X

Brückenthermen, eine Viertelstunde später

[11:40 h]

»Wenn du so weitermachst, Gaius, kannst du dein Bein abschreiben«, Valerius Probus, Varros Freund, machte seinem Ärger durch ein Kopfschütteln Luft. »Beim Stab des Asklepios – wie kann man nur so unvernünftig sein!«

»Wieso? Mir geht’s doch blendend.«

»Noch so eine Bemerkung, und du Möchtegern-Tacitus kriegst es mit mir zu tun!«, fuhr der ehemalige Militärarzt, mit dem Varro einen Großteil seiner Dienstzeit verbracht hatte, seinen Patienten an und bestrich dessen Oberschenkel mit Salbe, einer Mischung aus Heilkräutern, Tierfett und Sesamöl. »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«

»Nichts«, räumte Varro ein, in der Hauptsache, um Ärger aus dem Weg zu gehen. Probus war nicht gerade bester Laune, was angesichts der Hitze, unter der die Stadt ächzte, auch kein Wunder war. »Beziehungsweise nicht viel.«

»Typisch Gaius, immer mit dem Kopf durch die Wand.«

»Das sagt gerade der Rich … Au! Nicht so fest, du Viehdoktor!«

»Auch noch wehleidig, so haben wir’s gern.« Am Ende seiner Behandlung tauchte Probus, drei Jahre älter, aber fast zwei Köpfe kleiner als Varro, die Hände in die bereitstehende Wasserschüssel und trocknete sie mit einem Leinentuch ab. »Wie pflegt mein Freund, von Beruf Hinterhofadvokat, doch zu sagen: ›Jeder kriegt, was er verdient.‹« Die Hände auf den Knien, nahm der Medicus, auf den nicht nur Varro große Stücke hielt, den Gefährten gemeinsam gemeisterter Gefahren mit strenger Miene ins Visier. Die Pose, an der er sich versuchte, war freilich nicht von Dauer. Valerius Probus war ein fröhlicher, dem Wein, ausgiebigen Tafelfreuden und der Geselligkeit zugeneigter Mensch und somit das exakte Gegenteil seines Freundes, der erst dann richtig aufblühte, wenn er sich in seinem Studierzimmer aufhielt. Sein Lachen, welches durch Mark und Bein ging, wirkte ansteckend, und das gleiche galt für die Art, wie er die Widrigkeiten des Lebens meisterte. Von Natur aus Optimist, kam das Wort ›aussichtslos‹ in seinem Wortschatz nicht vor, was Varro, der die Dinge eher nüchtern betrachtete, durchaus zu schätzen wusste. Weniger begeistert war er hingegen über seinen Hang zum Alkohol, auf den Probus, wie sein Patient mit Sorge registrierte, auch heute nicht verzichtet hatte.

Der Medicus trank entschieden zu viel, und das sah man ihm auch an. Ohnehin kein Adonis, wies die Knollennase, welche dem Arzt mit dem Bacchantengesicht ein unverwechselbares Aussehen verlieh, eine tiefrote Färbung auf, und Varro fragte sich, ob es nicht an der Zeit war, ein ernstes Wort mit ihm zu reden. Doch dann, wie aus heiterem Himmel, war da wieder dieses Lachen, und er beschloss, seine Moralpredigt auf unbestimmte Zeit zu verschieben. »Ist was – oder warum guckst du so belämmert aus der Wäsche?«

»Nichts, was soll denn sein?«

»Komm schon, Gaius, mir kannst du nichts vormachen«, forderte ihn der Medicus auf, dessen Tunika mit dem Lebenswandel des Arztes perfekt harmonierte. Probus, schmuddelig, unrasiert und konsequenterweise auch ungekämmt, scherte sich jedoch nicht darum. »Oder hast du seit Neuestem Geheimnisse vor mir?«

»Red keinen Unsinn, Probus.«

»Einverstanden – und jetzt raus mit der Sprache!«

»Na schön, wenn du meinst.« In Gedanken bei dem Drohbrief, der ihm auf dem Forum zugesteckt worden war, ließ Varro den Saum seiner Toga über die Knie fallen, räusperte sich und warf einen Blick in die Runde. Niemand, so schien es, befand sich in Hörweite, und keiner der Müßiggänger, welche die Palästra bevölkerten, schien Probus oder ihn zu beachten.

