Kapitel 11 – Liam

 

„Sie haben Derick tatsächlich in eine Irrenanstalt einweisen lassen. Was meinst du, war es der alte Torres oder Robyn?“ Sie standen nebeneinander vor einem umzäunten weißen Gebäude, dessen vergitterte Fenster mit Milchglas versehen waren, und blickten in einen mit Blumen bepflanzten Innenhof.

„Vielleicht ist er ja wirklich verrückt“, sagte Liam, was Fabrice ein ungläubiges Schnauben entlockte. „Könnte doch sein und sein Auftritt bei der Verlobung war der letzte Tropfen, um ihn schließlich einweisen zu lassen.“

„Das ist doch nicht dein Ernst?“

„Bei einer normalen Familie, wieso nicht? Bei dieser speziellen kommt es einem schon komisch vor. Wir müssen also unbedingt da rein und mit ihm sprechen.“

„Ich denke nicht, dass wir da einfach hineinspazieren können. Sie werden einen Ausweis oder eine Besuchsbestätigung sehen wollen.“ Fabrice lehnte sich gegen den Zaun und zog seine Unterlippe zwischen die Zähne, während er nachdachte.

„Jetzt wäre es doch ganz praktisch, wenn ich Gedanken manipulieren könnte, was?“

„Hm?“ Fabrice schreckte hoch, dann öffnete er mit einem erfreuten Aufschrei seinen Beutel, der immer noch um seinen Hals hing. „Ich hab’s!“ Triumphierend hielt er Liam eine Plastikkarte vor die Nase. „Mein Firmenausweis. Es steht kein Ausstellungsdatum drauf, aber dafür, dass ich Mr Torres’ Privatsekretär bin. Ich werde am Empfang sagen, dass ich in seinem Auftrag hier wäre, um nach dessen Sohn zu sehen.“

„Ja, das könnte funktionieren“, antwortete Liam. „Es wird nur schwierig, mich mitzunehmen.“

„Das stimmt, aber wir behaupten einfach, du wärst der Chauffeur und dann lassen sie dich bestimmt im Flur warten. Was meinst du?“

„Machen wir es so.“

Als sie in schlichte Bluejeans und schwarze Poloshirts gekleidet die Nervenklinik betraten, war es Fabrice routiniertem Auftreten zu verdanken, dass ihre Geschichte glaubwürdig herüberkam. Fabrice beschwerte sich hinter vorgehaltener Hand bei den zwei Pflegerinnen, dass ihr Chef sie an ihrem freien Tag hierherbestellt hätte. Aber was bliebe einem armen Angestellten schon übrig, wenn er nicht seinen Job verlieren wollte. Damit sprach er den beiden Fuchswandlerinnen anscheinend aus der Seele, denn sie kontrollierten seinen Ausweis nur flüchtig und füllten sogar das Besuchsformular für ihn aus.

Auf dem Weg zu Dericks Zimmer tratschten sie dann darüber, wie traurig sie es fänden, dass der arme Mann bisher nur einmal Besuch erhalten hätte. Außerdem lobten sie seine guten Manieren, gaben jedoch zu, dass er gelegentlich sehr nervös und verwirrt wirkte.

„Ich werde ihn ganz bestimmt nicht aufregen“, versprach Fabrice und legte der einen Schwester zutraulich eine Hand auf den Unterarm, was sie deutlich erröten ließ. Danach war er in Dericks Krankenzimmer verschwunden und Liam wartete seitdem auf einem der unbequemen Plastikstühle im Flur auf seine Rückkehr. Es kam ihm so vor, als würde die Zeit langsamer als normal vergehen. Jedes Mal, wenn ihn eine der Pflegerinnen mit einem verschwörerischen Blick bedachte, lächelte er ihr bemüht freundlich zu.

Du wirst nicht glauben, was ich alles herausgefunden habe.

Liam schaute in Richtung Flur, der ebenso leer vor ihm lag wie noch vor wenigen Minuten. Erst da begriff er, dass Fabrice über ihre mentale Verbindung mit ihm sprach. Es war immer noch komisch, auf diese Art miteinander zu kommunizieren.

