Cecily schläft seit zwei Stunden in ihrem Sessel. Auch wenn sie bei jedem Atemzug ein leises nasales Pfeifen ausstößt, stört das Kate nicht, die ihr gegenübersitzt und den Blick zu den weißen und rosafarbenen Kirschblüten an den Zweigen draußen wandern lässt.
April: endlich. In manchen Jahren zweifelt man daran, dass der Frühling jemals kommen wird. Dieser Winter war besonders rau und hat das Leben zweier Frauen gefordert: Das von Olive Paisner, die an den Komplikationen nach einem Sturz gestorben ist, und das der armen Bessie, die einen Schlaganfall erlitten hat. Auch von Cecily hat er seinen Tribut verlangt. Sie isst nur noch winzige Portionen und sieht von Mal zu Mal gebrechlicher aus. Ihre Nickerchen beginnen jetzt früher und dauern länger. Kate hofft, dass Cecily mit dem Einsetzen des Frühlings wieder munterer wird. Unterdessen ist sie zufrieden damit, hier in der Wärme und beinahe vollständigen Stille zu sitzen und zu lesen, während Cecily schläft.
Kate hat seit der Trennung viel gelesen – und diesmal haben sie sich wirklich getrennt, es ist nicht das Herumeiern Nr. 2. Kate musste schmerzhaft erkennen, dass diese Trennung (auch wenn sie im Rückblick betrachtet vorhersehbar war) kaum weniger geschmerzt hat als die vorhergehende, die sie mit Nick durchgemacht hat. Unter anderem deshalb war Kate ja so geduldig mit Nick gewesen, weil sie unbedingt die Schmerzen vermeiden wollte, die ein gebrochenes Herz mit sich bringt. Über Weihnachten und Neujahr war es ihr an manchen Tagen so vorgekommen, als wäre sie unter einer Bettdecke aus Zement erwacht, so quälend starr fühlte sich ihr Körper an.
Sie kann inzwischen akzeptieren, dass dies der Preis für eine vorbehaltlose Liebe ist, dafür, dass man ein Risiko eingeht und verliert. Ihre Träume werden gelegentlich noch immer von einer boshaften glücklichen Erinnerung heimgesucht, aber das geschieht inzwischen immer seltener. Wenn im Radio ein trauriger Song gespielt wird, muss sie den Sender nicht mehr eiligst wechseln – es sei denn, es sind die Magnetic Fields, die «The Book of Love» singen. So schmerzhaft es auch ist, mit der Zeit, die vergeht, wird Nick zu einer zunehmend zusammenhanglosen Erinnerung.
Da Rita darauf bestand, hat Kate ihrer Mutter gestattet, ihr einen Gutschein für sechs Therapiesitzungen zu Weihnachten zu schenken, auch wenn ihr ein einfacher Flug nach Hawaii lieber gewesen wäre. Fairerweise muss sie zugeben, dass der Therapeut sich als hilfreich erwiesen hat. Er hat Kate daran gehindert, sich weiter die Schuld an Nicks Unzulänglichkeiten zu geben. Wann immer sie sich dafür schilt, dass sie so blöd war, den Kopf für weitere Schläge hinzuhalten, sagt sie sich jetzt, dass sie eine großzügige Person ist, die im Zweifel bereit ist, anderen recht zu geben – sie muss nur diese anderen besser auswählen.
Ihr Therapeut hat sie darauf aufmerksam gemacht, dass sie zwar Cecily wegen ihres erschlafften Lebens bemitleidet hat, aber nicht gemerkt hat, dass auch ihr eigenes Leben aus Mangel an Ehrgeiz klein geblieben ist. Kate hatte sich in ihre tröstende Beziehungsdecke gehüllt und die Teile ihres Lebens, die nicht Nick und sie selbst als Paar betrafen, als zweitrangig behandelt – kein Wunder, dass sie sich ohne Nick beraubt vorkam. Und während sie bei Rita wohnte, war sie sich auf äußerst unangenehme Weise wie ein Teenager vorgekommen. Seit letztem Monat ist Kate für eine geringe Miete in Baileys Gästezimmer gezogen, leistet dafür kostenlose Babysitterdienste und hilft ihr im Haushalt.