Varro runzelte die Stirn. Hier, im Vorhof der größten Thermenanlage Galliens, herrschte in der Tat reger Betrieb. Dennoch oder gerade deswegen musste alles seine Ordnung haben. Die Vormittage, das heißt die Zeit von Sonnenaufgang bis zur sechsten Stunde, waren den Frauen vorbehalten, Nachmittage und Abendstunden den Männern. Die Thermen, so weiträumig sie auch sein mochten, waren jedoch nicht nur zum Baden da. Außer Probus, der seine Patienten verarztete, gab es mindestens ein halbes Dutzend Ärzte, die ihre Dienste anboten, wie gründlich sie diese verrichteten, hing von der Zahlungsfähigkeit der Kranken ab. Für Geld konnte man hier nämlich alles kaufen, angefangen bei Speisen und Getränken, über Salböl, Schminke und diverse Tinkturen, bis hin zu der Kunstfertigkeit der Masseure, Enthaarer und Bartscherer, welche es gleich dutzendweise gab. Ob Greis oder Jüngling, arm oder reich, Ratsherr oder Tagelöhner, jeder kam auf seine Kosten. Wer Zerstreuung suchte, lauschte den Musikanten, die vor dem Torbogen aufspielten, wem der Sinn nach Höherem stand, dem Wortgefecht zweier Philosophen, wer auf Neuigkeiten aus war, der hitzigen Debatte, welche sich am Eingang zum Kaltbadesaal entspann. Wunderheiler priesen ihre Präparate an, darunter solche zur Steigerung der Manneskraft, Rhetoren ihre Traktate, Gelehrte ihre Abhandlungen, die sie für teures Geld unters Volk brachten. Neben all dem kam die Körperertüchtigung, vom Baden abgesehen, ebenfalls nicht zu kurz. Zwei Ringer, ihrer Haartracht nach zu urteilen Barbaren, wetteiferten um den Sieg, umringt von einer Menschentraube, welche sie lauthals anfeuerte. Nur wenige Schritte davon entfernt fand ein Wettlauf statt, und wen dies nicht interessierte, der stemmte Hanteln oder gab sich der Geselligkeit, will heißen, dem Würfelspiel, hin.

Nicht in der Stimmung, um Konversation zu betreiben, wanderte Varros Blick ins Leere. Je mehr die Zeit voranschritt, desto größer wurden die Menschenmassen, die sich vom Decumanus aus durch den Torbogen drängten. Wer konnte, nahm Reißaus vor der Hitze, welche Stadt und Umgebung in einen Glutofen verwandelte, begab sich ins Bad, ließ sich massieren, tauschte Neuigkeiten aus, trank hie und da einen Schluck. Varro indes verspürte keine Lust, sich unter die Menge zu mischen, und je länger er inmitten des Trubels verweilte, desto stärker wurde sein Gefühl, beobachtet zu werden.

»Sag mal, was ist denn eigentlich los?« Es war das Organ von Probus, wie stets nicht zu überhören, das ihn wieder in die Gegenwart zurückholte, und Varro hatte Mühe, sich wieder auf das zuvor unterbrochene Gespräch zu konzentrieren. »Leidest du unter Verfolgungswahn?«

»Wieso?«

»Seit du mir gegenübersitzt, hast du dich ein halbes Dutzend Mal umgeschaut. Wenn das normal ist, will ich Gaius Julius Cäsar heißen.« Mit der Geduld am Ende, packte der Arzt sein Besteck zusammen, seufzte und nahm einen Schluck aus dem Weinschlauch, der stets griffbereit neben seinem Scherenstuhl lag. »Entweder du sagst mir jetzt, was los ist, oder …«

»Schon gut, Probus – tut mir leid.« Ohne auf die Umstehenden zu achten, beugte sich Varro nach vorn und begann zu erzählen. Als er geendet hatte, war er sichtlich erleichtert, was man von Probus, welcher die Schilderung kommentarlos verfolgt hatte, allerdings nicht sagen konnte.

»Weißt du was, Gaius?«, sprach der Medicus, wobei er es vermied, Varro in die Augen zu schauen. Dann gab er ihm den Pergamentstreifen zurück, auf den der Anwalt im Verlauf seines Berichts zu sprechen gekommen war. »Ich finde, du solltest die Finger davon lassen.«

»So, findest du.«

»Ja, und das aus tiefer Überzeugung.«

»Darf man erfahren, weshalb?«

»Na klar.« Probus setzte den Weinschlauch an den Mund und trank, als ob er am Verdursten wäre. »Verzeihung, Tribun, aber …«

»Dekurio – zum hundertsten Mal!«

»Sag ich doch.« Der Medicus gab einen herzhaften Rülp­ser von sich und sprach: »Du fragst, warum ich dir davon abrate, den Kasus weiter zu verfolgen?«

Varro nickte.

