Wie konnte das überhaupt geschehen? Kate spannt die Kiefermuskeln an und starrt aus dem kleinen Flugzeugfenster.
Sie hat sich gestattet, sich sicher zu fühlen. Jetzt bekommt sie die Quittung dafür. Es ist noch nicht lange her, da sind ihr jede Menge unglücklich dreinschauende, alleinstehende Frauen ihres Alters aufgefallen, die in munter bedruckten Yoga-Klamotten herumlaufen, und sie hat … nun, nicht Überheblichkeit, aber doch ein Gefühl der Erleichterung empfunden, endlich den Untiefen entronnen und sicher an Land zu sein. Wie dumm sie war.
Der Gedanke, ohne Nicks Sinn für Humor, seine reizende Art und sein Hähnchen Cacciatore auskommen zu müssen, lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren. Alle ihre Freundinnen sind glücklich verheiratet oder unglücklich verheiratet, ohne sich das einzugestehen, oder geschieden und mit Halbmarathons und Onlinedating beschäftigt. Kate hasst Joggen genauso sehr wie Tinder. Auch die Arbeit wird keine Erholung bieten. Auf ewig mit Melanie zusammenwohnen, Teebeutel und klebrige Haferbreikleckse in der Spüle, unschöne Dates mit Männern, die Phrasen dreschen …
Sie hat keine Lust, damit von vorn anzufangen. Der Gedanke, sich in ihrem Alter erneut auf den Markt der Möglichkeiten zu begeben, lässt sie vor Selbstmitleid fast laut aufschluchzen.
Sie wendet sich Nick zu, doch der sitzt mit geschlossenen Augen neben ihr, die Kopfhörer auf den Ohren, und singt lautlos jedes Wort von Springsteens Born to Run mit.
Nach der Landung in Stansted ist das Wetter schwül und der Himmel bedeckt.
«Und jetzt?», fragt sie bang. «Soll ich morgen meine Bücher abholen?»
«Sie liegen gut bei mir.» Nick lächelt freundlich.
«Aber … was machen wir?»
«Ich weiß es nicht.»
«Nick, wenn du nicht jetzt mit mir zusammenleben möchtest, bedeutet das, dass du überhaupt nie mit mir zusammenleben möchtest?»
«Nein.»
«Was bedeutet es dann?»
«Es bedeutet … dass ich verwirrt bin.»
«Ist es vorbei mit uns?»
«Nein … Ich weiß es nicht …»
«Und wann wirst du es wissen?»
Er zuckt mit den Schultern. «Ich … ich kann nicht …»
Sie muss diesem Wahnsinn entkommen, bevor sie durchdreht. «Ich muss jetzt heim.»
«Nimmst du nicht den Zug mit mir?», fragt er überrascht und schwingt sich seine Tasche über die Schulter.
«Nein, Nick. Ich nehme den Bus …» Sie zögert und wägt ihren nächsten Schritt ab. Er braucht offensichtlich Raum und Zeit zum Nachdenken. Für sie dagegen wird das Warten unerträglich sein. Wie lange kann sie es längstens aushalten?
Sie hat Angst davor, die nächsten Worte zu sagen, aber sie sind ihre einzige Hoffnung. «Nick – du hast bis Ende September Zeit, um deine Verwirrung in den Griff zu bekommen. Danach gehen wir den nächsten Schritt entweder gemeinsam, oder es ist vorbei mit uns. Und bis dahin lass mich bitte allein. Ich muss ebenfalls nachdenken.»
Sein Lächeln gefriert. Ernst blickt er sie an. «Was – überhaupt nicht miteinander reden, fast zwei Monate?»
«Ja. Ich meine, nein. Nicht reden. Ich meine: richtig – wir werden nicht miteinander reden.»
«Können wir nicht einfach so weitermachen wie zuvor?»
«Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir das nicht können – nein.»
Er nickt langsam. «Okay. Wenn es das ist, was du wirklich willst.»
Natürlich ist es das nicht, nichts von alldem will sie!
Er beugt sich vor und küsst sie auf die Lippen. Sie steht mit weit geöffneten Augen reglos da.
Als er geht, schwankt sie, als hätte ein starker Windstoß sie gepeitscht.
Im Bus nach London ruft sie Bailey an. Sie wird in kühles weizengelbes Leinen gekleidet in ihrer makellos weißen Küche sitzen und ein Glas Evian trinken. Die ruhige, nüchterne Bailey wird Kate genau erklären, was gerade passiert ist, und alles wird dadurch besser werden.
Tatsächlich hebt Bailey nicht ab. Vielleicht sitzt sie in Laufshorts und ein altes T-Shirt gekleidet im Garten und flirtet mit ihrem heißen jungen Gärtner.
Kate ruft stattdessen ihre Freundin Cara an, denn sie sucht verzweifelt jemanden, der sie beruhigt und ihr sagt, dass sich alles sehr bald zum Guten wenden wird. Doch Cara lässt das nicht sehr wahrscheinlich klingen. Kate legt verärgert auf. Was weiß Cara denn schon? Sie serviert einen Mann ja bereits ab, nur weil er es nicht schafft, einen Waschbrettbauch zu behalten. Kate sollte niemals mehr ihren Rat suchen.
