«Wieder eine brillante Woche, Mrs. Finn?»
Cecily stößt ein verächtliches Schnauben aus. «Dieser Ort wäre unerträglich, wäre da nicht seine Einsamkeit …»
Kate lacht trotz Cecilys ernster Miene. «Haben Sie sich das gerade ausgedacht?»
Cecily kaut von innen auf ihrer Wange herum, während sie zu überlegen scheint, ob sie die Worte als ihre eigenen ausgeben soll. «Nein – die Zeilen stammen von einem japanischen Dichter, den Namen habe ich vergessen. Sie müssen mir im Krankenhaus etwas gegeben haben, was mein Gedächtnis gelöscht hat.»
«Ausgeschlossen, Ihr Gedächtnis ist besser als meines. Apropos, können Sie bitte dort weitererzählen, wo Sie aufgehört haben?»
«Keine Ahnung, wo das war.»
«Sie waren gerade mit einem Bomber nach Schweden geflogen, um wieder mit Samuel zusammen zu sein.»
«Ah, richtig – Dezember 1943.»
«Das muss wundervoll gewesen sein, nach all diesen Jahren der Trennung.»
«Natürlich», antwortet Cecily, die munter wird. «Ich habe mich schrecklich auf ihn gefreut und war so nervös. Nach der Landung nahm ich ein Taxi zu ihm nach Hause – es war eine wunderschöne Wohnung mit dicken Teppichen und schicken Möbeln, verglichen mit Bournemouth das reinste Paradies. Ich ruhte mich aus und machte mich frisch, es war aber erst Mittag, und Samuel sollte nicht vor fünf Uhr nachmittags heimkommen. Daher beschloss ich, ihm etwas Besonderes zu kochen.»
«Lassen Sie mich raten … ‹Dinner für einen Freund, der unerwartet vom Flughafen kommt›?»
«Oh nein, das war ein gänzlich unerwünschter Gast, der mich einige Jahre später im Morgenmantel überfiel. Nein, für Samuel kochte ich das ‹Dinner nach der Rückkehr von den Flitterwochen›. ‹Ich frage mich bei meinem Treuschwur, was wir taten, bis wir uns liebten …› dieselbe Mahlzeit hatte ich auch am Abend nach unserer Rückkehr aus Italien für ihn zubereitet.»
«Die wunderbare langsam gegarte Bolognese?»
«Erst eine Minestrone, dann Spaghetti bolognese, gefolgt von einer köstlichen Mandeltorte mit dicker Sahne. Ich war mir nicht sicher, ob ich alle Zutaten bekommen würde, aber ich machte mich auf einen Erkundungsgang. Stockholm war zauberhaft – strahlende Weihnachtsbeleuchtung, die Läden voller Waren, und überall duftete es nach Lebkuchen. Der Krieg schien sehr fern zu sein. Zu meinem Entzücken fand ich alles, was ich brauchte, und noch mehr und eilte in die Wohnung zurück. Um halb fünf war ich mit der Suppe und dem Nachtisch fertig, und die Bolognese stand zum Warmhalten im Ofen. Ich hatte mein bestes Kleid aus marineblauer Wolle angezogen, Samuels Lieblingskleid, klebte am Fenster und hielt sehnsüchtig nach ihm Ausschau. Ich wartete und wartete, doch er tauchte nicht auf. Um 18.30 Uhr rief ich in der Botschaft an, doch dort sagte man mir, er sei um 16 Uhr gegangen. Um 20 Uhr war ich so beunruhigt, dass ich mir ein großes Glas Glögg einschenkte, aber dann muss ich auf dem Sofa eingeschlafen sein, denn ich wachte um zehn Uhr abends auf, als die Tür ging und ein überraschter Samuel zu mir eilte und mich umarmte. Ich war völlig durcheinander, und Samuel – nun, er sah so verändert aus: älter, zermürbt, und sein schwarzes Haar war inzwischen fast vollständig ergraut. Doch als ich in seine Augen blickte, erkannte ich den Samuel, den ich zurückgelassen hatte. Er entschuldigte sich wieder und wieder. Er wusste nicht, dass ich den Flug genommen hatte, ein wichtiger Kontaktmann hatte ihn um ein Gespräch gebeten, da er an Informationen über eine Munitionsfabrik gelangt war. Samuel hatte sich mit ihm im Restaurant getroffen und vermutlich zu viele Frikadellen gegessen, denn seine Wangen waren gerötet. Doch als er herausfand, dass ich für ihn gekocht hatte, behauptete er, am Verhungern zu sein, und bestand darauf, einen kleinen Tisch auf den Balkon zu stellen, von wo aus man Sicht auf die Stadt hatte. Obgleich die Nudelsauce so verkocht war, dass sie schon knusprig war, aß er sie bis zum letzten Löffel auf.»