»Ich will es dir sagen: Weil ich keine Lust habe, dich noch mal zusammenzuflicken.«

»Jetzt übertreibst du aber, alter Freund.«

»Frage, Herr Anwalt: Bist du so blauäugig oder tust du nur so? Die Sache stinkt – und zwar gewaltig. Da geht es um Geld, um Unmengen von Geld.«

»Darum geht es immer.«

»Unter die Philosophen gegangen, wie? Wie auch immer, halt dich da raus, Gaius. Sonst werden sie dich eines Tages aus der Mosel ziehen.«

»Zu deiner Information, Probus: Ich kann schwimmen.«

Der Medicus lief vor Wut rot an. »Ich frage mich, was daran so witzig ist, Gaius!«, wetterte er. »Aber wenn du willst – bitte schön! Dann lässt du es eben drauf ankommen. Eins aber kann ich dir gleich sagen: Wenn du in der Klemme sitzt, sieh zu, wo du bleibst. Was mich betrifft, hab ich keine Lust, mich mit Kriminellen anzulegen.«

»Oder mich zusammenzuflicken – schon kapiert.« Varro machte ein nachdenkliches Gesicht. In diesem Punkt musste er Probus recht geben: Der ehemalige Tribun, ausgesandt, um Britannien zu befrieden, verdankte dem Legionsarzt außer Dienst sein Leben. Daran gab es nichts zu rütteln. Nur wenige Augenblicke, nachdem der Speer seinen Oberschenkel durchbohrt hatte, war Probus zur Stelle gewesen, wie so häufig, wenn Varro mit Problemen zu kämpfen gehabt hatte.

Die Hand auf dem Oberschenkel, verfiel Varro erneut ins Grübeln. Wieder einmal und wider Willen war er gezwungen, der Vergangenheit ins Auge zu sehen. Er sah den jungen Tribunen vor sich, gerade einmal 25, der den nach Londinium zurückflutenden Truppen des Allectus auf den Fersen war und der den Streitwagen, welcher auf ihn zupreschte, zu spät bemerkt hatte. Das Rattern der Wagenräder im Ohr, war Varro herumgewirbelt, just in dem Moment, als der Krieger, welcher neben dem Wagenlenker stand, zum Wurf ausholte. Zu spät!, war es ihm durch den Kopf gefahren, bevor die Metallspitze in sein Bein eindrang, am Oberschenkelknochen entlangschrammte, eine klaffende Wunde riss und ihn wie ein Orkan, der wie aus dem Nichts über das Schlachtfeld gefegt war, von den Füßen holte. Doch damit nicht genug. Fast ebenso plötzlich war vor ihm ein fränkischer Söldner aufgetaucht, bärtig, hünenhaft und mit einem blutverschmierten Schwert in der Hand. Das ist das Ende!, hatte Varro gedacht, und sein Entsetzen war so groß gewesen, dass der Schmerz, welcher ihn soeben noch durchzuckt hatte, wie weggeblasen war.

Doch dann, als der Gefolgsmann des Allectus zum Todesstoß ausgeholt hatte, wendete sich das Blatt. Nur eine Handbreit vom Elysium entfernt, wehrlos, kampfunfähig und der Bewusstlosigkeit nahe, hatte Varro auf den Söldner gestarrt, aus dessen Leib eine Schwertspitze herausragte. Als begreife er nicht, wie ihm geschah, hatte der Barbar innegehalten, die Hände am Schwertknauf und die Augen weit offen. Dann aber, von einem Moment auf den anderen, war es vorüber gewesen. Der Kopf des Kriegers, aus dessen Mund bereits Blut sickerte, war nach hinten gekippt, der Körper ins Taumeln geraten und das Schwert, mit dem er ihm den Garaus hatte machen wollen, zu Boden geglitten.

Am Ende, nachdem alles vorüber gewesen war, hatte sich eine Gestalt in sein Blickfeld geschoben, blutverschmiert, schmutzverkrustet, abgekämpft, aber ein müdes Lächeln im Gesicht. Ein Lächeln, welches er zeitlebens nicht vergessen würde. Wäre sie nicht aufgetaucht, hätte selbst Probus, mit dem er von da an durch dick und dünn gegangen war, nichts mehr ausrichten können.

