In ihrem Alter zu Rita zurückzukehren, um bei ihr zu wohnen, war niemals Teil von Kates Lebensplan. Nicht dass sie je einen richtigen ‹Plan› gehabt hätte, aber wenn alles so gelaufen wäre, wie gedacht, dann hätte sie heute Abend Nick Hähnchen-Fajitas gemacht, um den Beginn ihres gemeinsamen Lebens zu feiern.

Ritas Wohnung ist nüchtern betrachtet vollkommen akzeptabel: eine Dreizimmerwohnung im Heathview-Gebäude, einem in den 1930ern errichteten Wohnblock im grünen Londoner Highgate. Doch sie hat die Wohnung vor zwanzig Jahren unmittelbar nach dem Tod von Kates Vater gekauft, daher bringt Kate Ritas neues Heim unwillkürlich mit dieser schrecklichen Zeit in Verbindung – immer noch. Sie hatte damals gerade begonnen, in Manchester Anglistik zu studieren. Über Weihnachten war sie nach Hause gekommen. Ihr Vater erhielt die Diagnose Anfang Januar. Ostern war er bereits tot. Ein Pankreaskarzinom hatte ihren fröhlichen, geliebten Dad innerhalb weniger schrecklicher Monate in ein kaum wiederzuerkennendes Skelett verwandelt. Kate war von seinem Leiden so traumatisiert, dass sie sich nur noch auf das konzentrieren konnte, was er ihr in seinen letzten geistig wachen Tagen aufgetragen hatte: «Kümmere dich um deine Mutter.»

Kate hatte vorgehabt weiterzustudieren, aber als sie schließlich Rita geholfen hatte, das Haus zu verkaufen, die neue Wohnung zu renovieren, sich mit neuem Schick

«Wenn du nicht zur Uni zurückgehst, brauchst du einen Job», sagte Rita damals. «Warum lässt du dich nicht zur Heilpraktikerin ausbilden? Es gibt so viele Menschen, die Mitgefühl und Hilfe brauchen, und die Stundensätze sind lukrativ.» In den letzten zwei Jahrzehnten ist Rita mit jeder zusätzlichen therapeutischen Qualifikation noch unausstehlicher geworden. Kate vermisst ihren weisen, sanften Vater jeden Tag.

Jetzt biegt Rita in ihre Parkbucht am Heathview-Gebäude ein, zieht die Handbremse und schnaubt. «Bist du mit Stummheit geschlagen?»

Kate schluckt und nickt. Wenn sie den Mund aufmacht, wird sie weinen, dabei hat sie das Weinen längst satt.

Rita dreht den Rückspiegel und bewundert ihr eigenes Spiegelbild. Mit einem manikürten Finger streicht sie sich über die glatte braune Kurzhaarfrisur, und die Silberarmreife an ihrem Handgelenk klimpern wohlwollend. In Kates Kopf hallt es nach, sie hat Kopfschmerzen.

Langsam wie eine Schlafwandlerin steigt sie aus dem Wagen und beginnt, ihre Taschen aus dem Kofferraum zu heben.

«Darling», sagt Rita, die neben sie tritt. «Ich würde dir gern helfen, aber …» Sie deutet unbestimmt auf ihre Leiste.

Kate mustert die Aufmachung ihrer Mutter – wie immer trägt sie weiße Jeans, eine ärmellose pinke Seidenbluse und schwindelerregend hohe scharlachrote Sandaletten, die für eine Seniorin viel zu viel vom gebräunten Zehenansatz sehen

«Es liegt nicht an den Schuhen, es sind meine Oberschenkelmuskeln. Derzeit arbeiten Cole und ich an unserer unteren Körperhälfte.»

Von Rita gefolgt, schleppt Kate eine ihrer Taschen ins Wohnhaus. Als sie das Schild an der Tür des Aufzugs sieht, lässt sie die Tasche wieder fallen.

«Oh, Shit.» Rita verzieht verärgert den Mund. «Sie warten auf ein Ersatzteil. Es kommt anscheinend erst nächsten Mittwoch. Das ist natürlich inakzeptabel, aber was soll man machen?»

Kate presst die Handballen auf ihre Wangenknochen und stößt ein leises Stöhnen aus.

«Darling», sagt Rita und zieht sie an sich. «Nimm dir nicht alles so zu Herzen.»

Aber es ist mein Herz, und es tut mir im wahrsten Sinne des Wortes weh, denkt Kate.

«In unserem Schmerz finden wir auch Segnungen.» Rita setzt ein heiteres Lächeln auf.

Ich bezahle ein Hotel oder schlafe in deinem Auto, so wahr mir Gott helfe. Kate kämpft sich aus Ritas Umarmung frei.

Sie fühlt sich so erschlafft wie ein zu früh aus dem Ofen geholtes Soufflé.

«Komm schon», sagt Rita und stützt sich auf Kates Schulter, während sie erst die eine und dann die andere Sandalette auszieht. «Bring die Taschen herein, dann tragen wir sie zusammen nach oben. Ein gutes Training für meine Gesäßmuskeln.»