Ich bin gespannt. Brauchst du noch lange?

Nein, ich komme in zwei Minuten raus.

Als die Pflegerin losging, um Fabrice abzuholen, stand Liam auf und reckte sich, um seine verspannten Muskeln zu lockern. Er freute sich darauf, die Anstalt zu verlassen. Normalerweise konnte er die Gedanken anderer ausblenden, bei psychisch Kranken klappte das nur bedingt. Ihre Gedankenwelt war oft unvorhersehbar, konfus und ausgesprochen verwirrend. Menschen waren anfälliger für Geisteskrankheiten, aber er konnte auch Gedankenfetzen von Wandlern, einer Hexe und zwei Vampiren aufschnappen. Die Hexe war durch Trauer in eine Depression gerutscht und würde sich erholen. Bei einem Pferdewandler sah Liam schwarz, da kaum noch normale Nervenbahnen in seinem Gehirn verliefen. Liam blinzelte die verzerrten Bilder weg, als Fabrice ihn an der Schulter berührte.

„Ist alles okay?“ Er nickte und gemeinsam begaben sie sich zum Ausgang.

„Erzähl schon“, bat Liam. „Wurde Derick gegen seinen Willen hergebracht oder ist er wirklich krank?“

„Hast du nicht seine Gedanken gelesen?“, fragte Fabrice neckend, worauf Liam abrupt stehen blieb.

„Das konnte ich tatsächlich nicht.“ Kein Gemurmel, kein Rauschen, gar nichts. „Sag mir, was er dir erzählt hat!“ Nachdem Fabrice einmal kräftig Luft geholt hatte, legte er los.

„Torres senior und sein Enkel sind nicht für Dericks labile Psyche verantwortlich, sie kam dem Alten jedoch ganz gelegen. Derick ist nach dem Tod von Robyns Mutter zusammengebrochen und hat sich nie wieder vollständig von diesem Verlust erholt. Er meinte, dass er nur Robyn zuliebe weitergelebt hätte.“

„Waren sie Seelenpartner?“, wollte Liam wissen, woraufhin Fabrice die Hand ausstreckte und ihre Finger miteinander verschränkte. Sie schauten sich tief in die Augen und Liam hob ihre verbundenen Hände, um Fabrice’ Fingerknöchel zu küssen.

„Ich bin nicht sicher. Jedenfalls war er in der ersten Zeit nach ihrem Tod nicht dazu in der Lage, sich um Robyn zu kümmern, weswegen die Aufgabe sein Vater übernahm. Es dauerte fast zwei Jahre, bis er ihn zurückholte. Robyn, inzwischen ein Teenager, wirkte wie ausgewechselt und Derick bekam keinen Zugang mehr zu ihm. Daran hat sich bis heute nichts geändert und Derick machte seinen Vater dafür verantwortlich.“

„Hast du gefragt, ob Robyns Mutter eine Löwenwandlerin war?“

„Nein, habe ich nicht.“

„Dann müssen wir noch mal zurück und Derick fragen.“ Liam drehte sich um, wurde jedoch von Fabrice aufgehalten.

„Warte, er hat es von sich aus erwähnt. Derick nannte sie seine kleine Zauberfee. Der alte Torres war nicht begeistert, eine Hexe in der Familie zu haben. Vor allem, weil sie so viel Einfluss auf Derick hatte. Als sich Robyn mit drei Jahren in ein Löwenjunges verwandelte, war er sehr erleichtert.“

„Ich wusste es. Nur eine Hexe oder ein Hexenmeister können einen Geist so stark abschirmen, dass ich rein gar nichts empfange. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Robyn nur ein halber Wandler ist.“ Liam rieb gedankenverloren mit der Hand über seinen Bartschatten.

„Selbst wenn du recht hättest, wieso ist das wichtig?“

„Es wäre eine Erklärung, wie Artikel aus dem Internet verschwinden und Gift wie von Zauberhand in eine Karaffe mit Wasser gelangen konnte.“ Fabrice riss sich von Liam los und wedelte abwehrend mit den Händen.

