Kaiserthermen, Beginn der siebten Stunde
[12:00 h]
»Halt dich da raus, Gaius!«, giftete Impudicus seinen Ratskollegen an. Auf den Leichnam, der am Rand der Abfallgrube in der prallen Sonne lag, verschwendete er keinen Blick. »Sonst gibt es Ärger.«
»Ärger?«, echote Varro und verzog keine Miene. »Den bin ich gewohnt!«
»An deiner Stelle, Herr Kollege, würde ich den Mund nicht so voll nehmen! Ich habe Verbindungen, von denen du nur träumen kannst.« Impudicus, dessen Körperfülle in umgekehrt reziprokem Verhältnis zu seinen Geistesgaben stand, griente hämisch vor sich hin. »Ein Wort von mir, und du darfst beim Statthalter vorreiten. Was dann passiert, überlasse ich deiner Fantasie.«
»Soll das etwa eine Drohung sein? Falls ja, wird sie bestimmt nicht fruchten.« Rein äußerlich die Ruhe selbst, hob Varro seine Hand vor die Augen. Die Sonne, grell und kurz vor dem Zenit, brannte auf die in Sichtweite der Palästra gelegene Grube herab, und er fragte sich, weshalb der Tote ausgerechnet hier deponiert worden war. Kein Römer, nicht einmal ein Sklave, hatte es verdient, wie ein Tierkadaver verscharrt zu werden, übersät mit Unrat, Ziegelsplitt, Bauschutt, Schuhsohlen und Tonkrügen, welche auf der Baustelle zu Bruch gegangen waren. Das war nicht nur inhuman, sondern menschenverachtend.
Das war, drastisch formuliert, Barbarei.
Varro schluckte, nicht nur aufgrund des Schicksals, welches den dunkelhäutigen Gladiator ereilt hatte. Ein infernalischer Gestank lag in der Luft, ein Gemisch aus gelöschtem Kalk, Kot und den Essensresten, mit denen der Leichnam überhäuft gewesen war. Auf Anhieb kaum wahrnehmbar gesellte sich jedoch ein anderer Geruch hinzu, den Varro nur allzu gut kannte. Es war der Hauch des Todes, welcher ihn erstarren, der Odem des Schlachtfeldes, der ihn trotz der Hitze frösteln, der Atem des Hades, welcher ihn instinktiv zurückweichen und an sich selbst die Frage nach dem Sinn seines Tuns stellen ließ.
Wer weiß, vielleicht hatte Impudicus sogar recht. Vielleicht ging ihn das alles nichts an. Schließlich war er als Privatmann hier, anders als dieser Aufschneider, dem es oblag, die öffentliche Ordnung zu wahren. Er war nur Zaungast, einer von circa zwei Dutzend Gaffern, welche sich im Hintergrund zusammengerottet hatten. Daher, nicht zuletzt aus Gründen der Pietät, wäre ein Leichtes gewesen, den Ort des Grauens zu verlassen. Impudicus wäre dies nur recht gewesen, hasste er doch nichts mehr, als einen Aufpasser neben sich zu haben.