»Na, schlauer geworden?«

»Wie man’s nimmt, Probus – wie man’s nimmt.« Entschlossen, das Thema ruhen zu lassen, atmete Varro tief durch und hantierte umständlich an seinem Ring herum. »Ich bin sicher, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.«

»Du hältst ihm immer noch die Treue, stimmt’s?«

»Hand aufs Herz, alter Freund: Wärst du an meiner Stelle, würdest du es nicht genauso halten?«

»Auf die Gefahr, undankbar zu erscheinen: Ich weiß nicht, wie ich es diesbezüglich halten würde.«

»Ich verdanke ihm mein Leben, Probus. Genau wie dir.«

»Stimmt. Aber musst du ihm deshalb auf ewig dankbar sein?« Bedacht, die Worte sorgfältig zu wählen, legte Probus eine Pause ein. Dann sagte er: »Sieh mal, Gaius, seit damals sind mehr als eineinhalb Jahrzehnte vergangen. Das solltest du nicht vergessen.«

»Tu ich auch nicht.«

»Na also. Wenn dem so ist, weißt du auch, wie viel sich seit damals geändert hat.« Kein Freund großer Worte, holte Probus tief Luft und rückte bis auf Armlänge an Varro heran. »An der Hand dieses Mannes klebt Blut, das weißt du so gut wie ich. Das Blut seines Schwiegervaters, das Blut seiner Rivalen, die er einen nach dem anderen ausgeschaltet hat, das Blut von Senatoren, die nicht nach seiner Pfeife getanzt haben.«

»Schon gut, Probus, ich verstehe, was du meinst.« Entschlossen, nicht mehr Staub aufzuwirbeln als nötig, stand Varro auf, verpasste dem Medicus einen Klaps und wechselte abrupt das Thema. »Was ich noch sagen wollte – wie geht’s eigentlich deiner Frau?«

»Porcia?«, antwortete Probus, ein Lächeln im Gesicht, das Varro nicht recht zu deuten wusste. »Der geht’s gut.«

»Und den Kindern?«

»Du, Gaius?«

»Ja, was gibt’s?«

»Kann ich dich mal was fragen?«

»Nur zu, Probus – sprich dich aus.«

»Was würdest du tun, wenn deine Frau … Wie soll ich sagen? … Was würdest du tun, wenn deine Frau plötzlich zu spinnen anfängt?«

»Wie bitte? Das musst du mir erklären.«

Anstatt zu antworten, nestelte der Medicus an seiner Tunika herum. »Ich weiß nicht, aber irgendwie ist Porcia in letzter Zeit ziemlich komisch geworden. So … so sanftmütig, falls du verstehst, was ich meine.«

Und ob er verstand, was der Medicus meinte. Wer mitbekam, wie Porcia mit Probus umsprang, würde nie mehr im Leben Heiratspläne schmieden. Das war so sicher wie die Tatsache, dass Rom die Herrin des Erdkreises war. »Sanftmütig, sagst du? Bei Hera, da stimmt was nicht!«

»Obacht, Gaius – sonst machst du dich bei ihr unbeliebt.«

»Unbeliebt?«

»Weil du es wagst, einen heidnischen Gott anzurufen. Das gibt Ärger – und was für welchen!«

»Moment mal: Soll das etwa heißen, sie …«

»Sie hat sich in den Kopf gesetzt, Christin zu werden – genau.«

»Na und? Was ist daran so schlimm?«

Noch röter als sonst, sprang der Medicus auf und fuchtelte wie ein Tobsüchtiger mit den Armen herum. »Was daran so schlimm ist, willst du wissen? Da hört sich ja wohl alles auf!« Probus war völlig außer sich. »Irre ich mich, oder haben sie diesen … diesen … Wie hieß dieser Aufrührer doch gleich?«

»Jesus.«

»Genau! Haben sie ihn ans Kreuz genagelt, ja oder nein?«

»Gewiss.«

»Na also, und jetzt kommst du daher und behauptest, alles sei nicht so schlimm. Bacchus hilf – ich muss gleich kotzen!«

»Seit damals sind fast 300 Jahre vergangen, Probus.« An Gefühlsausbrüche dieser Art längst gewöhnt, ließ sich Varro nicht aus der Ruhe bringen. »Jupiter, Mithras, Isis, Kybele –wem die Leute huldigen, ist doch wohl egal.«