„Nein, das kann nicht sein. Robyn würde nie …“ Seine nächsten Worte gingen in dem Lärm unter, den vier Männer in Kampfanzügen verursachten, als sie die Eingangstür aufstießen. Zwei Elementare und zwei Bärenwandler stampften auf sie zu, wobei ihre Stahlkappenstiefel den Krankenhausboden zum Beben brachten. Drei der Männer schotteten ihre Gedanken sehr gut ab, aber glücklicherweise war einer der Bären noch jung und nicht so erfahren. Liam schnappte auf, weswegen sie gekommen waren. Ihr Auftrag lautete, Fabrice und ihn einzufangen – und ihr Auftraggeber war der entstellte Kerl mit der Kapuze.

„Lauf!“, rief Liam, packte Fabrice’ Handgelenk und rannte mit ihm den Gang hinunter, in dem sich auch Dericks Zimmer befand. Am Ende bogen sie um die Ecke, eine Sekunde, bevor hinter ihnen ein Blitz in die Wand einschlug. Die vier Männer kamen näher und Liam hoffte, dass sie rasch einen Ausgang fanden, da er mit dem Frettchenwandler an seiner Seite keine Vampirgeschwindigkeit einsetzen konnte. An der nächsten Ecke schien sie ihr Glück jedoch bereits zu verlassen, denn der vor ihnen liegende Gang endete an einer Außenmauer.

„Ein Notausgang.“ Fabrice zeigte mit dem Finger auf ein kleines Schild über einer Schwenktür. Sie sprinteten darauf zu und Liam bewegte den Riegel zur Seite, ehe er sich dagegen warf. Sie fielen fast hindurch und entgingen erneut nur knapp einem Energieball. Anstatt der belebten Hauptstraße erstreckte sich eine enge Nebengasse vor ihnen, in der es keinerlei Möglichkeit gab, in Deckung zu gehen.

„Wir schaffen es nie bis zum Auto“, jammerte Fabrice und klammerte sich an Liams Arm, wobei er sich hektisch umsah.

„Da vorn ist eine Feuerleiter. Die klettern wir rauf“, bestimmte Liam und schob Fabrice praktisch hinauf. Sie hatten erst vier oder fünf Stufen erklommen, als ihre Verfolger aus dem Notausgang traten. „Wir könnten dringend Hilfe gebrauchen, Süße“, murmelte Liam, während er unermüdlich Fabrice folgte. Weit kamen sie allerdings nicht. Ein neuer Energieball, der blau leuchtete und vor Elektrizität knisterte, verfehlte sie und traf die Mauer wenige Zentimeter neben ihnen. Der zweite erreichte jedoch sein Ziel und erwischte Liam am Bein, der sich daraufhin nicht mehr festhalten konnte und abrutschte. Fabrice wollte nach ihm greifen, verlor jedoch selbst den Halt, sodass sie beide von der Leiter fielen.

Liam kam hart auf und brauchte einen Moment, bis sich die schwarzen Flecken vor seinen Augen verflüchtigten. Öffnen konnte er sie noch nicht, deshalb konzentrierte er sich auf mögliche Verletzungen. Wenn er von der Stärke seiner Schmerzen ausging, schien nichts gebrochen zu sein. Sein Kopf brummte zwar, was nicht verwunderlich war, und der Unterschenkel tat ihm weh.

„Liam, geht es dir gut? Wo bist du gewesen?“

„Fabrice?“, fragte er mit krächzender Stimme und zwang sich dazu, seine Augen aufzukriegen.

„Nein, wir sind’s, Biron und Jay. Was ist passiert?“ Liam setzte sich trotz seines schmerzenden Schädels auf und blickte sich um. Er saß neben einer der Liegen am Strand und von ihren Verfolgern war weit und breit nichts zu sehen.

„Geht es Fabrice gut?“ Liam stand mühsam auf und fluchte kräftig dabei.

„Das wissen wir nicht. Er ist nicht bei dir gewesen.“

„Das kann nicht sein. Die Süße hat uns gerettet. Bestimmt ist er bloß woanders auf der Insel gelandet.“ Biron stützte ihn, indem er ihn am Oberarm festhielt, und schüttelte gleichzeitig den Kopf.

„Liam, glaub mir. Er ist nicht hier.“