»Du siehst schlecht aus, Gaius – stimmt irgendetwas nicht?«
Die Handfläche auf dem Stock, den er liebend gern als Waffe benutzt hätte, blieb Varro kühl und gefasst. »Zum Mitschreiben, Sabinus: Was mich betrifft, wäre ich dankbar, wenn du mich nicht mit meinem Vornamen anreden würdest.«
»Jetzt hör’ mir mal gut zu, Varro, wenn du glaubst, du kannst mich von oben herab …«
»Na also, geht doch.«
Bebend vor Zorn trat Impudicus bis auf Armlänge an Varro heran. »Wenn du denkst, ich lasse mir auf der Nase rumtanzen, hast du dir den Falschen ausgesucht!«, schäumte er. »So, und jetzt verschwinde, damit wir hier fertigwerden.«
»Mit Verlaub, erhabener Impu … äh … Sabinus«, schaltete sich Probus, welcher neben der Leiche kniete, unversehens ein. »Ich fürchte, das wird nicht gehen.«
»Und wieso nicht?«
»Weil, wie ich zu meinem Bedauern konstatieren muss, wir es hier mit einem Mordfall zu tun haben.«
Wäre das Thema, um das es ging, per se kein ernstes gewesen, hätte Varro in die gleiche, nämlich ironische Kerbe gehauen. So aber hielt er sich zurück, und sei es nur, um sich an der Verblüffung zu weiden, die Impudicus ergriff. »Mord? Was soll das heißen?«
»Das soll heißen«, begann Probus und winkte den korruptesten Stadtrat, welchen Treveris je erlebt hatte, mit einladender Gebärde heran, »das soll heißen, man hat der bemitleidenswerten Kreatur das Genick gebrochen.«
»Bemitleidenswert?«, echote Impudicus und förderte ein Seidentuch zutage, mit dem er sich die schweißglänzende Stirn betupfte. »Ist das dein Ernst?«
»Natürlich. Oder findet du das Ganze zum Lachen?«
»Auf die Gefahr, dir jegliche Illusion zu rauben, Probus: Hier handelt es sich nicht etwa um einen unbescholtenen Bürger, sondern um einen Gladiator. Und um einen Afrikaner, falls du verstehst, was ich meine.«
Probus, der sehr wohl verstand, was Sabinus meinte, machte ein angewidertes Gesicht. Dann, nach einem neuerlichen Schluck aus seinem Weinschlauch, drehte er den Leichnam auf den Bauch und deutete auf einen Punkt, welcher sich knapp oberhalb des Kragens befand. »Hier«, erläuterte er und wischte sich den Wein von den Lippen. »Genau hier ist die Halswirbelsäule gebrochen.«
»Wer weiß, vielleicht war es ein Unfall.«
»Tut mir leid, dich diesbezüglich enttäuschen zu müssen.« Probus schnitt eine Grimasse, welche von der Maske eines Komödianten kaum zu unterscheiden war, tauschte einen Blick mit Varro und schob Nigers Tunika in die Höhe. »Tritt näher, Dekurio, hier kannst du etwas lernen.«
»Hüte deine Zunge, Trunkenbold, sonst …«
»Aber, aber, Sabinus«, höhnte Probus, dem das Wortgefecht sichtlich Vergnügen bereitete, »wer wird denn gleich so aufbrausend sein.« Dann deutete er auf die Wunde, welche sich eine Handbreit unterhalb des Schulterblatts befand. »Eine Stichwunde, circa zwei bis drei Fingerbreit tief. Wer das getan hat, muss eine Mordswut im Bauch gehabt haben. Oder Bärenkräfte.«
Sabinus machte eine wegwerfende Gebärde. »Und woher willst du wissen, dass die Wunde nicht vom Kämpfen herrührt? Schließlich war das sein Beruf.«
»Mit Verlaub, Clarissimus: Eigentlich hätte ich dir mehr Verstand zugetraut.«
»Nimm dich in Acht, Medicus!«, grollte Sabinus, der es für überflüssig hielt, sich zu bücken. »Sonst wird dir das noch mal leidtun.«
»Leid, oh Muster an Rechtschaffenheit, tut mir eigentlich nur der arme Schlucker da.« Ohne Impudicus eines weiteren Blickes zu würdigen, rappelte sich Probus auf, nahm seinen Weinschlauch mit und gesellte sich zu Varro, der den Leichnam nachdenklich musterte. »Oder was meinst du, Stubenhocker?«
»Das gleiche wie du, Probus.«
»Aber?«
»Kein ›Aber‹, Medicus.« Des Anblicks müde, welcher sich ihm bot, klopfte Varro seinem Freund im Vorbeigehen auf die Schulter, bückte sich und breitete das Leinentuch, mit dem der Leichnam verhüllt gewesen war, wieder über ihm aus. Dann, zu seiner eigenen Überraschung, bat er die Götter, sich Nigers anzunehmen. »Auf dass die Seele, welche nicht mehr in seinem Körper weilt, dereinst Frieden finden möge.«
»Das hast du aber schön gesagt Varro. Sag bloß, du bist zu den Christen übergelaufen!«, grinste Sabinus.