 

Sie schaut auf Ritas Bücherregal. Ihre Mutter sagt immer, sie könnte schwören, dass Kate adoptiert sei, wäre da nicht ihre gemeinsame Liebe zu Büchern, aber Ritas Sammlung ist schlimmer als Nicks Algebra-Lehrwerke: Bemuttere dein inneres Kind, Licht in den dunkelsten Winkeln des Lebens. Kate blickt auf ihre Taschen, die in einer schwach erleuchteten Ecke gestapelt stehen. Praktisch gesehen, ist sie jetzt obdachlos. Trotzdem, warum sollte sie ihre Sachen auspacken? Dies ist nicht das Ende der Beziehung – das sagt ihr Bauchgefühl ganz eindeutig. Sie weigert sich, das alles persönlich zu nehmen. Nick ist ein gefühlsscheuer Mann, wie er im Buche steht. Das ist nicht seine Schuld, seine Eltern – eine überaus fromme Mutter und ein manisch-depressiver Vater, die inzwischen beide tot sind – waren in Nicks Kindheit emotional vollständig abwesend. Deswegen zieht sich Nick so oft in seinen Kopf zurück und verbringt leidenschaftlich gern unendlich viele einsame Stunden damit, ein Kreuzworträtsel

«Darling», unterbricht Ritas Stimme ihre Gedanken. «In fünf Minuten gibt es Abendessen.»

Kates Handy klingelt. Sie wühlt verzweifelt in ihrer Tasche, und erneut verlässt sie der Mut. Bailey ist nicht Nick.

Genug davon! Es wird Zeit, etwas Produktives zu tun. Sie steht auf, macht das Fenster auf und zündet sich eine weitere Zigarette an.

 

«Iss etwas», sagt Rita stirnrunzelnd und schiebt den Teller näher zu Kate. Sie hat Hähnchen-Kiew von Marks & Spencers und zwei Kartoffelwaffeln von Bird’Eye besorgt – Kates Lieblingsspeisen, als sie ein Kind war. «Nimm eine Waffel. Ich hab sie extra für dich aufgebacken.»

Misstrauisch beißt Kate eine Ecke ab. Die Waffel schmeckt säuerlich – das ist wahrscheinlich nicht Ritas Schuld, sondern liegt am Nachgeschmack des Nikotins.

«Also, was hast du gemacht, um ihn dazu zu bringen, dich abzuservieren? Du sagtest, er hat von Rückzug gesprochen. Was genau ist passiert?»

«Ich möchte nicht darüber reden.»

Rita klemmt sich eine Olive zwischen zwei Fingernägel

Warum nur hat sie das getan? Das war völlig überflüssig – all ihre Lieblingskochbücher von Jamie Oliver, Nigel Slater und ihrer geliebten Angela Hartnetts. Und als Strategie war es eindeutig nicht zielführend.

«Dann lass uns hinfahren und sie holen.» Rita stützt sich beim Aufstehen am Tisch ab. «Du brauchst ein sauberes Ende, damit du trauern kannst.»

Sanft berührt Kate ihre Mutter am Arm. «Mum, es ist nicht vorbei. Nick ist verwirrt. Am Flughafen klang es so, als wollte er keine Trennung …» Sie bricht hilflos ab.

Ritas Oberlippe zuckt. «Du muss das Ruder wieder übernehmen. Sag ihm, es heißt entweder ja oder nein.»

«Mum, das habe ich gemacht. Ich gebe ihm bis Ende des nächsten Monats Zeit.»

«Dann lässt du also fast acht Wochen lang den Kopf hängen, bis er dich metaphorisch gesprochen noch einmal ins Gesicht schlägt? Hör auf, das Opfer zu sein. Du musst die Haltung einer schönen, kraftvollen Frau annehmen, der die Männer zu Füßen liegen. Sophia Loren würde nicht herumsitzen und warten, Sophia Loren würde hinfahren und sich ihre Bücher holen. Allerdings würde Sophia Loren wahrscheinlich auch keine Beziehung mit einem Mann anfangen, dessen Weihnachtspartyscherz darin bestand, einen furzenden Roboter darzustellen …»

«Das war aus der Fernsehshow, die wir gesehen hatten! Und er war beschwipst. Er hatte gerade ein wunderbares Essen für uns gekocht, und du erinnerst dich nur an den Roboter?» Kates Augen füllen sich erneut mit Tränen, als sie daran

«Möchtest du einen Joghurt oder so?», fragt Rita. «Danach erstellen wir eine Liste der Dinge, die du vor deinem vierzigsten Geburtstag in deinem Leben unbedingt in Ordnung bringen musst.»

«Oh, Gott im Himmel, Mum, nein, bitte nicht heute Abend. Ich habe keinen Hunger. Mein Vierzigster ist noch lange hin. Und vorläufig bin ich in meinem Zimmer.»