„Findet ihr nicht, dass länger als gewöhnlich keine Gäste mehr angekommen sind?“, bemerkte Jay und sah fragend von Liam zu Biron. Die drei Freunde hatten es sich in Hängematten gemütlich gemacht, welche sie in einem kleinen Palmenhain zwischen dicken Stämmen gespannt hatten. Eins von Jays Beinen baumelte über den Rand, sodass sein großer Zeh den feinen Sandboden berührte. Das Meer befand sich in Sichtweite und lange Wellen rollten in ruhiger Gelassenheit an den Strand.
„Beschrei es nicht. Ist doch angenehm, sich mal nicht um andere kümmern zu müssen.“ Biron hielt einen Arm vor seine Augen, um sich vor dem hellen Sonnenlicht zu schützen, und blinzelte in Jays Richtung.
„Also wirklich böse bin ich deswegen auch nicht“, sagte Liam und fächelte sich mit einem Palmwedel Luft zu.
„Habe ich euch eigentlich schon mein neues Spielzeig gezeigt?“ Jay drehte sich zur Seite und holte einen länglichen, flachen Gegenstand aus der Gesäßtasche seiner kurzen Hose. „Guckt mal, ist das nicht cool?“ Mäßig interessiert hob Liam den Kopf, während Biron sich aufsetzte und die Hand danach ausstreckte.
„Los, gib mal her!“, forderte er forsch.
„Nichts da, du machst es mit deiner ungeschickten Flosse noch kaputt.“
„Ich hau dir mit meiner Flosse gleich was hinter die Ohren“, erwiderte Biron und wackelte zusätzlich auffordernd mit den Fingern. Schnaubend balancierte Jay das Ding auf seinem Zeigefinger, woraufhin es sich geradewegs in die Lüfte erhob und auf Biron zuschwebte. Begierig fing dieser es auf und schaute es sich von allen Seiten an. Die Vorderseite war schwarz verspiegelt, die Rückseite bestand aus glänzend schwarzem Metall. Er wischte hektisch über das Glas und plötzlich erschien ein blauer Hintergrund und eine Reihe bunter Kästchen. Als Biron es ein wenig bewegte, konnte Liam durch die einfallenden Sonnenstrahlen nicht mehr viel erkennen.
„Ja, knutsch ’nen Elch. Ist das ein Computer?“
„Fast. Es ist ein Telefon mit Computer drin“, krähte Jay begeistert. „Für die meisten Funktionen braucht man Internet, aber so was funktioniert hier ja leider nicht.“
„Internet?“
„Jepp, erinnert ihr euch noch an das Arpanet? Da hat man in den Siebzigern an Universitäten und Forschungseinrichtungen Großrechner vernetzt, um die Leistung effizienter zu machen. Daraus ist später eine weltweite Sache geworden. Jetzt kaufen die Leute im Internet ein, schauen Filme, hören Musik und was weiß ich noch alles. Telefone mit Wählscheiben, so wie wir sie kannten, gibt es nicht mehr. Du brauchst jetzt Funkwellen statt Kabel, um zu telefonieren.“
„Heftig, und woher hast du das Teil?“
„Na ja, weißt du“, begann Jay und stieß verlegen seinen Zeh in den Sand. „Ich habe mich gelangweilt und da habe ich die Süße gefragt, ob sie mich mal nachschauen lässt, was da draußen in der Welt so los ist.“
„Du hast was?“ Biron schwang die Beine aus der Hängematte, stellte sich hin und baute sich mit den Händen in die Seite gestemmt vor Jay auf. „Wir besuchen die Welt nicht zu unserem persönlichen Vergnügen. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?“ Ehe das Ganze eskalieren konnte, klinkte sich Liam in das Gespräch ein.
„Überleg dir gut, was du jetzt sagst, Biron. Wenn sie nicht wollte, dass er geht, hätte sie das Portal nicht geöffnet. Also bleib cool und reg dich ab!“ Biron atmete tatsächlich tief durch, schlug das flache Gerät ein paar Mal gegen seine Handinnenfläche und gab es schließlich an Jay zurück.
