Der Chirurg kam und sagte: ‹Liebes Mädchen, Sie fangen besser etwas anderes mit Ihrem Leben an.›»
«Uff, die Manieren am Krankenbett …»
Cecily zuckt mit den Schultern und stößt ihre Gabel in den Kuchen. «Keine Wahl ist auch eine Wahl.»
«Wie meinen Sie das?»
«Das Leben hat einen Pfad vorgegeben, selbst wenn es nicht der ist, den man gewählt hätte.»
«Trotzdem. Es tut mir leid, dass es so gekommen ist.»
Cecily kaut nachdenklich. «Im Rückblick betrachtet, mir nicht. Meine Mitbewohnerinnen sind für andere eine emotionale und finanzielle Bürde, ihre Kinder sind inzwischen selbst in Rente und hoffen, dass ihre Mütter sich beeilen und sterben, bevor das ganze Erbe aufgebraucht ist.»
«Das ist eine ziemlich brutale Sicht.»
«Nachkommen zu erzeugen, garantiert einem keineswegs Glück – und oft erreicht man das Gegenteil.»
«Nachkommen erzeugen?», fragt Kate, bemüht, nicht zu lachen. «Sie können nicht die ganze Menschheit abschreiben, nur weil Ihnen das Alter nicht passt – wobei es Ihnen sehr gut zu Gesicht steht, Sie sind phantastisch in Form.»
«Ich habe einmal eine Rede vor den Vereinten Nationen gehalten, jetzt aber ist es schon ein Triumph, wenn ich es schaffe, meine Strickjacke anzuziehen», sagt Cecily angeekelt.
«Eine Rede vor den Vereinten Nationen?»
Cecily zuckt mit den Schultern. «In meinen Sechzigern habe ich mit dem Drehbuchschreiben aufgehört und mich furchtbar gelangweilt. Samuel hatte mir immer nahegelegt, mich für andere Menschen zu engagieren, und mir wurde bewusst, dass ich, vom Unterrichten abgesehen, in dieser Hinsicht wenig unternommen hatte. Daher ließ ich mich in den Vorstand einer Wohltätigkeitsorganisation für Bildung und Erziehung wählen, eines führte zum anderen, und ich wurde eingeladen, um vor den Vereinten Nationen eine Rede über unser Thema zu halten.»
«Hollywood und die Vereinten Nationen? Sie sind die reinste Superwoman.»
«Damals im Krankenhausbett habe ich mich absolut nicht wie eine Superwoman gefühlt. Am Versagen meines Körpers konnte ich nichts ändern, aber der arme Samuel brach mir das Herz – ich nahm ihm die Chance auf Vaterschaft. Er ergriff jedoch meine Hand, und seine Augen füllten sich mit Zärtlichkeit. Er sagte: ‹Es wird wundervoll werden. Du und ich und ein Leben voller Abenteuer zu zweit.› Ich wollte nicht, dass er meine Tränen der Dankbarkeit mit Trauer verwechselte, und so versuchte ich, ihn Zigaretten kaufen zu schicken, doch er klopfte sich beiläufig die Kleidertaschen ab und tat so, als hätte er seine Brieftasche vergessen. Samuel hat seine Brieftasche nie vergessen, kein einziges Mal in all den Jahren unserer Ehe. Er hat auch nie einen Geburtstag oder den Hochzeitstag vergessen – er hat mich niemals enttäuscht. Jedenfalls blieb er mit mir in diesem stickigen Krankenzimmer, meine Hand in seiner, bis die Besuchszeit längst vorbei war. Die Oberschwester drückte ein Auge zu, sie hatte einen Narren an ihm gefressen, das ging allen so. Später brachte ich das Thema Adoption zur Sprache, aber dann hatte das Leben andere Pläne …» Sie hält inne und starrt mit einem plötzlich so leiderfüllten Blick auf ihren Teller, dass Kate befürchtet, eine viel zu persönliche Frage gestellt zu haben.
«Sie sind dann also wieder nach London gezogen?», fragt Kate eilig.