«Ach, wie reizend von ihm», sagt Kate und legte die Hände vor der Brust zusammen.
«Wir waren so lange getrennt, dass ich befürchtet hatte, wir könnten bei unserem Wiedersehen befangen sein, aber wir waren uns näher als je zuvor. Unglaublich, dass ich es so lange geschafft hatte, ohne Samuels ansteckendes Lachen auszukommen.» Cecily schüttelt den Kopf. «In der ersten Woche hatte ich einen schrecklichen Traum: Es war stockdunkel, und zwischen Samuel und mir waberte ein erstickender undurchdringlicher Nebel. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich war verwirrt, wusste, dass er mir von einer schrecklichen Kraft entrissen wurde. Seine Hand lag in meiner, aber je fester ich zupackte, desto mehr entglitt sie mir. Ich rief ihm immer wieder zu, er solle sich festhalten, doch er hörte mich nicht. Ich schrie, bis ich heiser war, aber er entglitt mir immer mehr. Dann lösten sich auch seine Fingerspitzen von mir, und er war weg. Ich begann zu weinen, davon wachte Samuel auf und weckte mich. Er sagte mir wieder und wieder, alles sei in Ordnung, aber mir ging der Traum nicht aus dem Kopf. Ich schaffte es am nächsten Morgen nicht einmal aufzustehen, das sah mir so gar nicht ähnlich. Ich hatte eine entsetzliche Angst, Samuel zu verlieren», sagt sie leise. «Dieser Traum fühlte sich so real an.»
«Dahinter steckten bestimmt Ihre Kriegsangst und die Zeit Ihrer Trennung», sagt Kate. «Kein Wunder, dass Sie unruhig waren.»
«Samuel musste mir versprechen, dass er nie wieder eine Trennung zulassen würde, unter keinen Umständen, und er versprach es. ‹Was auch geschieht, ich werde immer an deiner Seite sein›, sagte er. Am folgenden Abend brachte er einen wunderschönen Globus und ein in Leder gebundenes Notizbuch mit nach Hause, und den nächsten Monat verbrachten wir damit, den Globus zu drehen und zu planen, welche Orte wir besuchen wollten. Jedes Mal, wenn wir wieder ein Land in unser Büchlein schrieben, fühlte ich mich ein wenig besser, so als wäre unsere Zukunft sicherer, weil wir den Plan festgehalten hatten. Als wir fertig waren, hatten wir eine Liste von beinahe dreißig Orten.»
«Es klingt so, als hätten Sie es zu den meisten von ihnen geschafft.»
«Nun, unsere Pläne änderten sich … Nach der Veröffentlichung meines Buches kehrten wir für eine ganze Weile nach Italien zurück, und dann ging es zum Drehbuchschreiben nach England. Erst als die Inspiration in meinen Sechzigern versiegte, hatten wir die Zeit oder auch die Lust, die Liste wieder hervorzuholen.»
«Haben Sie dieses Notizbuch noch? Ich würde es gern sehen.»
Cecily stößt einen entnervten Seufzer aus. «Ich habe das verdammte Ding ein paar Jahre nach dem Krieg in einem Wutanfall weggeworfen, aber ich kannte seinen Inhalt auswendig. In der Wohnung in Stockholm habe ich so viele Stunden damit zugebracht, von unserer Zukunft nach dem Krieg zu träumen.»
«Haben Sie in Schweden nicht gearbeitet?»
«Doch, ich musste mich mit etwas beschäftigen, da Samuel bis spät in die Nacht unterwegs war. Ich begann, wieder zu unterrichten. Ich lernte Schwedisch und Deutsch und freundete mich mit ziemlich unkonventionellen Leuten an – Künstlern und Filmemachern, die wundervolle Partys gaben. Sie mündeten regelmäßig in irgendeinen romantischen Skandal», erzählt sie mit glucksendem Lachen.
«Es klingt nicht so, als wäre das Leben besonders hart gewesen?»