„Du hast recht. Es ist schade, dass wir es nicht richtig ausprobieren können, aber funktioniert wirklich gar nichts damit?“ Jay akzeptierte sofort den Waffenstillstand und nickte erfreut wegen Birons Interesse.
„Doch, es sind ganz viele Bücher drauf, lustige Spiele und krasse Musik.“ Er schenkte Biron ein schiefes Grinsen. „Wollen wir es uns gemeinsam anschauen?“ Als sie auffordernd zu Liam sahen, winkte dieser ab.
„Später vielleicht. Ich bin gleich mit den Jungs vom Bautrupp auf einen Drink verabredet.“
„Wie du meinst.“ Fachsimpelnd und dabei über das Gerät gebeugt, verschwanden Liams Freunde kurz darauf zwischen den Bäumen. Liam schloss die Augen und gönnte sich noch ein wenig Ruhe, die nur vom Rauschen der Wellen begleitet wurde.
Jays Ausflug in die reale Welt machte Liam bewusst, wie lange sie bereits auf Paraiso Haven, ihrem kleinen Paradies, lebten. Heute konnte er gar nicht mehr glauben, was für ein Unruhegeist er früher einmal gewesen war. Als Vampir allerdings nicht ungewöhnlich. Seine Rasse neigte zur Hyperaktivität. Möglicherweise hing das mit ihrer Schnelligkeit zusammen, dank derer sie sich in Windeseile von einem Ort zum anderen bewegen konnten. Da ihre Insel so winzig war, wurde diese Fähigkeit kaum benötigt. Am Anfang fand Liam das bedauerlich, aber mittlerweile störte es ihn nicht mehr. Immerhin nahm er auf diese Weise seine Umgebung gebührend wahr und wie schon erwähnt – ruhiger Geist und so weiter.
Er öffnete die Augen und betrachtete die leeren Hängematten, wo vor einigen Minuten noch seine Freunde gelegen hatten. Biron und Jay waren kein Paar und dennoch war ihre Beziehung zueinander inniger als die zu Liam. Obwohl es sich albern anhörte, fühlte er sich dadurch gelegentlich außen vor. Das waren die Momente, in denen er sich ebenfalls eine Person wünschte, die vollkommen auf einer Wellenlänge mit ihm liegt. Jemanden, dem er all seine kleinen Geheimnisse, Sorgen und Ängste anvertrauen konnte und der das Gleiche bei ihm tat. Vielleicht sollte er sich bemühen, zukünftig ein bisschen offener zu sein.
Liam pflegte zu allen Bewohnern von Paraiso Haven einen lockeren, freundschaftlichen Kontakt, so war das nicht. Es fehlte jedoch diese tiefe Verbundenheit, die er während ihres gemeinsamen Jobs zu Biron und Jay aufgebaut hatte. Traurig, wenn man bedachte, wie viele Jahre er die Insel bereits als sein Zuhause betrachtete. Zu seiner eigenen Verteidigung konnte Liam allerdings vorbringen, dass er selten Freizeit hatte, da meistens Gäste anwesend waren, um die er und seine Freunde sich kümmern mussten. Schluss jetzt! Es brachte nichts, über Dinge nachzudenken, die am Ende gar nicht wirklich wichtig waren.
Liam blieb dabei, dass er mit seinem Leben im Großen und Ganzen zufrieden war. Die Schrecken der Vergangenheit waren inzwischen nur noch eine schattenhafte Erinnerung und anderen zu helfen, etwas, das schiefgelaufen war, geradezubiegen, gab Liam ein gutes Gefühl.
Beschwingt verließ er die Hängematte, damit er ja nicht zu spät kam, um einen oder zwei der köstlichen tropischen Margheritas zu trinken, die niemand besser als Dallas, einer ihrer Gärtner, zusammenmixen konnte. Liam hielt das Gesicht in die Sonne und atmete die frische Brise des Ozeans ein. Er war sicher, dass bald ein Neuankömmling eintreffen würde und sehr gespannt darauf, welches neue Schicksal sie erwartete.