«Ja», antwortet Cecily und schüttelt den Kopf, als erwachte sie aus einem verstörenden Traum. «Wir haben eine Wohnung gemietet, ein sonniges, glückliches Zuhause. Es war eine wunderschöne Zeit. Wir hatten großartige Freunde und sprachen bescheidene Einladungen aus – es waren die Tage, in denen eine Fuller’s Walnusstorte zu drei Schilling Sixpence der Gipfel des Luxus war. Aber allmählich verdüsterte sich unser Leben, da immer schlimmere Nachrichten aus Deutschland herüberdrangen. Ein Jahr nach unserer Rückkehr aus Schweden kam es zur Sudetenkrise.»
«Ich sollte mich aus der Oberstufe daran erinnern … Das war 1938?»
«September 1938, und ja, Sie sollten sich erinnern. Samuel war der Arbeit wegen wieder in Stockholm. Die Leute in England gerieten in Panik, sie glaubten, London werde dem Erdboden gleichgemacht. Es gelang Samuel, mich anzurufen. Er sagte, er könne mir eine Fahrt auf dem letzten Schiff nach Esbjerg verschaffen, ich solle packen und sofort kommen.»
«Was war mit Ihrer Familie?»
«Meine Eltern lebten in Bournemouth. Leo und May wohnten in ihrer Nähe.»
«Waren Ihre Geschwister verheiratet?»
«Leo ist sein ganzes Leben Junggeselle geblieben. Heutzutage drückt man das anders aus. Vor zehn Jahren ist er an einem Schlaganfall gestorben. May hat zweimal geheiratet und ist mit ihrem zweiten Mann, der viel besser war als der erste, in New York gelandet. Sie ist jung gestorben, eine Woche vor ihrem Achtzigsten. Wir hatten gerade den Flug gebucht, um den Geburtstag zu feiern. Nun mussten wir zu ihrer Beerdigung fliegen. Samuel hat mir geholfen, den Mut nicht zu verlieren, aber es war eigenartig, die Letzte von uns zu sein, die noch lebt. Ich habe mich ziemlich alleingelassen gefühlt …», erzählt sie, und ihre Augen umwölken sich. «Aber Sie haben mich unterbrochen. Wo war ich gerade?»
«Sie wollten an Bord eines Bootes nach Esbjerg gehen, wo immer das liegt.»
«In Jütland.»
Kate zuckt zusammen. «Und wo liegt Jütland noch einmal?»
«Hat man Ihnen in der Schule denn überhaupt nichts beigebracht?» Cecily schnauft verächtlich. «Ich verließ unsere reizende Londoner Wohnung mit Trauer im Herzen und bestieg das Schiff, doch als wir mitten auf dem Meer waren, erhielten wir die Nachricht von Chamberlains Erklärung «Frieden für unsere Zeit» – oh, wie wir jubelten. Ich bereute bitter, dass ich England verlassen hatte. In Schweden angekommen, glaubte ich, Samuel werde sagen, wir könnten wieder heimfahren, aber tatsächlich war er außer sich vor Zorn. Ich hatte ihn noch nie wütend erlebt. Er konnte kaum sprechen – das sah Samuel gar nicht ähnlich. Er hielt Chamberlain für einen Dummkopf und rechnete mit einem baldigen Krieg, daher blieben wir, wo wir waren. Die Nachrichten wurden immer schlimmer. Die Nazis marschierten erst nach Österreich und dann in der Tschechoslowakei ein. Stockholm entwickelte sich zu einem erstklassigen Wartezimmer für jene Flüchtlinge, die durch Bestechung ein Transitvisum ergattern konnten. Wenn wir im Café saßen, sahen wir diese armen Menschen durch die Straßen gehen. Da sie elegant gekleidet waren, vermittelten sie zunächst nicht den Eindruck von Flüchtlingen, bis man die Angst in ihren Augen sah. Sie waren mit Pelzen und Juwelen von zu Hause geflohen – aber sie hatten nicht einmal Geld für eine anständige Mahlzeit in der Tasche.»
«Das ist so düster, und wenn man heute die Nachrichten sieht …»
«Genau deshalb tue ich das nicht», erklärt Cecily knapp. «Im September 1939, am letzten Tag unseres Sommerurlaubs in einer Pension in Saltsjöbaden – ach, schauen Sie es auf der Karte nach, Kate – fiel Hitler in Polen ein. Wir saßen mit ein paar jüdischen Flüchtlingen, ein paar Schweden und einer Gruppe Deutscher im Salon und hörten Radio. Chamberlain sagte: ‹Wir befinden uns jetzt im Krieg mit Deutschland.› Es folgte ein entsetzliches langes Schweigen. Ich hörte mein Herz in der Brust klopfen – und dann standen die Deutschen langsam auf und verließen den Raum.»