Sie könnte Pete anrufen und sich anhören, was ein Mann zu dem Desaster zu sagen hat, aber er geht bestimmt ganz in seinen Hochzeitsvorbereitungen auf. Dabei will sie ihn nicht stören, die überschwängliche Liebesbegeisterung von Brautpaaren kurz vor dem großen Tag würde sie jetzt sowieso umbringen. Und so ruft sie als Nächstes ihre Nachbarin Emma an, die von Nick begeistert ist, seit er ihren Laptop repariert hat. Emma ist derselben Meinung wie Cara, und Kate beschließt, lieber nicht die Liste ihrer Freundinnen abzutelefonieren, nur um dieselbe negative Prognose immer wieder zu hören.
«Tut mir leid, aber er klingt wie ein Arschloch», sagt die junge Frau, die neben Kate im Bus sitzt und offensichtlich bei den Telefonaten die Ohren gespitzt hat, während sie vorgab, in der Grazia zu blättern.
«Kann ich verstehen. Aber Sie müssten ihn kennen, dann würden Sie ihn mögen. Alle mögen ihn. Er ist nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Zum Beispiel hat er letztes Jahr meinen Geburtstag vergessen …»
Der jungen Frau bleibt der Mund offen stehen.
«Er hat seinen eigenen Geburtstag ebenfalls vergessen! Er ist kein Autist, aber er lebt in seiner Blase aus Arbeit und Computerspielen. Er ist kein Held, was Emotionen angeht, das stimmt, aber er spielt auch nicht. Ich meine, er spielt Computerspiele, ja, aber Sie wissen schon, was ich meine …»
Die Frau schaut Kate an, als wäre sie verrückt.
«Er kocht phantastisch, er bereitet mir immer wieder wunderbare Mahlzeiten zu …»
Die junge Frau zuckt mit den Schultern. «Können Sie nicht selbst kochen?»
«Doch, natürlich … aber …»
«Aber was? Klingt nicht so, als wäre er die Mühe wert.»
Aber das ist er, denkt Kate. Nur kennt ihn einfach niemand so, wie ich ihn kenne.
Als wäre das Leben nicht schon schlimm genug, muss Kate sich auch bei Melanie entschuldigen, die sich zweifellos vor Schadenfreude überschlagen wird. Und das, obwohl Kate sich nur noch ins Bett legen möchte. Bei ihrer Rückkehr muss sie allerdings zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sämtliche Sachen aus ihrem Zimmer verschwunden sind und dass ihr bislang mit Büchern vollgestelltes Regal nun eine Sammlung gerahmter Fotos von ihr Unbekannten beherbergt.
Kate reißt den Kleiderschrank auf. Mehr als zehn Paar Jeans und ein Dutzend Kleider blicken ihr entgegen. Kate ergreift mit zittrigen Händen ihr Telefon.
Beim dritten Läuten hebt Melanie ab. «Hi.»
«Wem gehören die Sachen in meinem Zimmer?»
«Kate? Wie schön, du bist wieder da. Wie war dein romantischer Urlaub?»
«Melanie, lenk nicht ab. Wer hat in meinem Zimmer geschlafen.»
«Beruhige dich, Goldlöckchen, es war Steph.
«Wer?»
«Meine Squash-Partnerin. Sie hat das Zimmer übernommen. Das Timing hätte nicht besser sein können – in ihrer alten Wohnung in Tulse Hill hatte sie Mäuse.»
Squash? Mäuse? Tulse Hill? Was hat dieses Durcheinander von Worten zu bedeuten? «Aber das ist mein Zimmer.»
«Du ziehst doch bei Nick ein.»
«Das ist noch nicht sicher, und in jedem Fall habe ich bis Mitte August Miete bezahlt. Du wirst Steph sagen müssen, sie soll sich ein paar Mausefallen kaufen.»
«Sie hat einen Mietvertrag unterschrieben, der ab Anfang August läuft, ein rechtlich bindendes Dokument.»
«Schön, ich kaufe ihr die Mausefallen. Ethisch korrekte Lebendfallen.»
«Du hast mir klipp und klar gesagt, dass du früher weg sein würdest. Meinetwegen kannst du deine Taschen noch eine Woche im Schrank lassen, wenn dir das hilft …»
Kate legt auf und starrt an die Schlafzimmerdecke. In ihrem Kopf setzt ein schrilles Fiepen ein und zersägt alle Gedanken. Sie muss in einem früheren Leben etwas wirklich Furchtbares gemacht haben, womit hätte sie das hier sonst wohl verdient? Erst als ihr Handy zu läuten beginnt, bricht das Fiepen in ihrem Kopf ab.
Nick? Ist es Nick? Der Name auf dem Display raubt ihr den Mut.
«Aah, du bist zurück! War es schön?»
Kate kämpft darum, die Panik aus ihrer Brust zu vertreiben. «Könntest du mich bitte in der Wohnung abholen? Nein, nicht in Nicks Wohnung, in meiner. Nein … wirklich nicht … ich brauche nur für kurze Zeit dein Gästezimmer. Nein, es geht mir gut – aber ich möchte nicht über Einzelheiten sprechen, und ich möchte wirklich nichts von deinem therapeutischen Geschwätz hören, Mum, bitte, das meine ich ernst.»
Vielleicht war sie in ihrem früheren Leben Dschingis Khan, wenn man bedenkt, wie sich der Tag entwickelt hat.