»Dir vielleicht, aber mir nicht.«

»Und wieso?«

»Wenn dich einer auf die linke Backe schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Bei Hades, was für eine Heuchelei! Weißt du was, Gaius? Dieser jüdische Rabbiner mitsamt seinem Gewäsch kann mir gestohlen bleiben. Und zwar ein für alle Mal.« Der Medicus stieß einen Schwall Atemluft aus und machte eine abfällige Geste. »Haut dir jemand auf die Schnauze, dann gibt’s nur eins: zurückschlagen, dass es nur so kracht!«

»Immer mit der Ruhe, alter Freund. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.« Die Hände auf den Knien, stieß Varro einen leisen Seufzer aus. Weit entfernt, mit den Christen zu sympathisieren, regte sich dennoch Unbehagen in ihm. Gewalt, so berechtigt sie auch sein mochte, war kein Mittel, um Zwistigkeiten zu bereinigen. Wer Gebrauch davon machte, der würde wieder Gewalt ernten. Wenn es eine Lehre gab, die er aus seiner Militärzeit gezogen hatte, dann diese. »Der Kaiser wird gewusst haben, was er tut.«

»So, meinst du.« Probus schnitt eine Grimasse. »Ob du es hören willst oder nicht, Gaius: Vor knapp sechs Wochen war die Welt noch in Ordnung. Zumindest für mich.«

»Was ist denn schon groß anders geworden, Probus! Das Edikt von Mediolanum vom letzten Monat besagt doch nur, dass alle Religionen von jetzt an gleichberechtigt …«

»Aber das ist es ja gerade, Gaius! Gib einem Christen den kleinen Finger, dann schnappt er sich die ganze Hand.«

»Jetzt übertreibst du aber.«

»Findest du? Dann schau dich mal um, du Traumtänzer! Ladenbesitzer und Laufburschen, Reeder und Hafenarbeiter, Gelehrte und Analphabeten – überall wimmelt es bereits von ihnen.« Sichtlich aufgebracht wanderte der Arzt hin und her. »Wenn wir so weitermachen, mein Freund, dann sind Leute wie du und ich bald in der Minderheit. Dann können wir einpacken, das garantiere ich dir.«

»Jeder so, wie es ihm passt, oder? Damit ist Rom seit jeher gut gefahren.«

»Mag sein – die Frage ist nur, wie lang noch.«

Varro stutzte. »Was soll denn das schon wieder heißen?«, fragte er und begleitete die Replik mit einem Stirnrunzeln. »Sag bloß, du bist unter die Propheten gegangen!«

»Prophet oder nicht – eines, mein Freund, weiß ich genau: Wenn diese Christen am Ruder sind, können wir uns auf was gefasst machen. Dann ist es mit Jupiter, Belenus und wie sie alle heißen, vorbei.« Probus hob mahnend den Zeigefinger. »Darauf, Herr Anwalt, kannst du Gift nehmen.«

»Der Kaiser wird schon wissen, was er tut.«

»Du wiederholst dich, Gaius.« Auge in Auge mit seinem Freund schnappte der Medicus nach Luft. »Weißt du, was ich glaube, Gaius? Der Imperator hat sich längst von ihnen einwickeln lassen.«

»Der Kaiser, ein Christ? Kann es sein, dass du zu tief ins Glas geschaut hast?«

»Abwarten, Herr Stadtrat – und Rotwein trinken.« Wie nicht anders zu erwarten, ließ Probus seiner Ankündigung Taten folgen. »Aber nimm ihn ruhig weiter in Schutz, Gaius. Ich kann dich nicht daran hindern. Eines aber glaube mir: Was den Kaiser angeht, liegst du falsch. Dieser Emporkömmling führt nichts Gutes im …«

»Staatsfeindliche Hetze und Verunglimpfung des Kaisers – wenn du so weitermachst, Probus, landest du im Kerker«, ertönte plötzlich eine dritte Stimme.