«Ich sehe es geradezu vor mir», sagt Kate und schaudert zusammen.
«In mir machte sich Angst breit. Die Gerüchte aus Polen waren alarmierend. Man hörte von allen möglichen Diskriminierungen, Juden wurden von Arbeitsplätzen und Universitäten ausgeschlossen, und ihre Gemeinschaft war zunehmender Gewalt ausgesetzt. Wir hatten keine Nachrichten von Samuels Familie, und sosehr er es auch versuchte, es gelang ihm nicht, irgendetwas in Erfahrung zu bringen. Ich ertappte ihn immer wieder dabei, wie er mit einem gehetzten Blick aus dem Fenster starrte, aber wenn wir uns unterhielten, versuchte er, mich zu beruhigen. Die Lebensbedingungen für uns schienen in England besser geworden zu sein, und so beschlossen wir im März, nach Hause zurückzukehren. Samuel kaufte mir ein Flugticket. Er wollte mir eine Woche später folgen, da er noch letzte Dinge zu erledigen hatte. Nach einigen Diskussionen beschlossen wir, mein Ticket umzutauschen, da ich mit ihm zusammen fliegen wollte. Er hielt mich für sentimental, aber ich hatte eine eigenartige Angst davor, wir könnten irgendwie voneinander getrennt werden. Ich ging ins türkische Bad, da wir zu Hause kein heißes Wasser hatten, aber als ich gerade in einer Dampfwolke saß und entspannte, erreichte mich eine Botschaft von Samuel: Die Fluglinie habe keine anderen Tickets, ich müsse noch an diesem Abend abreisen. Ich stürzte in unsere Wohnung zurück, packte eine kleine Tasche mit Kleidern und Büchern und eilte mit noch feuchtem Haar zum Flughafen.»
Kate führt die Hand zum Herzen.
«Ich nahm an, Samuel werde mir in einer Woche folgen, doch meine Angst erwies sich als prophetisch – ich sah ihn erst drei Jahre später wieder.»
«Moment mal, wie bitte? Drei Jahre? Wieso denn das?»
Cecily lehnt sich in ihrem Sessel zurück. «Ich bin heute maßlos erschöpft.» Sie beginnt zu gähnen, und es wird eine ihrer katzenhaften Gähnorgien daraus, die ewig dauern.
«Bitte, Mrs. Finn, lassen Sie mich nicht mit einem Cliffhanger sitzen.»
«Wer den Krieg gewonnen hat, wissen Sie ja wohl?»
«Den Krieg meine ich nicht, sondern Sie und Samuel! Hier, essen Sie noch ein Stück Kuchen.» Kate schneidet eilig eines ab.
«Oh, okay, na gut.» Cecily wirft ihr einen nachsichtigen Blick zu. «Ich kehrte in ein verdunkeltes, deprimiertes England zurück. Das Leben mit Samuel war nie extravagant gewesen – Geld spielte keine Rolle, wir waren einfach nur glücklich, dass wir einander gefunden hatten. Doch mir war nicht klar gewesen, wie spartanisch das Leben in Bournemouth bei meinen Eltern sein würde. Papa duldete kein Telefon im Haus und weigerte sich, auch nur Vorhänge anzubringen. Er sagte, alle achtbaren Menschen gingen mit Einbruch der Dunkelheit zu Bett. Eine Woche nach meiner Ankunft erklärte er mir, es gebe schlechte Nachrichten. ‹Hitler ist in Norwegen und Dänemark einmarschiert, Schweden kommt als Nächstes dran – du siehst Samuel nie wieder.› Mir wurde schlecht. Samuel sollte am nächsten Tag eintreffen, doch ich hörte nichts von ihm. Ich konnte kaum atmen. In diesem Jahr war der Frühling wunderschön; warm und sonnig. Jeden Tag setzte ich mich mit Mama an den Strand, ließ den Sand durch meine Finger rieseln und versuchte, meine entsetzlichen Phantasien im Griff zu behalten. Endlich traf ein Telegramm ein: Samuel war wohlauf, und man hatte ihm in der britischen Botschaft einen besonderen Posten angeboten.»