«Nun, Schweden war neutral. Das Schlimmste war, dass wir nicht wussten, wie es Samuels Familie ging. Er nutzte jeden Kontakt, den er hatte, aber es gelang uns nicht, irgendetwas herauszufinden. Die Sorge zermürbte ihn. Die Gerüchte waren grauenerregend. Juden verhungerten im Warschauer Ghetto, wurden auf der Straße erschossen oder in deutsche Arbeitslager verschleppt. Samuel vertiefte sich noch mehr in die Arbeit – er kämpfte ebenso sehr für seine Familie wie für die größere Sache. Weil er so viel zu tun hatte, beschlossen wir im folgenden Jahr, dass ich drei Monate außerhalb der Stadt verbringen würde, um nach den beiden Töchtern unserer Freunde zu schauen. Die schwedische Landschaft war nach dem langen Winter berauschend schön. Eine Überfülle von Blüten – überall violette, purpurrote, malvenfarbene und weiße Tupfer. Ich versprach Samuel, dass ich gleich nach Kriegsende mit ihm dorthin fahren würde, doch tatsächlich kamen wir erst an seinem achtzigsten Geburtstag dazu», berichtet sie mit plötzlich zerknirschter Miene. «Ich hätte es früher machen sollen, da habe ich ihn wohl enttäuscht.»
«Unsinn», widerspricht Kate. «Es klingt so, als wären Sie mit allen möglichen Abenteuern beschäftigt gewesen.»
«Nun ja, wohl schon …»
«Italien, Hawaii, Machu Picchu?»
«Ja, Peru, natürlich», sagt Cecily stirnrunzelnd. «Und auch mit meiner Arbeit hatte ich viel zu tun … Nun, jedenfalls kommt mir der Sommer im Rückblick wie ein Traum vor. Ich kochte für die kleinen Mädchen, unterrichtete sie in Englisch und erfand beim Schlafengehen alle möglichen Geschichten für sie.»
«Was für Geschichten denn?»
«Oh, was alle Kinder lieben», berichtet Cecily wegwerfend. «Das wahre Leben, dessen schreckliche Aspekte aufgebläht werden, am Ende aber wie durch Zauberhand verschwinden. Die Mädchen waren so begeistert davon, dass ich sie niederschrieb und nach meiner Rückkehr nach Stockholm Samuel zeigte. Er sagte, sie seien ausgezeichnet, aber ich nahm an, dass er das nur aus seiner üblichen Liebenswürdigkeit heraus sagte. Doch ohne mein Wissen zeigte er einige der Geschichten einem seiner Kontakte, der wiederum einen Freund in einem Verlag hatte. Die Texte gefielen dem Lektor, und er wollte mehr sehen. Die nächsten zwei Monate verbrachte ich jede freie Minute mit Schreiben und machte Samuel damit wahnsinnig, dass ich ihm abends im Bett Geschichten vorlas. Schließlich suchte ich den Lektor auf, und er wünschte, dass ich noch mehr Geschichten schrieb. Einen Monat später schickte ich sie ihm, und dann bemühte ich mich, nicht ständig in den Briefkasten zu schauen. Sechs Wochen darauf kam eine Antwort. Ich ertrug es nicht, den Brief zu öffnen, Samuel musste es für mich tun. Er las ihn und blickte dann mit Tränen in den Augen zu mir auf.»
«Eine Ablehnung?», fragt Kate enttäuscht.
«Es waren Tränen des Stolzes. Das Buch würde den Titel Om Igen – Tell Me Again bekommen und in Schweden und England veröffentlicht werden. Ich konnte es kaum erwarten, Mr. Moffat, meinem alten Englischlehrer, einen Band zu schicken.»
«Ach, wie wunderbar, Mrs. Finn. Also, da wären wir endlich. So sind Sie also damals zur Schriftstellerin geworden.»
«Nein, daraus ist nichts geworden», sagt Cecily, deren Blick sich verdüstert. «Einen Monat nach dem Eintreffen meines Vertrags erhielten wir die Nachricht, die wir so lange befürchtet hatten, eine Bestätigung unserer schlimmsten Ängste. Samuels Familie …» Sie schüttelt den Kopf, schließt die Augen, holt tief Luft und atmet schwer aus. «Seine Eltern, seine Brüder und Schwestern, seine Nichten und Neffen, diese süßen, unschuldigen Kinder, mit denen wir in Warschau das Festessen verspeist hatten – sie alle waren in Auschwitz getötet worden. Man hatte sie wie Vieh in die Gaskammern getrieben. Leon, Shindel, Lilli, Oskar, Izzy … Und wir wussten nichts davon. Samuels Familie war fast komplett ausgelöscht, und es gab keine Leichen zu bestatten, kein Grab, das er je hätte besuchen können.»
«Das ist unvorstellbar», sagt Kate, ihr stockt der Atem.