Kate wollte keine jahrelange teure Therapie machen, nur um dem Therapeuten etwas vorzujammern – sie hat Freunde und Freundinnen, die ihr kostenlos zuhören, und dabei können sie auch noch Wein trinken. Daher hat sie den Therapeuten gefragt, was er ihr als einzelne, besonders hilfreiche Aktion für ihre Zukunft empfehlen könne. Die Antwort war kurz und bündig: radikale Selbstfürsorge. Mit allem, was ihr nicht guttut, ist es jetzt vorbei: mit dem Rauchen, damit, im Bett zu liegen und über die Vergangenheit zu grübeln, mit ihrer gnadenlosen Selbstkritik und mit Cara. Wenn irgendjemand das Recht gehabt hätte, ein ich habe es dir ja gleich gesagt bei Kate loszuwerden, dann war das Cecily. Wenn aber Cecily es geschafft hat, sich auf die Zunge zu beißen, hätte das auch Cara gelingen sollen.
Umgekehrt lässt Kate nur Wohltuendes an sich heran. Gemeint sind natürlich auch die üblichen Verdächtigen, wie Gemüse, Wasser oder Sport, aber nicht nur. Wann immer sie sich langweilt oder sich einsam fühlt, soll sie sich etwas Gutes tun, und zwar mit dem, was sie am meisten liebt: mit Büchern und mit gutem Essen. In den letzten vier Monaten hat Kate Cecilys restlicher Lebensgeschichte gelauscht: Es ging um das Jahrzehnt in Italien, die Reisen, die sie in ihren Sechzigern und Siebzigern unternahm, das widerstrebende Kürzertreten in ihren Achtzigern, der erste Sturz, dann der zweite und schließlich der schmerzhafte Prozess, das Verblühen ihres Lebens zu akzeptieren und loszulassen. Wenn sie sich jetzt treffen, liest Kate Cecily vor, und wenn Cecily schläft, liest Kate für sich selbst.
Cecilys Kochbuchsammlung hat sie inspiriert – Kate hat unzählige neue Rezepte ausprobiert. Als sie im Dezember noch halb vor Schmerz erstarrt war, waren Suppen angesagt – einfach, tröstlich und nach einem Tag auf den Beinen genau das Richtige. Mit Beginn des neuen Jahres entwickelte sie mehr Ehrgeiz, machte Ribollitas und Laksas, und inzwischen kocht sie ganz selbstverständlich köstliche Mahlzeiten und steht sogar noch früher auf als Baileys Töchter, um Marinaden, Gremolatas und Picadas zuzubereiten.
An einem besonders düsteren Wochenende im Januar, an dem Schneeregen aus den grauen Wolken fiel, war sie knapp davor, Nick anzurufen, wahlweise, um ihm zu sagen, dass sie ihn vermisste oder dass sie ihn hasste, sie wusste es selbst nicht. Stattdessen schaltete sie den Computer ein und begann, im Stil von Cecilys Buch einige der Menüs zu notieren, die sie sich zum Trost gekocht hatte. Ihre schmerzlichen Empfindungen unterschieden sich deutlich voneinander – Trauer, Einsamkeit, Wut, Bedauern –, und jede musste mit einem anderen Menü bekämpft werden. Ihre Rezepte für alle, die sich elend fühlten, betrachtete sie einfach nur als eine Albernheit, mit der sie sich beschäftigte, um sich abzulenken – aber sie zeigte sie trotzdem Cecily, und diese wies sie darauf hin, dass es zwar schön und gut sei, über die verschiedenen Geschmacksnoten des Unglücklichseins zu schreiben, dass es aber letztlich darum gehe, Kate wieder glücklich zu machen. Sie solle sich mehr darauf konzentrieren.
Das Schreiben hat Kate jedoch Spaß gemacht, und als sie fertig war mit dem «Lunch, wenn Sie sich selbst gründlich satthaben» – langsam gebratenes Hähnchen mit Zitrone und Harissa und eine mit Butter übergossene Ofenkartoffel, gefolgt von warmem Schokokekspudding mit Sahne –, war ihr Drang, Nick zu kontaktieren, vergangen. Nun hielt sie ihn wieder für einen Idioten – und sah sich selbst nicht nur als die Glasur, sondern als den ganzen Kuchen.