«Ah, als Spion?»
Cecily nickt und zieht eine Augenbraue hoch.
«Und was für eine Art von Spion war er? Die Sorte, die von einem Hochhausdach zum anderen springt, oder einer, der im Büro sitzt?»
«Samuel? Er hätte sich die Brille zerbrochen, wenn er nur von der Bordsteinkante gesprungen wäre», sagt Cecily und lacht. «Außerdem war er viel zu groß. Man bemerkte ihn sofort, wenn er einen Raum betrat. Nein, Samuel machte Geheimdienstarbeit. Mit seinen Sprachkenntnissen und seinem angenehmen Naturell war er der ideale Kandidat. Alle hielten ihn für einen ‹lieben Kerl›, so sagt man auf Deutsch für einen netten Menschen, und so knüpfte er schnell Beziehungen. Er schloss Bekanntschaft mit allerlei Leuten, die durch Stockholm kamen – mit Matrosen, Ingenieuren oder Bankiers, und diese setzten ihn darüber in Kenntnis, was in Deutschland vor sich ging. Er seinerseits berichtete dann den Alliierten, welche neuen Gebäude geplant oder welche Rohstoffe knapp waren, und mit diesen Informationen planten sie ihre Angriffe.»
«Meine Güte, er war also ein echter Spion.»
«Richtig, das hatte ich Ihnen ja bereits gesagt – warum haben Sie daran gezweifelt?», fragt Cecily gereizt. «Er hat jeden Tag sein Leben riskiert. Jedenfalls war in England der Krieg fühlbar geworden. In Bournemouth wimmelte es von Soldaten. Die Luftschlacht um England tobte über uns, das Dröhnen der Flugzeugmotoren war überall zu hören. Wenn man aufblickte, war es, als schaute man auf Schwärme von Insekten mit silbrigen Flügeln, die in der Sonne blitzten. Manchmal explodierte so ein silbriges Ding plötzlich, wurde zu einer lodernden Blume, raste davon und ließ nur eine bösartige Spur schwarzen Qualms zurück», erzählt sie und beschreibt mit der Hand einen Bogen in der Luft.
«Hatten Sie nicht furchtbare Angst?»
«Doch, natürlich, aber der Gedanke an Samuel hielt mich aufrecht. Er schrieb wunderschöne Briefe, die ich mit mir herumtrug, bis ich ganze Seiten auswendig kannte – aber Worte auf Papier helfen nur begrenzt. Seine Abwesenheit fühlte sich wie ein Gewicht an, das ich ständig mit mir herumschleppte. Papa war überzeugt, dass Samuel sterben würde, und ich lebte in ständiger Angst, bis ich beschloss, mir eine Arbeit zu suchen – wenn man zu tun hat, bleibt einem keine Zeit, Trübsal zu blasen.» Cecily hält inne und misst Kate mit einem harten Blick.
Kate hebt die Hände zu einer Geste, die bedeutet, dass sie das Trübsalblasen hinter sich hat. Cecily reagiert mit einem ruckartigen Vorschieben ihres Kinns, eine Bewegung, die zwar winzig ist, aber trotzdem klar und deutlich sagt: Sie wissen, was ich meine …
«Wenn man etwas tut, was einem sinnvoll vorkommt, erhalten andere Teile des eigenen Lebens wieder die richtigen Proportionen», sagt Cecily spitz.
«Mhm, ja, verstanden, danke. Sie haben damals also Arbeit gefunden?»
«Im Metropole Hotel als Verantwortliche für das Küchenpersonal – von der Frühstücksschicht um 6.30 bis 22.00 Uhr am Abend. In der Großküche hatte ich das Gefühl, alles im Griff zu haben. Außerdem war die Arbeit so anstrengend, dass ich mich nicht mehr wegen Samuel verrückt machen konnte – und gelegentlich ließ Arthur, der reizende ältere Geschäftsführer, zu, dass ich etwas Bacon mit nach Hause nahm. Das hielt Papa bei Laune, denn der Bacon war bereits rationiert worden, und er war seine Lieblingsspeise – seine Rebellion gegen die organisierte Religion.»