»Wenn ja – wäre das schlimm?«
»Aber nein, wo denkst du hin. Auf einen Verrückten mehr oder weniger kommt es nicht mehr an. Weißt du was, Varro? Ich glaube, die Angelegenheit wird sich von selbst regeln. Rom hat schon viele Modetorheiten erlebt – und hat sie allesamt verkraftet. Solang die Armee ihren Mann steht, wird das Imperium fortbestehen.«
»Genau das, mein lieber Sabinus, ist das Problem.« Die Armee, auf die viele offenbar große Hoffnungen setzten, war längst nicht mehr das, was sie einmal gewesen war. Das hatte Varro zu spüren bekommen. Früher, zu Zeiten eines Augustus, war der Dienst in den Legionen noch begehrt gewesen. Heute, knapp 300 Jahre später, war das nicht mehr so. Der Dienst mit der Waffe hatte an Reputation eingebüßt, am meisten in Italien, Ägypten und Griechenland, wo sich kaum noch jemand freiwillig meldete. Heutzutage stammten die meisten Legionäre aus Illyrien, dicht gefolgt von Thrakern und Söldnern, welche germanischer Herkunft waren. Niemand, so schien es, legte mehr Wert darauf, dem Vaterland zu dienen, und er bezweifelte, ob diejenigen, welche sich Römer nannten, überhaupt Patrioten waren. »Darf man fragen, was ihr jetzt zu tun gedenkt?«
»Nichts.«
Varro glaubte, er habe sich verhört. »Nichts?«, brach es aus ihm hervor, obschon der Schmerz, der ihn in diesem Moment peinigte, nicht von schlechten Eltern war. »Ist das dein Ernst?«
Sabinus nickte, in Gedanken bei seinem Sklaven, dem er den Auftrag erteilt hatte, einen Sonnenschirm zu beschaffen. »Selbstverständlich, Herr Kollege.«
»Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, Dekurio: Wir haben es hier mit einem Mordfall zu tun.«
»Wir?«, quiekte Impudicus, dessen Schweißflecke unter den Achseln die Größe von Untertellern erreicht hatten. »Was heißt hier ›wir‹, wenn ich fragen darf?«
»Na schön, dann eben nur ich.«
Kurz vor dem Platzen, lief Impudicus rot an, riss den Mund auf, machte Anstalten, sich umzudrehen – und verstummte. »Genau so könnte es gewesen sein, oder was meinst du, Dekurio?«, hörte er Probus sagen, während er dessen Unterarm am Kinn und einen spitzen Gegenstand in der Rückengegend spürte. »Der Mörder schleicht sich an, nimmt sein Opfer in den Würgegriff, rammt ihm einen Dolch zwischen die Rippen und bricht ihm das Genick. Und was lernen wir daraus? Doppelt genäht hält besser. Um wen auch immer es sich gehandelt haben mag: Der Bastard weiß, wie man seine Mitmenschen ins Jenseits befördert.«
»Was erlaubst du dir eigentlich, du …«
»Einen anderen Ton, wenn ich bitten darf.« Probus dachte nicht daran, seinen Griff zu lockern, zur Freude der Gaffer, welche die Szene aus der Distanz verfolgten. »Ach, übrigens: Du brauchst keine Angst zu haben, Dekurio – was du im Rücken spürst, ist nur ein Stock.«
»Genug, Probus – das reicht.«
Sichtlich in seinem Element, stellte sich Probus taub und ließ Impudicus noch eine Weile zappeln. Dann kam er Varros Aufforderung nach, stieß den Fettwanst von sich und schleuderte den Stock ins Gebüsch. »Noch Fragen?«
»Eines Tages –«, geiferte Impudicus und würdigte seinen Sklaven, der samt Sonnenschirm zur Stelle war, keines Blickes, »eines Tages, du Ratte, werde ich dir alles heimzahlen! Ich werde dich zur Verantwortung ziehen, verlass dich drauf.«
»Was, wie ich hoffe, auch auf den Täter zutrifft.«