»… Schilde.«

»Impudicus. Auch das noch.« Eine Erwiderung auf den Lippen, brach Varro ab, stieß einen Stoßseufzer aus und nahm wieder Platz. »Heute bleibt mir nichts erspart.« Dann musterte er den Magistrat, mit dem er wiederholt aneinandergeraten war. »Und aus welchem Grund, Stadtpräfekt?«

Flavius Sabinus, bei Hoch und Niedrig als ›Der Lüstling‹ bekannt und verhasst wie kaum ein Zweiter, watschelte hoch erhobenen Hauptes auf seinen Ratskollegen zu, rümpfte die Nase und erachtete es offenbar für überflüssig, Varro zu begrüßen. »Weil es mir so gefällt, Gaius – weshalb denn sonst?«

»Dekurio, wenn ich bitten darf. Sonst heißt es noch, dass wir befreundet sind.«

Fast ebenso groß wie Varro, doch mehr als doppelt so schwer, stieß der Präfekt ein affektiertes Lachen aus und bedeutete seinem Leibsklaven, ihm Luft zuzufächeln. »Weißt du, was ich an dir so schätze, Gaius?«, höhnte er, die Mundwinkel, in welche seine wulstigen Lippen mündeten, mit Speichel verklebt. »Nein? Deine Offenheit. Guck nicht so, das ist die Wahrheit!«

»Die Wahrheit, Herr Kollege, ist eine alte Dirne, die sich dem Meistbietenden an den Hals zu werfen pflegt.« Varro setzte ein treuherziges Lächeln auf. »Gerade du müsstest das doch am besten wissen.«

»So, müsste ich das.« Feist, faul, aufgeschwemmt und reizbar wie ein Eber, lief Varros Widersacher, dessen Kahlkopf nahtlos in den Rumpf überzugehen schien, vor Ärger rot an. »Nebenbei bemerkt, stimmt es eigentlich, dass du wieder zu haben bist?«

»Falls das eine Provokation sein soll, vergiss es, Präfekt.«

»Hochnäsig, eingebildet und ungehobelt. Du änderst dich wohl nie, was, Gaius?«

»Vorschlag, Herr Kollege – wie wär’s, wenn wir dies unwürdige Spektakel beenden? Sonst …«

»Sonst was?«, bellte Impudicus und reckte das vorspringende Kinn. »Denkst du vielleicht, ich habe Angst vor dir?«

»Ich denke überhaupt nichts, Sabinus.« Varro lächelte verschmitzt. »Dürfte ich dich trotzdem um einen Gefallen bitten?«

Nichts Böses ahnend, lächelte der Präfekt zurück. »Nur zu, Gaius – du weißt doch, dass ich dir nichts abschlagen kann.«

»Geh mir aus der Sonne.«

»Wenn du denkst, ich lasse mich vorführen, dann …« Weiter kam Impudicus, Stadtpräfekt von Treveris, nicht. Schuld daran war Naso, Befehlshaber der Stadtwache, der wie von Furien gehetzt auf ihn zustürmte. »Was gibt es, Bursche?«, blaffte der Fleischberg, in Gedanken bei seinem Intimfeind, der ihn amüsiert musterte. »Nicht einmal hier hat man seine Ruhe!«

»Bedaure, Präfekt, aber es ist dringend!«, keuchte der Ordnungshüter, der seinem Spitznamen alle Ehre machte. »Sonst würde ich nicht wagen, dich zu stören.«

»Das will ich hoffen, Naso.« Darauf bedacht, sich in Szene zu setzen, nahm der Stadtpräfekt seine sorgfältig einstudierte Cäsarenpose ein. »Für dich.«

»Wir haben eine Leiche gefunden, Herr!«, stieß der Haudegen hervor, was nicht nur Varro, sondern auch die übrigen Anwesenden hellhörig werden ließ.

»Ein Toter? Ist das dein Ernst?« Impudicus, an dem ein Schauspieler verloren gegangen war, blähte sich ungehalten auf. »Und deswegen wagst du es, mich zu behelligen?«

»Nicht irgendein Toter«, schob der Bewaffnete hinterher und handelte sich einen Blick ein, der nichts Gutes verhieß, »sondern jemand, den ihr kennt. Den alle hier kennen.«

»Rede, Nichtsnutz! Um wen handelt es sich?«

»Bei allem Respekt, Herr: Hältst du es nicht für besser, wenn wir das unter vier Augen be …«

»Noch ein Wort, Naso, und ich lasse dich in Ketten legen.« Kurz davor, aus der Rolle zu fallen, bedeutete der Präfekt den Umstehenden, sich zu zerstreuen, wovon sich Varro allerdings nicht beeindrucken ließ. »Also: Um wen handelt es sich?«

»Um Niger, Herr!«, platzte der Ordnungshüter heraus, den Blick auf Impudicus und im Anschluss daran auf Varro gerichtet. »Du weißt schon, der Retiarius!«