Bei Tageslicht sieht allerdings überhaupt nichts besser aus.

Kate erwacht aus unruhigem Schlaf. Sie tastet nach Nick und stößt stattdessen auf ein flauschiges Spielzeugschwein in einem rosa Samtkleid.

Auf Zehenspitzen geht sie über den Flur zum Schlafzimmer. Da liegt er, Nick, leise schnarchend, seine Füße schauen unter der Bettdecke hervor. Seine Wangen sind vom Sonnenbrand ein wenig gerötet, davon abgesehen sieht er so zufrieden und friedlich wie ein kleiner Junge aus, der nach ausgiebigem Toben und mit viel Geburtstagkuchen im Bauch tief und fest schlummert.

Krumm vor Elend kehrt sie in das Kinderbett zurück.

 

Donnerstag, 6.50 Uhr. Kate kann nicht mehr schlafen. Der Rückflug ist für Sonntag gebucht. Das ist viel zu weit weg. Nervös googelt sie nach einer Alternative. Ein früherer Flug würde sie vierhundert Euro kosten. Mit dem Mietwagen kommt sie nicht zum Flughafen, sie ist nicht als Fahrerin für den Wagen eingetragen, und ein Taxi kostet hundert Euro. Fünfhundert Euro für eine Flucht aus diesem Kurztrip, der halb so teuer war. Das darf doch nicht wahr sein! Aber es kann andererseits auch nicht wahr sein, dass Nick sie abserviert. Nicht im Urlaub, nicht in der Woche, in der sie zusammenziehen wollten, nicht vor der glanzvollen Hochzeit von Kates gutem Freund Pete in einem Monat, nicht vor Kates

Sollte sie darauf bestehen, dass er abreist? Wäre das nicht zu melodramatisch? Er kann sich diesen Flug ebenso wenig leisten wie sie selbst – auch wenn das unter den gegenwärtigen Umständen nicht ihre Sorge sein sollte.

Sie schließt die Augen und atmet tief ein und aus. Nick hat nie Anzeichen von Unzuverlässigkeit erkennen lassen. Oder vielleicht doch? Kürzlich hat er etwas getan, was ihn wie einen Wackelkandidaten wirken ließ … Sie hatte ihn endlich überredet, einen Roman von Kate Atkinson zu lesen, doch er hatte die Lektüre auf Seite einhundertsechsundvierzig abgebrochen, weil ihm eine Nebenfigur missfiel. Lächerlich, sich so weit durch das Buch zu arbeiten und es dann praktisch wegzuschmeißen! Ein Buch nicht zu Ende zu lesen, selbst ein schlechtes, kommt ihr illoyal vor.

Nicks Verhalten hat sie damals stark irritiert. Es konnte einen Mangel an Durchhaltevermögen verraten und die Neigung erkennen lassen, übermäßig schnell auf Abstand zu gehen. Kate horcht bei so etwas sehr schnell auf, vielleicht zu schnell? Wenn sie jetzt diese Verhaltensmuster betrachtet, seine kurzen Beziehungen, die Weigerung, sich an andere Menschen zu binden, oder das Tom-Brady-Fiasko – dann ergeben sie zusammengenommen Sinn. Und daran haben nur seine merkwürdigen Eltern Schuld!

Nein, nein, nein, nein, nein. Die Lektüre eines Buches abzubrechen, ist kein Verbrechen, und es hat nicht das Geringste mit der derzeitigen Situation zu tun. Kate seufzt. Offensichtlich dreht sie gerade durch. Sie glaubt zutiefst an ihr gemeinsames Glück, hat es doch täglich gespürt. Das kann doch nicht

Jetzt rollen ihr die Tränen aus den Augen und fließen ihr ärgerlicherweise in die Ohren. Es ist nur eine Überreaktion, sie sollte nicht weinen, mit Nick und ihr wird alles wird gut. Sie lieben sich doch.

 

Kate hat gleich drei Probleme: Zunächst einmal wird jeder kritische Kommentar von ihr zu Nicks verrücktem Verhalten so klingen, als bettelte sie um Nähe und Liebe. Zweitens will ein unglückseliger Bestandteil ihrer Psyche, dass sie sich instinktiv dem Schmerz zuwendet, statt vor ihm zu fliehen: Nick hat sie verletzt, also muss Nick das auch wieder in Ordnung bringen. Und drittens weiß sie, dass sie ‹fröhlich› sein sollte, um es nicht noch schlimmer zu machen, aber wenn ihre Tränen kommen, dann lassen sie sich nicht aufhalten.