Bebend vor Zorn zupfte Sabinus an seiner Toga herum, deren Faltenwurf, von seiner Laune nicht zu reden, irreparablen Schaden genommen hatte. »Nur damit das klar ist, Herr Kollege«, zischte er und vermied es, Varro dabei anzuschauen, »Mord oder nicht – für mich ist der Fall abgeschlossen. Denkst du, ich hätte nichts Besseres zu tun, als hinter dem Mörder eines Negers herzujagen? Was glaubst du eigentlich, wen du vor dir hast? Einen Popanz, oder was? Hier habe immer noch ich das Sagen, kapiert?«
»Gegenfrage: Weiß deine Frau eigentlich, dass du dich mit einem Stallburschen vergnügt hast?«
Der Hieb saß, und da Zurückhaltung unangebracht schien, konnte sich Varro eines Schmunzelns nicht erwehren. Teiresias war sein Geld wirklich wert, und er war gespannt, was er noch zutage fördern würde. »Von mir aus tu, was du willst, aber ich fürchte, Pomponia wird das anders sehen als ich.«
»Weißt du, was du bist, Varro?«, schniefte Impudicus, so kleinlaut, dass man fast Mitleid mit ihm bekam. »Du bist ein heimtückischer …«
»Fragt sich, wer hier heimtückisch ist.« Varros Schmunzeln verschwand, und der Anwalt in ihm gewann die Oberhand. »Aber ich kann dich beruhigen.« Als sei der Anblick etwas Alltägliches für ihn, wanderte sein Blick zur Abfallgrube und blieb dort haften. »Ich kann schweigen, Impudicus – schweigen wie ein Grab.«
»Wie viel wird mich der Kuhhandel mit dir kosten?«
»Nichts.«
»Das nehme ich dir nicht ab, Varro.«
»Nun ja – fast nichts.«
»Komm schon, bringen wir’s hinter uns – wie viel?«
»Ich finde, du begehst einen Fehler, Dekurio.« Der Blick, welchen Varro mit Probus wechselte, sprach Bände. »Du misst mich mit deinen Maßstäben. Dabei will ich doch nur das Beste – für mich und für dich.«
»Spuck’s aus, Varro: Was geht in deinem Advokatengehirn vor?«
»Als Erstes, Herr Kollege, wirst du Sorge tragen, dass der Tote zur Kurie transportiert wird. Ohne Aufsehen, das versteht sich von selbst.«
»Zu welchem Zweck?«
»Darüber zerbrich dir nicht den Kopf. Wichtig ist nur, dass der Leichnam gewaschen, aufgebahrt und von niemandem angetastet, geschweige denn an einen anderen Ort verbracht wird. Damit nichts schief geht, wird dir mein Freund Probus mit Rat und Tat zur Seite stehen.«
Am Boden zerstört, hatte es Impudicus die Sprache verschlagen.
»Ich weiß, du wirst mich nicht enttäuschen.« Erschöpfter als er es sich eingestehen wollte, holte Varro tief Luft, stützte sich auf seinen Stock und sagte: »Und nicht vergessen: zu niemandem ein Wort. Keine Finten, Winkelzüge und was du sonst noch auf Lager hast. Haben wir uns verstanden?«
»Du stellst dir das sehr einfach vor, Varro.«
»Sagen wir’s einmal so: Das wird eine echte Herausforderung für dich. Vergiss nicht, was dabei auf dem Spiel steht, Dekurio. Deine Frau hat ein Vermögen geerbt und den Fehler begangen, dass sie auf dich hereingefallen ist. Was, denkst du, wird sie tun, wenn deine Affäre mit dem Stallburschen ruchbar wird?« Varros Mundwinkel kräuselten sich. »Na also, ich sehe, wir verstehen uns. Und wenn wir gerade dabei sind: Wo steckt eigentlich der Arbeiter, der den Leichnam gefunden hat? Wenn du nichts einzuwenden hast, würde ich gern ein paar Worte mit ihm wechseln.«
»Sonst noch was, der Herr?«
»Nein, das wär’s – zumindest für den Augenblick.« Weit entfernt, sich seines Triumphes zu freuen, richtete sich Varro zu voller Größe auf. »Du kannst gehen, Impudicus – ich habe zu tun!«