«Moment mal – im Buch gibt es ein Rezept für ein Bacon-Ei-Sandwich, das im Dunkeln zubereitet wird. Ist das …»
«‹Dinner in einer Nacht, in der die Lichter ausgehen›», bejaht Cecily und nickt. «The Show Must Go On … Noch heute könnte ich dieses Sandwich mit geschlossenen Augen belegen», sagt sie lächelnd, während sie mit den Händen anmutig eine schichtende Bewegung ausführt. «Arthur und ich haben dieses Sandwich einmal nachts nach einem Luftangriff zubereitet. Wir hatten das Personal und die Gäste in den Schutzkeller geführt, stundenlang waren wir dort unten und haben den Mut nicht verloren, während die Bomben fielen. Der Lärm war entsetzlich, wir glaubten, dass wir alle hinterher taub sein würden, falls wir überlebten. Man sollte meinen, dass die Angst einem den Appetit verschlägt, aber der Gedanke an den bevorstehenden Tod schien uns hungriger zu machen und brachte uns dazu, das Essen, den Geschmack mehr zu genießen.»
«Oh! Ich hatte angenommen, das Rezept gehe auf einen Stromausfall in den fünfziger Jahren zurück und nicht auf eine Verdunkelung im Krieg. Sie reden über all das mit so viel Gelassenheit, es ist so leichthin erzählt – wie dieses Dinner mit Samuels Familie in Warschau.»
«Wäre Ihnen die Wahrheit lieber gewesen? Die Luftwaffe hat das Metropole zwei Jahr nach meinem Abschied bombardiert, und der arme Arthur wurde sofort getötet. Als ich über ein Jahrzehnt später die Menüs niederschrieb, hielt ich es für das Klügste, die Rosinen herauszupicken. Mein Buch sollte eine unterhaltsame Lektüre sein, keine Geschichtslektion oder Horror-Story.»
«Es geht allerdings nicht um Rosinenpickerei. Es ist, als verwandelten Sie diese doch recht düsteren Geschichten in etwas anderes.»
«Ich hatte im wahren Leben genug Bitteres erfahren. Daher zog ich es vor, den Inhalt des Buchs ein wenig süßer zu gestalten. Als Autorin hat man die Lizenz dazu – darum geht es ja gerade bei der Schriftstellerei.»
«Sie meinen, man schreibt, damit man sich etwas ausdenken kann.»
«Damit man sich eine bessere Version ausmalen kann», antwortet sie nachdrücklich. «Außerdem hatte ich tatsächlich Glück: Ich war in Sicherheit und hatte ein Dach über dem Kopf. Zu meiner Beschämung muss ich zugeben, dass es mir zuwider war, jeden Abend in das schäbige elterliche Haus ohne funktionierendes Badezimmer zurückzukehren. Aus einem unkonventionellen, quirligen Leben auf dem Kontinent, wo jeder Tag mit Samuel aus neuen Entdeckerfreuden bestanden hatte, war ich in Mamas und Papas nüchternen Alltag zurückgekehrt – dessen Höhepunkt eine gelegentliche Teatime im ABC war. Ich war frustriert und rastlos und kam mir wieder wie ein Kind vor. Das verstehen Sie bestimmt, da Sie mit vierzig bei Ihrer Mutter leben.»
«Nur noch ein paar Tage.» Kate lacht. «Und immerhin hat Mum ein funktionierendes Badezimmer.»
«Diese Verhältnisse sind nicht ideal für Ihre Unabhängigkeit.»
«Natürlich nicht – aber es war ja nicht meine Entscheidung.»
«Wirklich nicht? Wer hat denn entschieden?»
«Na ja, vermutlich schon ich selbst, als Reaktion auf das, was Nick getan hat. Aber ich hatte nicht das Gefühl, eine wirkliche Wahl zu haben.»
«Eigenartig. Sie betrachten das, was geschieht, nicht als Ihr selbstbestimmtes Leben, sondern als eine Folge von Dingen, die andere mit Ihnen anstellen.»
«Sie klingen schon wie Mum», erwidert Kate stöhnend. «Bitte, erzählen Sie mir mehr über den Krieg.»