Natürlich hat das, was Nick gesagt hat, sie tief getroffen. Sie liebt Nick. Er bringt sie jeden Tag zum Lachen, bereitet Chorizo-Burritos als Mitternachtsfestmahl zu und kommt mit ihren sämtlichen Freunden und Freundinnen bestens aus. Doch in Kate ist etwas Grundlegenderes in Bewegung geraten. Sie kommt nicht gut klar mit dem Gedanken, dass sie plötzlich verlassen werden könnte. Vielleicht liegt das daran, dass sie ihren Vater so früh verloren hat.

Aber könnte es nicht genauso gut sein, dass die Heftigkeit ihres Schmerzes eher mit ihrer Zukunft zusammenhängt als mit ihrer Vergangenheit? Kate hat neununddreißig Jahre gebraucht, um jemanden kennenzulernen, den sie so sehr liebt – wenn Nick aus der Beziehung rauswill, wird es jemals wieder eine Liebe für sie geben wie diese?

Als sie sich auf den Weg zum Dorf macht, eilt Nick hinterher und besteht darauf, sie zu begleiten. Sowohl auf dem Hinweg als auch auf dem Spaziergang zurück hält er Kates Hand und bringt sogar die Pläne zu Petes Hochzeit zur Sprache. Er tut so, als hätte es den letzten Abend nie gegeben.

Das macht sie wahnsinnig.

«Was ist los, Nick? Willst du, dass ich ein wenig später bei dir einziehe? Oder war das gestern doch der ungeschickte Versuch einer Trennung»?, fragt sie freundlich. Sie spürt, wie er erneut innerlich dichtmacht.

«Ich weiß nur, dass ich mich vorläufig zurückziehen möchte.»

«Zu deinem Fernseher?», fragt sie verzweifelt.

Mit elender Miene sieht er sie an.

Wenn er glaubt, sie wäre bereit, mit Triluminos zu konkurrieren, hat er sich geirrt.

Ihre Wut geht in Trauer über, verwandelt sich in Schmerz und zu schockierter Ungläubigkeit, während die Stunden sich immer weiter dehnen.

 

Wie kann er nur hier im Liegestuhl neben ihr sitzen und sein Kreuzworträtsel lösen, als wäre nichts geschehen?

Inzwischen ist Freitag. Sie raucht sich durch das zweite Päckchen Gauloises für heute und spürt erneut, dass sie zornig wird. Immer noch zweiundzwanzigeinhalb Stunden, bevor sie

«Nicholas», sagt sie und nimmt einen weiteren tiefen Zug. Sie darf keine Wut zeigen – nein, nein, Wut ist niemals gestattet. «Ich weiß, dass du keine Erfahrung mit Beziehungen hast, aber ich habe einen guten Rat für dich.» Sie stößt mit der Zigarette nach ihm. «Zieh so einen Ich bin verwirrt-Scheiß nicht im Urlaub ab …» Oh nein, jetzt schnürt ihr die Trauer die Kehle zu, und ihre Stimme zittert. Gleich werden wieder Tränen fließen.

Er legt das Kreuzworträtsel beiseite, streckt die Hand nach ihr aus und tätschelt ihre Schulter – so als würde man einen Hund streicheln, obwohl man eigentlich lieber Katzen mag. Sie hasst diese Berührung. «Kate, bitte schäme dich nicht. Es ist toll, solche Emotionen zu sehen. Etwas dergleichen habe ich noch nicht erlebt.»

Sie starrt ihn entsetzt an. Vielleicht war sie die ganze Zeit mit einem täuschend echt wirkenden Androiden zusammen.

 

Am Tag ihres Heimflugs wacht Kate um zwei Uhr morgens auf. Sie ist verwirrt und von Schmerz erfüllt. Als sie erneut auf Zehenspitzen in Nicks Zimmer schleicht, weil sie hofft, dass er ebenfalls nicht schlafen kann und vielleicht traurig am Fenster steht, verlässt sie der Mut, denn sie findet ihn tief und fest schlafend vor.

Doch als sie genauer hinschaut, sieht sie, dass er sein Kopfkissen in den Armen hält, es an die Brust drückt und sich daran festklammert, als gälte es sein Leben.