Am Montag brachte sie, noch immer befriedigt vom Schreiben, die Essensreste mit zur Arbeit. Als William erwähnte, sein Mann Chris habe für die folgende Woche ein Treffen seines Buch-Clubs im Café organisiert, hatte Kate angeboten, für diesen Anlass das Hähnchengericht zuzubereiten, gefolgt von gesalzenen Karamell-Brownies. Chris hat ihr fünfzig Pfund für ihre Mühe gegeben. Mehr Spaß hatte sie beim Verdienen von fünfzig Pfund noch nie gehabt. Cecily hatte natürlich recht: Das Leben war voller Chancen, wenn man ihnen offen gegenüberstand.
Als sich dann der Valentinstag drohend näherte, entschied Kate, dass sie Nick am besten den Stachel ziehen könnte, indem sie zu einem Anti-Valentinstag-Dinner-Club für zwei Dutzend Stammgäste des Aposta einlud. William war damit einverstanden und verzichtete auf eine Miete, wollte aber im Gegenzug Karten für sich und Chris. Wie sich herausstellte, betrachten manche Paare den 14. Februar als einen ganz normalen Tag. Andere Paare haben keine Lust, sich in einem protzigen Restaurant ausnehmen zu lassen. Wieder andere wollen sich nicht schon wieder im Pizza Express gegenübersitzen und würden viel lieber mit einem Unbekannten flirten, der neben ihnen sitzt.
Die Nacht war ein solcher Erfolg, dass William Kate gebeten hat, regelmäßig einen solchen Abend zu veranstalten, und jetzt arbeitet sie an einem Nachfolger. Vielleicht verdient sie damit sogar ein paar hundert Pfund – das Beste daran ist aber, dass es sich nicht wie Arbeit anfühlt. Seit der Trennung war der Trost, den sie im Aposta gefunden hat, eine angenehme Überraschung. Als sie bei Fletchers ihre Texte verfassen musste, konnte es allzu leicht geschehen, dass sie in Gedanken auf Abwege geriet, innerlich ins Rutschen kam und in der Tiefe eines Abgrunds liegen blieb. Hier ist das ausgeschlossen – dafür fehlt ihr die Zeit, und ihr Kopf ist auch gar nicht frei dafür. Was für ein Segen das ist. Kate hat zu viel damit zu tun, mit Gästen zu plaudern, abzuwaschen oder ihre Latte-macchiato-Kunst zu perfektionieren – ihre Schaumherzen sind inzwischen perfekt.
Kate schaut auf ihre Armbanduhr. Allmählich wird es draußen dunkel. Kürzlich hat Rita gesagt, ihrer Meinung nach verstecke Kate sich im Lauderdale House – aber das ist typisch für Rita. Sie will nicht akzeptieren, dass ihre Tochter Dinge anders beurteilt und empfindet als sie selbst.
Vielmehr ist es so, dass Kate in den letzten Monaten einen sicheren Ort gebraucht hat, um sich zu erholen. Cecily geht inzwischen sanfter mit ihr um. Das mag daran liegen, dass die alte Dame weniger Energie hat; sie schwindet dahin. Aber vielleicht ist es auch dadurch begründet, dass ihre Beziehung zueinander sich zu einer echten Freundschaft entwickelt hat, einer Art von Freundschaft, die sie so, das erkennt sie schmerzlich, mit Nick nie hatte. Beide Frauen waren tapfer genug, sich ihrem verletzlichen, unvollkommenen Ich zu stellen. Was für ein Geschenk: eine andere Person zu kennen und von ihr gekannt zu werden. Cecily hat Kate erlebt, als sie ganz unten war, und ihr nicht den Rücken gekehrt. Gerechterweise muss man sagen, dass Cecily sich ohnehin kaum bewegen kann, aber Kate denkt, dass sie schon eine Möglichkeit gefunden hätte, wenn ihr danach gewesen wäre.
Kate blickt auf, als Cecily ein plötzliches Schnarchen von sich gibt. Es ist laut, aber nicht laut genug, als dass Cecily davon aufwacht, und es löst sich zu drei kleinen, nachhallenden Schnarchtönen auf. Kate wird Cecily schlafen lassen. Leise stellt sie das Buch, in dem sie gelesen hat, in Cecilys Regal zurück, breitet ihr eine Decke über den Schoß und geht zur Tür.