Cecily schiebt die Lippen vor. «Nun schön. Als ich eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, fand ich einen weiteren Brief von Samuel vor. Er war über unsere lange Trennung genauso unglücklich wie ich, aber er konnte nicht heimkommen, seine Arbeit war zu wichtig für die Alliierten. Wenn ich aber bereit sei, das Risiko einzugehen, könne die Botschaft mich mit einem Bombenflugzeug nach Stockholm bringen. Mein Herz tat einen Sprung. Ich musste diese Chance ergreifen, zu ihm zurückzukehren. Ich verabschiedete mich unter Tränen von meinen Eltern, nahm den Zug nach Aberdeen und wurde in einen kalten, verdunkelten Flughafen gebracht, dort wartete ich. Jeden Abend machte ich mir neue Hoffnungen, jede Nacht, wenn der Flug aufgrund feindlicher Luftangriffe gestrichen wurde, wurden sie zerstört. Es waren die längsten elf Tage meines Lebens, aber endlich kam die Nacht, in der der Flug sicher war. Der Bomber flog so hoch, dass ich während des ganzen Flugs eine Sauerstoffmaske trug – und nach Stunden, die mir wie Tage vorkamen, setzten wir zur Landung an.»
Kate schüttelt voller Staunen den Kopf. «Und dann waren Sie endlich wieder mit Samuel zusammen?», fragt sie hoffnungsvoll.
«Richtig. Aber ich muss mich jetzt wirklich ausruhen. Ich bin erschöpft. Versprechen Sie mir etwas, Kate?»
«Gern.»
«Sie ziehen bald um?»
«Alles paletti, in drei oder vier Wochen geht es los.»
Cecily nickt erfreut, doch dann führt sie die Hand zur Stirn. «Doch nicht etwa mit dem Esel?»
Kate will antworten, doch ihre Lippen erstarren in einem verlegenen Lächeln.
Cecily greift nach ihrer Brust, als empfände sie tatsächlich Schmerz.
«Was denn?», fragt Kate, die versucht, nicht genervt zu reagieren. «Können wir uns bitte darauf einigen, uns nicht über ihn zu streiten? Es gibt so viele andere interessante Themen.»
«Darauf können wir uns einigen. Jeder muss wohl aus seinen eigenen Fehlern lernen», antwortet Cecily müde. «Ich habe nie auf klügere Leute gehört, aber es macht mich zornig zuzusehen, wie Sie wertvolle Zeit verschwenden.»
«Aber Sie verschwenden doch Ihre Zeit. Ich weiß, dass Sie hier niemanden leiden können, aber Sie könnten sich trotzdem ein bisschen mehr einbringen.»
«In meinem Alter habe ich mir das Recht verdient, die Dinge so zu machen, wie ich will. Außerdem würden Sie frühesten mit zweiundneunzig verstehen, wie erschöpft man sich auf molekularer Ebene fühlt. Der einzige mögliche Sinn besteht jetzt für mich darin, etwas aus meinem Leben an einen anderen Menschen weiterzugeben, doch Sie sind wie ein eigensinniges Maultier und hören nicht zu.»
«Das stimmt nicht. Ihre Meinung zu meinem Job ist schließlich durchgesickert. Und ich suche Rat in Ihrem Buch. Ich blättere ständig darin.»
«Wirklich?»
«Aber ja! Es ist eine Schande, dass es vergriffen ist – Sie könnten es morgen neu auflegen, und es würde sich verkaufen.»
«Sie reden Unsinn.»
«Doch, wirklich. Alle, die darin gelesen haben, sind begeistert.»
«Es ist beinahe so alt wie ich.»
«Trotzdem ist es noch immer relevant – na ja, von dem Grapefruit-Rezept vielleicht abgesehen …»
«Die Leute essen keine Grapefruits mehr?»
«Sie servieren sie nicht mehr, um ihren Chef bei einer Dinnerparty zu beeindrucken. Mrs. Finn, Sie sagen mir immer, dass die menschliche Natur sich nicht ändert. ‹Dinner für Ihren Ex›, ‹Dinner für einen lauten Nachbarn› – jeder und jede hat einen Ex und einen lauten Nachbarn – in London sogar oft zwei.»
Cecily zuckt mit den Schultern. «Dieses Buch hat Jahrzehnte im Regal gestanden und ist gealtert, genau wie ich. Ich freue mich, dass nun wenigstens jemand etwas davon hat. So – ich muss jetzt schlafen. Fahren Sie nach Hause?»
«Zum Esel.»
Cecily seufzt, hält sich aber ausnahmsweise einmal mit weiteren Kommentaren zurück.