«Meinen Glauben an die grundsätzliche Güte der menschlichen Natur habe ich damals verloren. Bis zu diesem Moment war Samuel immer ein Optimist gewesen, doch das Ereignis veränderte uns. Ich hatte keine Lust mehr auf fiktive Geschichten. Und doch», sie hebt die Hand und lässt sie wieder fallen, «das Leben musste weitergehen. Das Kriegsglück wandte sich gegen die Deutschen. Wir erwarteten voll Hoffnung die zweite Front, und endlich kam der Tag des Sieges. Ganz Stockholm geriet aus dem Häuschen. Samuel und ich hielten uns fest bei der Hand, als wir in einem Schneesturm von Lochstreifen-Konfetti über die Birger Jarlsgatan gingen, aber unser Herz war schwer vom Leid so vieler Menschen. Zu vieles hatten wir ertragen müssen. Und dann erhielten wir ein schreckliches Telegramm von Gisele.»
«Von der Tochter Sophies, der Jazzsängerin?»
«Ja, Sophie war Samuels letzte verbliebene Schwester. Wir hatten geglaubt, in Frankreich wären die beiden sicherer gewesen. Sophie hatte ihre Smaragde auf dem Schwarzmarkt für einen Bruchteil ihres Wertes verhökert. Mit dem Geld hatten sie sich falsche Ausweise besorgt, und ein mitfühlender nichtjüdischer Freund hatte ihnen Zuflucht gewährt. Doch ein Nachbar fand es heraus und denunzierte sie bei den Deutschen. Der Freund wurde verhaftet, und Sophie … Sophie wurde erschossen. Gisele gelang die Flucht, aber die Gestapo war noch immer auf der Suche nach ihr – sie konnte noch nicht einmal auf die Beerdigung ihrer eigenen Mutter gehen. Es war eine furchtbare Zeit, ich hatte den armen Samuel noch nie so weinen sehen. Es hatte ihm das Herz gebrochen. Ich konnte ihm nur die Hand halten, aber es war so überaus grausam, einen geliebten Menschen so leiden zu sehen. Selbst jetzt wird mir elend zumute, wenn ich daran denke», sagt sie und reibt sich den Bauch. «Und dann erhielt ich ein Telegramm aus England, in dem stand, dass Papa gestorben war.»
«Oh Gott.»
«Im Schlaf, es war wenigstens ein friedlicher Tod.»
«Aber all diese Verluste und alle zur gleichen Zeit.»
Cecily nickt ernst.
«Wie alt war er bei seinem Tod?»
«Wie alt war wer?», fragt Cecily misstrauisch.
«Ihr Vater?»
«Oh, Papa? Siebenundsechzig. Mama wurde siebzig. Zu meiner Überraschung bin ich Jahrzehnte älter geworden als meine Eltern – glauben Sie, dass ich überhaupt jemals sterben werde?», fragt Cecily verzweifelt.
«Es erscheint mir wahrscheinlich», antwortet Kate unbeholfen. «Sie sind nicht gläubig, oder, Mrs. Finn?»
«Ich glaube nicht an den Himmel, falls Sie das meinten.»
«Fragen Sie sich nie, was als Nächstes kommt?»
«Ich nehme an, dass einfach alles dunkel wird.»
«Halten Sie es nicht für möglich, dass Sie die Menschen, die Sie geliebt haben, wiedersehen werden?»
«Absolut nicht, auch wenn ich Samuels Gesicht liebend gern wiedersehen würde, es ist schon so lange her», sagt sie liebevoll. «Es gibt so viel, was ich ihm nie erzählt habe. Seit seinem Tod vermisse ich ihn jeden Tag.»
«Natürlich.»
«Er war ein wundervoller Ehemann, ich hätte mir keinen besseren wünschen können. Wir sind nie an den Punkt gelangt, wo wir einander überdrüssig geworden wären. Ob es wohl irgendwann so weit gekommen wäre …», fragt sie mit einem leichten Achselzucken. «Ich habe keine Angst vor dem Tod, Kate. Ich bin schon seit Jahren darauf vorbreitet. Und ich habe gelernt, keine Angst vor dem Leben zu haben. Angst ist etwas Schreckliches, sie lähmt einen mehr als ein alter Körper.» Cecily sieht Kate nachdenklich an. «Emerson sagt es am besten: ‹Was, wenn du scheiterst und in den Schmutz geworfen wirst … Steh wieder auf, und du wirst dich bei einem Sturz niemals mehr so fürchten.›»
Auch dieser Ratschlag Cecilys erscheint Kate erst eine Weile später als bedeutsam.